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Es gäbe keinen Trost, wenn nicht Gott selber, den Mund aufgetan und seinen Dienern Jesaja und später Johannes den Mund gefüllt hätte. Der in der Welt das Sagen hat, sagt uns dieses Wort, diesen Weg, diese Wahrheit, damit wir getröstet werden und trösten können. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Der Säugling, der schreiend in seiner Wiege liegt, braucht mehr als sein Fläschchen Milumil. Der zur Welt Kommende braucht Trost. Der Erwachsene, der kämpfend in seinem Beruf steht, braucht mehr als eine gefüllte Lohntüte. Der in der Welt Stehende braucht Trost. Der Greis, der sterbend die Hand umklammert, braucht mehr als eine Dosis Morphium. Der aus der Welt Gehende braucht Trost. Keiner kann auf Trost verzichten. Jeder ist auf Trost angewiesen. Wir alle sind, ob uns das bewusst ist oder nicht, auf Trost hin geschaffen. Deshalb tröstet die Kleinen, tröstet die Großen, tröstet, tröstet mein Volk, nur wie?

Da sehe ich ihn, den 27-jährigen Studenten. Vor 6 Jahren hat er mit Jura angefangen. In Tübingen und Kiel vertiefte er sich in die Rechtswissenschaften. Immer wieder bin ich ihm begegnet. “Wie geht’s, Herr Studiosus?”, frage ich ihn salopp. Nach einigem Zögern antwortet er leise: “Beim Examen durchgerasselt. Zwölf Semester für die Katz’. Ich bin wieder bei null.” Sein Frust war unüberhörbar. Hätte ich ihm sagen sollen, dass alles halb so wild ist, dass schon andere Kaliber ungestreift durchgefallen sind und dass nach jedem Donnerwetter sich die Sonne wieder zeigt? Aber das wäre doch Gefasel gewesen, kein Trost. Tröstet die in Frust Gefangenen, nur wie?

Da sehe ich ihn, den 40-jährigen Ehemann. Vor 12 Jahren habe ich ihn getraut. Ein rauschendes Fest ist mir noch in bester Erinnerung. Drei Kinder sind diesen Eltern geschenkt worden. “Was macht die family, Herr Papa?”, pflaume ich ihn an. Aber diesmal geht kein Lächeln über sein Gesicht. “Mein Frau ist ausgezogen. Die Kinder sind bei der Oma. Ich lebe allein.” Sein Schmerz ist unübersehbar. Hätte ich ihm sagen sollen, dass Zeit die Wunden heilt, dass es andere nette Mädchen gibt und dass auf jeden Dezember wieder ein Mai folgt? Aber das wäre Geschwätz gewesen, kein Trost. Tröstet die in Schmerz Gefangenen, nur wie?

Da sehe ich ihn, den 70-jährigen Rentner. Vor 15 Jahren ist er verunglückt. Eine Querschnittslähmung war die Folge. Nun kann er nur noch im Rollstuhl existieren. “Sind die Tage erträglich?”, möchte ich gerne wissen. Aber seine Augen verraten alles. “Die Kinder wollen mich nicht mehr. Es ist auch zuviel für sie. Ich muss einen Heimplatz suchen.” Seine Trauer geht ans Herz. Hätte ich ihm sagen sollen, dass man den Kopf nicht hängen lässt, dass Undank der Welten Lohn ist und jeder schon ein warmes Plätzchen finden wird? Aber das wäre doch Geplapper gewesen, kein Trost. Tröstet die in Trauer Gefangenen, nur wie?

Und dann sehe ich all die Jungen, die nicht mehr hinaussehen, all die Erwachsenen, die schon am Ende sind, all die Alten, die nur noch Vorwürfe erheben. Tröstet die in Angst Gefangenen. Tröstet die in Verzweiflung Gefangenen. Tröstet die in Verbitterung Gefangenen. Tröstet, tröstet mein Volk, nur wie?

