Die Bibel als zusammenhängendes Ganzes und ihre Linien
Es gibt in der Bibel Linien. Die Bibel ist ja ein Zusammenhang, nicht bloß eine Zusammenstellung von einzelnen Brocken, die zufällig zusammenkommen.
Es gibt Linien, vielleicht haben Sie beim Lesen schon fast die gleichen Worte gehört: „Der Herr ist mit mir, wer will mich verdammen? Lasst ihn vortreten, wer will mit mir rechten? Der Herr tritt für mich ein. Wie kann ich dann noch zu Schanden werden?“
Das ist fast das gleiche Wort wie in Römer 8: „Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen, wer will die Auserwählten beschuldigen? Christus ist hier, der gestorben ist, vielmehr der auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und tritt für uns ein. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes.“
Das sind Linien. Dazu ist ja auch so eine Bibelwoche gut, dass wir hellhörig werden und interessiert solchen Linien nachgehen.
Vor langen Jahren, als ich in Ulm Pfarrer war, haben mich einmal ein paar amerikanische Offiziere und Zivilangestellte gebeten, ihren Kindern Konfirmandenunterricht zu geben. Sie waren Lutheraner und wollten von einem lutherischen Pfarrer unterrichtet werden.
Ich habe mich gefreut, dass ich mein Englisch wieder ein bisschen aufpolieren kann, aber es kam dann viel mehr heraus als nur ein bisschen aufpoliertes Englisch. Ich habe gemerkt, dass sie von der Bibel überhaupt nichts wussten, kaum eine biblische Geschichte kannten. Damals war es bei unseren Schülern noch anders, die wussten noch etwas vom Zachäus, die Amerikaner wussten nichts. Heute ist es auch bei uns manchmal düster geworden bei unseren Schülern.
Da habe ich einfach angefangen, biblische Geschichten zu erzählen. Und mit einem Mal sagt die Linda Zeyer so ganz trocken vor sich hin einen Satz, den ich für den grandiosesten theologischen Satz halte, den ich je gehört habe: „Everything builds up to the point that Jesus will be important alone.“
Das strebt ja alles darauf hin, dass bloß noch Jesus wichtig ist. Das hat erkannt, dass da Linien in der Bibel sind, ein Gefälle hin zu Jesus.
Die Sehnsucht nach dem Einen, der die Welt verändert
Es ist für uns Menschen wichtig, dass die Bibel auf diesen einen Jesus hinweist. Denn es ist ganz eigenartig, welche Rasse wir haben oder welche Hautfarbe. Wer ein menschliches Angesicht trägt und sich ein wenig Gedanken macht, wartet eigentlich immer auf den einen Menschen, der klüger ist als alle anderen, die bisher versucht haben, mit der Not der Welt fertig zu werden.
Man wartet darauf, dass endlich der Mensch kommt, der sich mit seinen Lösungsvorschlägen besser durchsetzen kann als alle, die sich bemüht haben, diese Welt zu verändern. Jeder, der nachdenkt, wartet auf diese eine Gestalt. Sie wird doch endlich einmal kommen, die mehr Kraft hat, in dieser Welt etwas anders zu machen als alle, die es bisher versucht haben.
Deshalb fallen wir Menschen so leicht darauf herein, einen Napoleon wie einen Gott anzubeten oder Adolf Hitler oder Bismarck. Es ist immer die Hoffnung: Es wird doch endlich einmal der eine kommen.
Bei jedem Politiker, bei jeder Präsidentenwahl in Amerika, bei jeder Erwartung oder bei jeder Partei bei uns steckt dahinter vielleicht der Wunsch: Schafft er es, die Probleme der Welt zu lösen? Deshalb richten sich die Scheinwerfer der Menschheit auf den einen Großen.
Johannes der Täufer hat bei Jesus gefragt: Bist du der, der da kommen soll? Bist du der eine kommende Mann? Die Bibel sagt uns, dass dieser eine Mann, den Gott zur Lösung der Weltnot geschickt hat, Jesus ist.
Jesaja und die Verheißung des Knechtes Gottes
Die biblischen Linien, wenn die Scheinwerfer der Menschheit nach dieser einen Gestalt suchen, weisen auf Jesus hin. Beim Propheten Jesaja wird immer von dem Einen gesprochen: „Du bist mein Knecht, mein Erwählter, durch dich will ich es ausrichten.“ Wer ist dieser Eine?
Im Neuen Testament wird erzählt, dass ein etwas bekümmerter reicher Mann auf dem Heimweg von Jerusalem war. Er hatte eine weite Reise hinter sich, von Äthiopien, von Eritrea – von dort, wo heute viele Flüchtlinge herkommen – nach Jerusalem, in der Hoffnung, den wahren Gott zu finden. Wahrscheinlich durfte er nicht einmal aufs Tempelgelände, denn er war ein Eunuch, ein Verschnittener, und hatte keinen Zugang.
Vielleicht hatte er am Schriftentisch des Tempels eine Buchrolle gekauft. Jedenfalls saß er in seinem Wagen und las darin. In einer Rolle des Propheten Jesaja standen Worte, die ihn beschäftigten: „Er ist wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird.“
Anhalter standen am Weg, einer von ihnen war vom Geist Gottes dorthin geschickt worden, mitten in die Wüstenstraße bei Gaza. Dieser Philippus, von Gott gesandt, hörte, wie der Mann auf seinem schönen Wagen las. Er fragte ihn vom Wagen aus: „Verstehen Sie auch, was Sie lesen?“
Der Mann antwortete: „Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Wie soll ich das verstehen? Können Sie mir das erklären?“
Da sagte Philippus: „Dann kommen Sie doch bitte, steigen Sie ein.“
Philippus begann, ihm von Jesus zu erzählen. Jesus ist der Knecht, von dem Jesaja mit den Augen Gottes gelehrt gesprochen hat – der Eine, auf den alles zuläuft. Er ist in unsere Welt gekommen. Wir müssen nicht mehr auf ihn warten, denn er ist es!
Die überraschende Botschaft vom leidenden Knecht
Aber nun ist es erstaunlich in diesem Abschnitt heute: Es wird nicht gesagt, dass er mächtig ist, dass er die Völker beherrschen wird oder die Fäden der Weltgeschichte in den Griff bekommt. Davon steht hier nichts. Solche Aussagen finden sich in anderen Abschnitten.
Hier steht vielmehr, dass er eine gelehrte Zunge hat, mit der er zur rechten Zeit zum Müden sprechen kann. Sein Ohr ist geöffnet, sodass er hören kann wie ein Jünger. Er ist bereit, ins Leiden hineinzugehen, sein Angesicht hart zu machen wie ein Kieselstein. Er gibt nicht nach, sondern fängt die Schläge und den Speichel auf und erduldet sie.
Was soll das bedeuten? Brauchen wir so jemanden? Ich brauche genau so jemanden, der zu mir reden kann, der mich in meiner Müdigkeit versteht und mir Trost gibt. Die großen Herren in den Regierungszentren sind mir nicht so wichtig wie ein Mensch, der mich versteht und das rechte Wort für mich hat.
Der Prophet Jesaja sieht diesen Menschen, den Gott schicken wird. Er kann dir, dem Müden, das richtige Wort geben.
Jesus als der verständnisvolle Weinstock
Er hat von Jesus gesprochen, der seine schwachen Jünger um sich hatte. Diese dachten: „Bäume können wir nicht ausreißen. Wir sind froh, dass uns dieser Jesus angenommen hat. Was will er mit uns anfangen?“
Da hat Jesus gesagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“
Wir in unserer Gegend wissen, was Reben sind – so dünn, fast wie ein Faden. Wenn wir das erste Mal Reben säen würden und jemand sagen würde, dass daran Trauben wachsen, wäre das kaum vorstellbar. Spinntechnisch ist das unmöglich. Die Reben halten das gar nicht aus, sie reißen schnell ab. Was soll da aus diesem dünnen Ding schon herauskommen?