Die damals waren in Babel gefangen. Seit Jahren lebten sie in der Fremde. Die Knute des Nebukadnezars war hart. Und dann bekam der Prophet den Auftrag zu trösten. Hätte er ihnen sagen sollen, dass Babel keineswegs der mieseste Kerker am Euphrat ist? Aber das wäre doch Gerede gewesen, kein Trost. Tröstet die in Babel Gefangenen, nur wie?

Liebe Freunde, mit diesem Propheten zusammen sind wir alle leidige Tröster. Wir können einen Trostpreis verleihen. Wir können eine Trostrunde einläuten. Wir können ein Trostpflästerchen aufziehen, aber trösten im Sinne von helfen können wir nicht. Bitter ist das, gallenbitter, aber wahr. Auch an diesem Sonntagmorgen gäbe es hier keinen Trost, wenn nicht Gott selber, der ein Gott allen Trostes genannt wird, den Mund aufgetan und seinen Dienern Jesaja und später Johannes den Mund gefüllt hätte. “Sag das Wort”, befiehlt er zuerst.

1. Sag das Wort

Denken Sie an einen Gefangenen. Heimwehkrank hockt er auf seiner Pritsche. Die Gefängnismauern trennen ihn von der Freiheit. Und dann bekommt er Besuch. Der Eintretende streckt ihm die Hand entgegen und sagt: “Guten Tag!”, aber der Einsitzende kann sich einen guten Tag im Knast nicht vorstellen. Nun legt der Ankömmling einen Kuchen auf den Tisch und sagt: “Guten Appetit!”, aber dem Sträfling ist der Appetit längst vergang­en. Anschließend steckt der Besucher eine Blume hinter den Spiegel und sagt: “Grüße von daheim”, aber der Inhaftierte kann mit Grüßen wenig anfangen. Er braucht keinen Gruß, keinen Kuchen, keine Blume, sondern nur das Wort: “Du bist begnadigt, du bist frei.”

Genau das passiert bei den israelitischen Gefangenen. Heimwehkrank hocken sie an den Wassern Babels.Die Medische Mauer trennt sie von der Freiheit. Und dann erscheint Jesaja. Er wünscht keinen guten Tag unter der sengenden Sonne des Orients. Er überbringt keinen Kuchen vom heimatlichen Herd am Jordan. Er steckt keine Blume vom Ölberg hinter den Spiegel. Mit Wünschen und Grüßen und Blumen ändert sich gar nichts. Der Prophet sagt: “Ihr seid begnadigt. Ihr seid erlöst. Ihr seid frei.” Jubel bricht auf. Lieder werden gesungen. Freude fängt an. Wohl ist das Dunkel noch da, aber das Licht ist nicht mehr aufzuhalten.

Liebe Freunde, genau das will heute bei uns Gefangenen wieder passieren. Heimweh­krank hocken wir in den Bänken. Mauern, hohe Mauern aus klobigen Sorgensteinen gefugt, trennen uns von der Freiheit. Und dann erscheint der Johannes. Er wünscht keine erträglichen Tage in der Hitze des Lebens. Er transportiert keinen Honigkuchen vom Himmel. Er steckt uns nichts hinter den Spiegel. Er hebt seinen Arm. Er streckt die Hand aus. Er deutet mit dem übergroßen Zeige­finger auf das grausige hölzerne Kreuz, auf die zerfetzte, zerrissene Haut, auf das wunde, stachelgespickte Fleisch, auf die heulenden, händeringenden Angehörigen, auf den trostlosen, verschlossenen Himmel, genau so wie es jener Unterfranke gemalt hat, den sie Grünewald nannten oder Mathis der Maler. Johannes will jedem sagen: “Dieser Gequälte, er ist es, der die Sünde der Welt trägt. Dieser Gepflockte, er ist es, der die doppelte Strafe empfangen hat. Dieser Gekreuzigte, er ist es, der von Gott geschlagen und gemartert wurde. Wegen ihm seid ihr begnadigt. Wegen ihm seid ihr erlöst. Wegen ihm seid ihr frei.”