Ja, so sind wir – ganz schwache, zarte Geschöpfe. Wir Männer erst recht, wir sind doch leicht verletzlich. Frauen halten mehr aus.
Schwache Leute – Jesus sagt: Ja, so seid ihr wie Reben, und ich bin der Weinstock. Ich hole aus der Erde Kraft für euch heraus, damit ihr, die ihr schwach seid, Frucht bringt.
Schaut euch doch einen Weinstock an: Er zieht aus der Erde die Kraft und die Flüssigkeit heraus und gibt sie an die Reben weiter, damit Frucht wachsen kann – deftige, schwere Frucht. Ein großartiges Wort für müde Leute.
Jesu Umgang mit der verurteilten Frau
Eine andere Szene mit Jesus: Da bringen sie eine Frau, die ein verpfuschtes Leben hat, zu ihm. Sie haben sie ertappt, wie sie mitten im Ehebruch war, und werfen sie vor Jesus hin. Was sagt Jesus jetzt zu diesem Häuflein Elend?
Jesus neigt sich nieder und schreibt in den Sand. Dann spricht er: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf die Frau.“ Wieder neigt er sich nieder und schreibt in den Sand.
Daraufhin gehen sie alle hinaus, einer nach dem anderen. Nur die Frau bleibt bei Jesus. Jesus fragt sie: „Wo sind deine Verkläger?“ Sie antwortet: „Niemand ist mehr da.“
Sollten wir jetzt erwarten, dass Jesus sagt: „Aber mein liebes Mädchen, das hört jetzt auf, was du als Ebenbild Gottes gemacht hast, ist schon eine Schande“? Nein, nein, nein.
Jesus weiß, wie man mit dem Müden zur rechten Zeit redet. Deshalb verklagt er sie auch nicht. Er sagt: „Sündige hinfort nicht mehr.“ Zwei Sätze ohne Vorwurf, voll Ermutigung, kompakt – ein neues Leben!
„Ich verdamme dich nicht. Komm, lebe nicht mehr wie bisher.“ Dieses Mitgefühl und diese Ermutigung, zur rechten Zeit mit dem Müden zu sprechen, gelten bis heute.
Trost und Ermutigung aus biblischen Worten
Da sagt eine Frau in meinem Schornlaufer Gemeindedienst, als Herr Schäff gebucht wurde: „Da haben Sie etwas falsch gemacht, als Sie Krankenbesuch gemacht haben. Sie hatten offenbar keine rechte Zeit für einen Kranken, der jetzt bitter enttäuscht von Ihnen ist. Sie müssen mal bei ihm vorbeigehen.“
Ich bin hingegangen. Er sagte: „Es tut mir furchtbar leid. Haben Sie noch etwas sagen wollen?“
„Ach“, sagte er, „vergessen wir es. Ich muss Ihnen erzählen, was ich erlebt habe.“
„Ich war wirklich fix und fertig, als ich vom Krankenhaus kam. Ich dachte, mein Leben ist vorbei. Dann schaue ich samstags das Programm an, damit ich wenigstens in meiner Einsamkeit in der Wohnung etwas flimmern habe. Da kommt es heute, zum Sonntag, ein katholischer Priester, der erzählt die Geschichte vom Elija, wie er unter dem Dornstrauch liegt und sagt: ‚Lieber Gott, nimm mein Leben, es lohnt sich nicht mehr.‘ Und Gott sagt: ‚Steh auf, du hast noch einen weiten Weg vor dir, iss, komm, ich habe für dich die Stärkung bereit.‘
Da habe ich gedacht, vielleicht gilt das auch mir, dass Gott für mich noch einen Weg bereit hat. Und da habe ich gedacht, die Geschichte will ich lesen. Aber ich habe gemerkt, dass ich gar keine Bibel zu Hause habe. Da bin ich zur Buchhandlung Mied gegangen und habe mir die Bibel gekauft. Und da habe ich gesucht, wo die Geschichte steht.“
„Oh, Herr Schäff“, hat er gesagt, „ich habe lang gebraucht.“ Was denken Sie, wie lange, bis er geblättert hat und 1. Könige 19 gefunden hat? Was ich bei den Blättern für herrliche Gottesworte für mich gefunden habe!“
Da hat er so eine Handbewegung gemacht und gesagt: „Aller Trost von Psychotherapeuten reicht doch nicht gegen ein Wort: ‚In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.‘ Da habe ich als Seelsorger nicht mehr viel machen müssen. Da war ich getröstet, weil Jesus bis heute durch sein Wort Ermutigungen zuteilt, weil er mit dem Müden zur rechten Zeit reden kann.“
„Und wenn ich meine Bibel ansehe, wo ich mir Worte unterstrichen habe und oft ein Datum daneben geschrieben habe, waren solche Worte Jesu, bei denen er mit mir Müdem, Geschlagenem, Leerem geredet hat. Solch einen Herrn haben wir, der uns versteht und bis heute mit uns redet und der aber auch ganz mit Gott verbunden ist.“
„Gott weckt mir alle Morgen das Ohr, dass ich auf ihn höre wie ein Jünger. Verstehen das heute vielleicht nicht mehr.“
Jesus als lernender Jünger und sein Gehorsam gegenüber dem Vater
Ich habe zurzeit einen Fikar, wie viele junge Fikare, patente junge Leute. Aber meine Frau sagt: Siehst du nicht, wie der Herr Trigg aufpassen kann, wenn du etwas sagst? Er hört zu, als würde er alles aufsaugen wollen, als wolle er jede Erfahrung von dir mitbekommen. Jüngere Menschen sind oft so, sie wollen etwas lernen und erfahren.
Ich möchte die Erfahrung, die ich noch nicht habe, vom anderen mitbekommen. So konnte Jesus lauschen – wie ein Jünger, wie ein Untergebener, wie jemand, der erst etwas erfahren muss vom Vater. Schon als Zwölfjähriger, als Maria und Joseph ihn suchten und fragten: „Wo bist du denn?“ antwortete er: „Ich muss doch dort sein, wo mein Vater ist, wo ich sein Wort höre.“
Als Petrus sagte: „Herr Jesus, du gehst doch nicht hinauf nach Jerusalem, du musst dich doch nicht totschlagen lassen!“, antwortete Jesus: „Petrus, geh weg! Du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist. Ich habe schon auf den Vater gehört, was sein Wille ist.“
Bei Jesus war es nicht selbstverständlich, dass er von seiner Geburt in Bethlehem an alles gewusst hat. Noch im Garten Gethsemane stellte er die Frage: „Vater, ist es möglich, dann gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Musste ich diesen Weg wirklich gehen? Musste ich ihn gehen? So hört Jesus wie ein Jünger: „Was ist dein Weg? Ich möchte nichts selber tun. Ich möchte nicht heroisch hineingehen und sagen: Seht, was ich erdulde. Ich möchte deinen Willen tun.“
Wir können uns bei Jesus darauf verlassen, dass er keinen Schritt aus eigenem Ermessen gegangen ist. Wir machen viele Dummheiten. Jesus aber war ganz angebunden an den Vater.
Dass ich lausche wie ein Jünger, das weckt Gott mir das Ohr, damit ich es höre.
Psalm 118 als Ausdruck des Vertrauens auf Gott
Für mich ist es immer besonders eindrücklich, wenn ich den Psalm 118 lese. Es zeigt, wie gut es ist, sich auf den Herrn zu verlassen und nicht auf Menschen.