Warum ist so wenig Freude unter uns? Warum ist so wenig Jubel bei uns? Warum werden so viel Klagelieder angestimmt? Wohl ist die Sorge noch da, aber sie ist zeitlich begrenzt. Wohl ist die Krankheit noch da, aber sie dauert nicht ewig. Wohl ist der Tod noch da, aber er hat seinen tödlichen Biss verloren. “Nichts, nichts kann mich verdammen, nichts nimmt mir meinen Mut, die Höll und ihre Flammen, löscht meines Heilands Blut.” Weil das Wort von der Vergebung gesagt ist, deshalb haben alle andern Worte von der Bedrückung nichts mehr zu sagen. Sag das Wort!

Und der zweite Befehl Gottes an seinen Propheten:

2. Sag den Weg

Denken Sie an unseren Gefangenen. Dankerfüllt steht er in der Zelle. Die Gitter haben ihren Schrecken verloren. Und dann schaut er hinaus. Er sieht den Gang, aber der führt nur in andere Sicherheitstrakte. Er sieht die Treppe, aber die führt nur in den Gefängnishof. Er sieht die Gasse, aber die führt nur bis an das Eisentor. Er sieht ein Labyrinth von Gängen, aber wo ist der Ausgang? Der Freigesprochene braucht jetzt nichts anderes als den Hinweis: “Dort ist der Weg, dort ist der Ausweg, dort ist der Heimweg.” Genau das passiert den israelitischen Gefangenen. Dankerfüllt stehen sie in ihren Quartieren. Die Ghettos, Slums, Favelas haben ihre Schrecken verloren.

Und dann taucht Jesaja wieder auf. Er spricht nicht von den Gängen zu den babylo­nischen Baustellen. Er zeigt nicht die Treppen in der heruntergekommenen Weltstadt. Er deutet nicht auf die Passionsstraße für Bel-Marduk. Alle Straßen dieser Stadt führen nicht nach Israel. Der Prophet sagt: “Dort ist der Weg, der Ausweg, der Heimweg.” Die Freude wird größer. Der Jubel wird stärker. Die Lieder werden sogar von den Bergen gesungen. Wohl ist der Weg noch weit, aber dass es kein Holzweg ist, steht klar vor Augen.

Liebe Freunde, genau das will sich heute bei uns wiederholen. Dankerfüllt falten manche die Hände. Räume haben ihre Schrecken verloren. Aber wie geht es weiter? Was führt denn weiter? Wo ist der Weg?

Und dann erscheint wieder der Johannes. Er spricht nicht von unseren Gängen und Treppen und Gassen, die doch nur Einbahnstraßen zum Tode sind. Er berichtet uns von einem Wunderwerk göttlicher Straßenbaukunst. Himmlische Bautrupps haben Erdmassen bewegt, um Jesu Weg durch Sünde und Tod hindurch zu trassieren. Gottes Wegebau ist immer Verwirklichung des Unmöglichen.

Keiner kann mehr sagen: “Durch meine Täler der Depression führt kein Weg hindurch.” Hören Sie: “Alle Täler sollen erhöht werden.” Keiner kann mehr sagen: “Über meine Berge von Problemen führt kein Weg hinüber.” Hören Sie: “Alle Berge sollen erniedrigt werden.” Keiner kann mehr sagen: “Durch meine Kraterlandschaft der Schuld führt kein Weg.” Hören Sie: “Was uneben ist, soll gerade werden.”