Dieser Psalm war das letzte Loblied, mit dem man in Israel das Passahfest abschloss. So wie wir nach dem Abendmahl oft singen: „Im Frieden dein, o Herr, mein, lass ziehen mich meine Straßen“, hat man in Israel Psalm 118 gesungen.
„Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, seine Güte währt ewiglich.“ Es ist gut, auf den Herrn zu vertrauen und sich nicht auf Menschen zu verlassen. „In der Angst rief ich den Herrn an, und der Herr erhörte mich und tröstete mich. Was können mir Menschen tun?“ Es ist gut, auf den Herrn zu vertrauen und sich nicht auf Fürsten zu verlassen.
„Man stößt mich, dass ich fallen soll, aber der Herr hilft mir. Man führt mich hinein in den Tod, aber Gott gibt mich nicht dem Tod preis. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Das ist vom Herrn geschehen. Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen.“
Auch die Jünger haben diesen Psalm gesungen. Doch zwei Stunden später im Garten Gethsemane hatten sie es schon wieder vergessen. War es nur einer, in dem das nachgeklungen hat? „Der Herr hat mir das Ohr geöffnet, dass ich höre.“ Als die Häscher kamen und die Jünger flohen, ist Jesus den Häscher entgegengetreten.
„Der Herr ist mit mir, was können mir Menschen tun?“ Als der Herr später sagte: „Komm, ich kann dir doch einen Weg öffnen“, zeigte sich erneut: Es ist gut, auf den Herrn zu vertrauen und sich nicht auf Menschen zu verlassen.
Als Pilatus sagte: „Ich habe doch Macht, dich freizugeben“, gilt weiterhin: Es ist gut, auf den Herrn zu vertrauen und sich nicht auf Fürsten zu verlassen. „Man stößt mich, dass ich fallen soll, aber der Herr hilft mir.“
Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Jesus hat das Wort Gottes ernst genommen, bis hinein in sein Leiden. Davon hat er gelebt.
Ich will mich nicht mehr selbst führen, sondern du sollst als Hirte mich regieren. Verstehen Sie, das gibt dem Weg Jesu diese Verlässlichkeit. Das heißt: Er ist einer, den Gott bestimmt hat.
Werte und das Beispiel Jesu im Leiden
Es gab gerade eine Diskussion, an der der Landrat, Politiker, Arbeitgebervertreter und Gewerkschaftsvertreter teilnahmen. Wir haben uns über Werte unterhalten. Dabei sagten sie: „Wir diskutieren, was Werte sind, wie Toleranz und Freiheit. Jeder legt diese Begriffe nach seiner Parteimeinung aus. Ihr von der Kirche müsst doch von Gott her wissen, was wirklich ein Wert ist, was wirklich gültig ist.“
Jesus hat von Gott her gewusst, was das Richtige ist – auch das Leiden. Deshalb sagt er: „Ich habe mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein. Mein Angesicht verbarge ich nicht vor Schmach und Speichel. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, meine Wangen denen, die mich rauften. Denn ich weiß, dass ich nicht zu Schanden werde; er ist nahe, der mich gerecht spricht.“
„Siehe, der Herr hilft mir, wer will mich verdammen? Ich bin doch nicht in der Gottverlassenheit, sondern jetzt führt mich Gott diesen Weg.“
Als die Jünger von Emmaus nachsagten, war Folgendes passiert: Es gab die Panne, dass Jesus gesagt hatte, er müsse nicht Christus leiden, um zu seiner Herrlichkeit einzugehen. Doch es war der Weg Gottes, der Weg Gottes mit all seinen großen Leuten.
Gottes Weg mit großen Menschen in der Geschichte
Bevor Mose zum Befreier wurde, war er vierzig Jahre lang vergessen und verlassen. Er war ein Ziegenhirte in der Wüste. Was mag er wohl in seinem Kopf gedacht haben, während er bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr beiseitegelegt war?
Jeder, der heute arbeitslos ist, mitten aus dem Arbeitsprozess herausgerissen wird, wird schon nach zwei Monaten fast verrückt. Die Frage stellt sich: Werde ich denn nicht mehr gebraucht? Mose hat genau das vierzig Jahre lang erlebt. Er fragte sich: Hat Gott mich vergessen? Doch Gott holte ihn aus diesem Elend heraus und machte ihn zum Befreier.
Joseph, der den ganzen Vorderen Orient vor der Hungersnot rettete und ein Gesandter Gottes war, jemand, mit dem Gott etwas bewirken wollte, wurde von seinen Brüdern verstoßen, in die Sklaverei verkauft und später im Gefängnis vergessen. Sogar von der Frau Potiphar und dem Mundschenk wurde er im Gefängnis übergangen. Schlimmer konnte es kaum kommen. Doch der Herr war mit ihm.
Als Elija am Horeb war, sagte er: „Jetzt ist es aus, ich möchte nicht mehr leben. Es hat doch gar keinen Sinn. Ich habe sieben Jahre lang fanatisch für Gott gekämpft, aber es hat keinen Wert gehabt.“ Doch Gott sagte zu ihm: „Komm, ich habe einen Auftrag für dich. Komm!“ Gott führt seine Leute oft durch Zeiten des Zerbrechens.
Jesus, der dem Vater genau zuhörte, war bereit, das Leiden auf sich zu nehmen. Die Auserwählten Gottes sind bereit zum Leiden. Nicht einfach so, als Schicksal. Das ist der Unterschied. Viele Menschen sagen: „Es ist ein Schicksal, das mich getroffen hat.“ Wer aber sein Leben Gott anvertraut hat, weiß, dass auch Not, Krankheit, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit und Schwermut dazugehören können. Doch der Herr ist bei mir, es ist sein Weg.
Noch einmal: Wer seinen Weg von Gott bestimmen lässt und zu Gott gehören will, weiß, dass bei Mose, Elija, Joseph und Jesus Krankheit, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Not, Schwermut, Krebs, Tod, scheiternde Kinder und Sorgen um die Zukunft dazugehören können. Aber wenn ich gesagt habe: „Du bist mein Gott“, dann weiß ich, dass er auch in der Not bei mir ist.
Die Losung als Zusage Gottes Nähe und Rettung
Sie haben sicher heute die Losung schon gelesen. Die herrliche Losung lautet: „Ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich mich nicht, denn du bist bei mir, und du wirst mich auch wieder herausholen.“ Es wird nichts Letztes sein. Ich werde nicht sterben, sondern lebendiges Wirken des Herrn verkündigen.
„Er ist nahe, der mich gerecht spricht. Mein Weg ist nicht zu Ende.“ Auch dann, wenn sie mich schaukelnd im Sarg hinaustragen, ist unser Weg mit Gott noch nicht zu Ende. Dann ist die erste Etappe zu Ende, und das große, wirkliche Leben mit Gott beginnt.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht. Wer will verdammen?
Johann Jakob Moser – Ein Beispiel für Glauben und Standhaftigkeit
Ich habe Ihnen versprochen, heute Abend ein wenig von Johann Jakob Moser zu erzählen, dessen Lied wir gesungen haben. Er war um 1750 einer der wichtigsten Persönlichkeiten in unserem württembergischen Herzogtum.
Wir Württemberger sind ja gute Demokraten. Wir sagen das jetzt nicht so laut anderswo, aber wir haben eine ältere Demokratie als die Engländer, nicht wahr? Die württembergischen Landstände ließen es sich nicht gefallen, dass der Herzog einfach das Land regiert. Daraufhin tranken sie darauf, dass es die Landschaft gibt – die Vertretung der Bürger, sozusagen ein erster Anfang von Landtag.