Gottes Wegebau ist Verwirklichung des Unmöglichen. Wo Jesus steht, dort ist der Weg. Wo Jesus geht, dort ist der Ausweg. Wo Jesus läuft, dort ist der Heimweg. Und in seinem Wort, das weder verdorrt noch verwelkt noch vergilbt ist Jesu Spur zu finden, deshalb: “Befiehl du deine Wege, und was dein Herze kränkt, der Wolken, Luft und Winden, gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.” Weil das Wort von dem Weg gesagt ist, haben alle andern Worte der Ausweglosigkeit nichts mehr zu sagen.

Gottes Wegebau ist Verwirklichung des Unmöglichen. Wo Jesus geht, dort ist der Ausweg.

Der dritte Befehl Gottes lautet:

3. Sag die Wahrheit

Sehen wir noch einmal auf unseren Gefangenen. Kraftgestärkt macht er sich auf den Weg. Die Ketten hat er hinter sich gelassen. Dann blickt er vorwärts. Die Landschaft ist offen, aber überall Wüste. Der Horizont ist weit, aber überall Steppe. Der Himmel ist klar, aber überall Hitze. Finde ich den Weg? Habe ich die Kraft? Schaffe ich’s bis zum Ziel? Was nützt ihm die ganze Freiheit, wenn keiner mit ihm geht? Eine Wegbeschreibung ist schon recht, aber eine Wegbegleitung tut not.

Genau die wird den israelitischen Gefangenen angeboten. Kraftgestärkt tun sie die ersten Schritte. Babel haben sie hinter sich gelassen. Dann redet der Prophet ein drittes Mal. Er verharmlost den Wüsten­ weg nicht. Er bagatellisiert auch die Steppenwanderung nicht. Er macht nicht in fadenscheinigem Optimismus. Jesaja sagt: “Ein Hirte ist da, der den Weg kennt. Ein Hirte ist da, der die Kraft hat. Ein Hirte ist da, der bis ins Ziel trägt.” Die Freude ist randvoll. Der Jubel ist nicht mehr zu überbieten. Die Lieder klingen durchs ganze Land. Wohl ist Jerusalem noch weit, aber diese Wahrheit ist nicht mehr zu leugnen.

Liebe Freunde, genau sie wird heute wieder angeboten. Kraftgestärkt haben einige die ersten Schritte im Glauben getan. Vieles wurde zurückgelassen. Aber dann ging es nicht in den Schatten, sondern in die Hitze. Dann ging’s nicht ins Paradies, sondern in die Wüste. Dann ging’s nicht ins Schlaraffenland, sondern in die Steppe. Glaubende sind es, die immer wieder fragen: “Finde ich den Weg durch den Irrgarten des Lebens? Habe ich die Kraft alles durchzustehen? Schaff ich es überhaupt bis zum Ziel? Was nützt mir die ganze Freiheit eines Christenmenschen, wenn ich allein meines Weges ziehen muss?”

Liebe Freunde, hören Sie auf diese letzten Verse. Sie beschönigen nichts, versüßen nichts, streuen keinen Sand in die Augen. Johannes sagt: Ein Hirte, kein Fronvogt ist da: Er wird seine Herde weiden und die Mutterschafe führen. Ein Hirte, kein Treiber ist da: Er kommt gewaltig und sein Arm wird herrschen. Ein Hirte, kein Aufpasser ist da: Er wird die Lämmer in seinen Armen sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen. Also endlich einer, der uns nicht treibt, sondern trägt, einer, der uns nicht ausnimmt, sondern annimmt, einer, der uns nicht in Bausch und Bogen verdammt, sondern im Bausch seines Rockes und im Bogen seines Armes verwöhnt. Verstehen Sie jetzt David, wenn er auf seinem gefährlichen Weg sagen konnte: “Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.”?

Weil das Wort von der Wahrheit gesagt ist, deshalb haben alle andern Worte nichts mehr zu sagen. Der, der in der Welt das Sagen hat, sagt uns dieses Wort, diesen Weg, diese Wahrheit, damit wir getröstet werden und trösten können. Und liebe Freunde, ist dieser Trost des Johannistages nicht sagenhaft?

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]