Da brauchte man auch Rechtsberater. Es gab den Landschaftskonsulenten, den Berater für die Landschaft. Und diesen Posten erhielt der hochbegabte Johann Jakob Moser. Er war ein Schwabe, der schon mit neunzehn Jahren Professor in Tübingen gewesen war und dann überall in Deutschland herumgekommen war, auch als Berater des Kaisers. Später wurde er zurückgeholt und man nannte ihn den Vater des deutschen Staatsrechtes – einen ganz genialen Juristen.
Er entwickelte sofort Pläne, wie das arme Württemberg zur Zeit des Herzogs Karl Eugen wieder auf die Beine kommen kann. Es musste sofort aufhören, dass Landeskinder, also Soldaten, ins Ausland verkauft wurden als Kanonenfutter – das wurde damals gemacht. Schwäbische Soldaten, die in Ludwigsburg in der Kaserne waren, wurden verkauft, versklavt, damit der Herzog Geld hatte.
Es musste aufhören. Diese starken jungen Bauernburschen mussten im Land bleiben. Man musste dafür sorgen, dass mehr Geld im Land blieb. Der Hof von Herzog Karl Eugen gab nicht so viel Geld aus. Das Land brauchte das Geld selbst, um Industrie und Landwirtschaft aufzubauen und Straßen zu bauen. Großartige Pläne entwickelte Johann Jakob Moser.
Sie können sich vorstellen, dass Herzog Karl Eugen sich nicht besonders darüber freute. Es war ja lauter Kritik an seiner Hofhaltung und an seiner Wirtschaft. Deshalb ließ er Herrn Landschaftskonsulenten Professor Johann Jakob Moser im Jahr 1749 nach Ludwigsburg beordern. Man hatte schon gemerkt, wie die Stimmung war.
Noch bevor Moser in den Audienzsaal gerufen wurde, konnte er einem der Diener sagen: „Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen. Wollt ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein still bleiben.“ Diesen großartigen Vers aus dem Paul-Gerhardt-Lied, das wir nachher singen wollen.
Der Herzog schrie ihn an: „Wer denkt er denn, dass er ist? Ich bin der Herzog, und er ist ein kleiner Mann. Meint er, dass er mir Vorhaltungen machen kann? Jetzt will ich ihn der schärfsten Inquisition unterwerfen.“ Alle seine Güter und Einkommen sollten überprüft werden, ob nicht auch bei ihm ein schwarzer Punkt gefunden wird.
Daraufhin sagte Johann Jakob Moser: „Euer Durchlaucht werden einen ehrlichen Mann finden.“ Das war genug. Fünfzehn Minuten später fuhr die Kutsche mit dem Gefangenen Johann Jakob Moser in Richtung Hohentwiel ab. Vom Hohentwiel ist selten jemand zurückgekommen.
Gefangenschaft und geistliche Kraft
Ohne Prozess und ohne Urteilsspruch war Johann Jakob Moser sechs Jahre lang auf dem Hohen Thwil gefangen. Zuerst, weil er kein Schreibzeug hatte, ritzte er zwei Jahre lang mit einer Lichtputzschere staatsrechtliche Abhandlungen in die Wand auf der einen Seite seiner Zelle. Auf der anderen Seite schrieb er Lieder, die ihm von Gott geschenkt wurden. Man hört förmlich, wie ein Jünger in die Wand ritzt.
Dann dachte er: Wenn ich jemals freikomme, kann ich diese Schriften ja nicht mitnehmen. Deshalb erfand er ein System, mit dem er mit einer ganz kleinen Nadel auf die freien weißen Stellen seiner Bibelseiten Buchstabe für Buchstabe seine staatsrechtlichen Abhandlungen und geistlichen Lieder einritzen konnte.
Als er aus dem Gefängnis kam, brachte er über tausend geistliche Lieder mit – eines davon haben wir zuvor gesungen – sowie 500 staatsrechtliche Abhandlungen. Er verbrachte zwei Jahre Einzelhaft. Erst nach einem halben Jahr durfte er den ersten Brief an seine Frau schreiben.
In diesem erhaltenen Brief heißt es: „Teure geliebte Frau und Mitgenossin an der Trübsal und auch am Reich Christi, das uns verheißen ist, fürchte dich nicht, glaube nur! Und fürchtest du dich sehr, so glaube desto mehr. Alles, was mir bisher geschehen ist, ist nur zur Förderung meines Glaubens geschehen. Ich habe mir vorgenommen, als ich hier in den Arrest abgeführt wurde, dass alles zur Reinigung meiner Seele und zur Stärkung meines Glaubens dienen soll. Es ist nicht jeder Tag gleich, aber unser Gott hat in seiner Güte dafür gesorgt, dass ich keinen einzigen dieser Tage mehr hergeben wollte gegen viel. Der Spiegel ist wieder blank, und das Licht ist geputzt. Wenn ein Spiegel beschlagen ist, dann sieht man nicht mehr recht. Jetzt ist der Spiegel meiner Seele wieder sauber. Ich habe wieder auf Gott gehört, und das Licht, das vorher bloß schwarz und rusig geplagt hat, ist wieder sauber.“
Was über meinen Leib zu berichten ist, ist ein Wunder, heißt es in dem Brief weiter. „Ich, der so viele Gichtanfälle hatte, hatte in diesem kalten Verlies vom ersten Tag an keinen einzigen Gichtanfall mehr. Es muss viel im Land für mich gebetet werden. Nachdem unser Herr nun die erste Hälfte vom Psalmwort ‚Ich bin bei dir in der Not‘ so herrlich erfüllt hat, wird er auch die zweite Hälfte nach seinem Wohlgefallen erfüllen.“ Diese zweite Hälfte lautet: „Ich will dich herausreißen und zu Ehren bringen und dir zeigen mein Heil.“
Es dauerte noch viereinhalb Jahre. Inzwischen war seine Frau, die Mitgenossin an der Trübsal, verstorben. Doch es wurde ein Triumphzug durch Württemberg. Von der letzten Ecke der Hohenwil, dem letzten Zipfel des Herzogtums Württemberg, ging es über Balingen und Tübingen. Überall standen die Menschen an der Straße. Man hatte sich weitergesagt, mit welchem Liedvers er in die Gefangenschaft gegangen war, bereit zum Leiden um seines christlichen Glaubens willen, um der Wahrheit und Ehrlichkeit willen.
So ging das Lied durch unser Land, unverzagt und ohne Grauen: „Soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen, wollt ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben.“
Die Bedeutung des Leidens und Gottes Wort
Man könnte noch viel über den Moser erzählen. Er hatte wirklich ein ganz außergewöhnliches Gehör. Einmal überraschte er den Kommandanten von Hohentwil, indem er sagte, er höre alle seine Verhandlungen mit. Der Kommandant meinte, das sei verrückt, denn der Moser habe sein Zimmer im Nebenbau. Doch der Moser besaß ein so großartiges Gehör, dass er sogar durch Mauern hindurch hören konnte.
Das Entscheidende war jedoch, dass er erkannte: Wenn mein Herr Jesus sich ins Leiden hineinführen ließ und das Leiden durch das Wort Gottes gestärkt ertrug – „Der Herr ist mit mir, wer will mich verdammen?“ –, dann kann auch ich mich ins Leiden schicken lassen. Und ich will die Zeit dazu nutzen, jetzt erst recht zu lauschen und zu hören, was Gott mir sagen will. So wird der Spiegel wieder blank, das Licht, das einst plagte, beginnt wieder hell zu leuchten.
Gottes Wort macht bereit, auch zum Leiten. Wir sollen nie einfach „Halleluja“ sagen und meinen, es sei wunderbar, wenn es ans Leiten geht. Unser Herr Jesus begann zu zittern und zu zagen. Das darf auch bei uns sein. Solange wir einen Körper haben und normal gebaut sind, haben wir Angst vor dem Leiten. Aber das andere soll auch da sein: Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht. Wer will verdammen? Amen!