Ich möchte heute mit euch die Abschnitte anschauen, in denen Jesaja jemanden vorstellt, dem er den ganz besonderen Titel „der Knecht Gottes“ gibt.
Das ist ein etwas schwieriges Thema, weil Jesaja diesen Titel nicht exklusiv verwendet. An den meisten Stellen, an denen er vom Knecht Gottes spricht, meint er einfach das Volk Israel. Das Volk Israel wird als Gruppe, als Volk, mehrfach als Knecht Gottes bezeichnet. Dieser Titel wird dort einfach so gebraucht.
Es gibt aber auch Stellen, an denen es anscheinend um Israel als Volk geht, die Darstellung jedoch so idealisiert ist, dass man denkt: Er kann jetzt nicht das ganze Volk meinen, wo er vorher von Missständen gesprochen hat. Offensichtlich hat Jesaja seine Perspektive etwas eingeschränkt und meint mit diesem Titel plötzlich nur noch diejenigen, die Gott wirklich treu sind und ihm nachfolgen. Das ist dann der Knecht Gottes.
Darüber hinaus gibt es vier Abschnitte im Propheten Jesaja, bei denen man kaum den Eindruck loswird – und das wahrscheinlich auch nicht wegdiskutieren kann, wenn man sie ernsthaft liest –, dass Jesaja die Bedeutung noch viel mehr einschränkt. Plötzlich redet er nicht mehr vom Volk oder von einer großen Gruppe im Volk. Stattdessen spricht er offensichtlich von einer einzelnen Person.
Von einer Person, die für ihn das Volk repräsentiert und so ist, wie er sich das Volk eigentlich vorgestellt hätte. Und genau darüber wollen wir heute sprechen.
Überblick über den Abschnitt und bisherige Themen
Wir können uns noch einmal kurz dieses Schema anschauen, das wir bereits betrachtet haben. Es zeigt einen Überblick über den großen Abschnitt von Kapitel 49 bis 57, den mittleren von drei Abschnitten, die jeweils neun Kapitel umfassen.
Beim letzten Mal haben wir über alles gesprochen, was hier leuchtend grün markiert ist. Wir haben über Jerusalem gesprochen: dass es neues Leben in Jerusalem geben wird, dass es zu wenig Platz in Jerusalem geben wird und dass es Jubel in Jerusalem geben wird.
Außerdem haben wir darüber gesprochen, wie sich das Bild wandelt. Im vorigen großen Abschnitt ging es immer wieder darum, dass Wasser in der Wüste ist und sich die Botanik entfaltet. In diesem Abschnitt erleben wir dagegen eine einsame alte Frau, die plötzlich ihre Familie wieder um sich hat. Sie wird von ihrem Mann wieder angenommen. Es geht hier nicht mehr um Leben in der Natur, sondern um Leben im Haus.
Wir haben gesehen, dass es um Gerechtigkeit geht – um Gottes ewige Gerechtigkeit. Der Abschnitt endet mit dem Satz: „Bei all dem, was Gott schenken wird, dadurch, dass er dieses Volk wieder in sein Land zurückbringt, heißt das nicht, dass es so eine Versöhnung mit jedem in Israel gibt, sondern es steht: Kein Friede den Gottlosen.“ Er erwartet von seinem Volk, von seinen Leuten, Veränderung und geht davon aus, dass diese Veränderung auch stattfindet. Dieses Thema wird heute noch einmal aufgegriffen.
Die Knecht-Gottes-Abschnitte in Jesaja
Wie bereits angedeutet, habe ich beim letzten Mal einige Stellen ausgelassen. Dabei handelt es sich um die Abschnitte, in denen es um den Knecht Gottes geht.
In diesem großen Abschnitt, der sich über neun Kapitel erstreckt, gibt es drei Abschnitte über den Knecht Gottes: am Anfang von Kapitel 49, relativ am Anfang von Kapitel 50 und dann den großen Abschnitt, der vielen von euch sicher bekannt ist, von Kapitel 52 bis 53. Das gesamte Kapitel 53 gehört dazu.
Vorhin habe ich gesagt, es seien vier Abschnitte, weil Jesaja den Titel „Knecht Gottes“ tatsächlich bereits in den Kapiteln 40 bis 48 in Verbindung mit einer einzelnen Person verwendet hat. Da ich diesen Teil, als wir über die Kapitel 40 bis 48 gesprochen haben, ebenfalls ausgelassen habe, möchte ich nun kurz darauf zurückkommen und diesen ersten Abschnitt vorstellen, in dem Jesaja diesen Titel einführt.
Jesaja 42: Der erste Knecht Gottes als einzelne Person
Jesaja 42, Vers 1: Jesaja schreibt: „Siehe, mein Knecht“ – die erste Stelle, an der dieser Titel mit dieser Bedeutung vorkommt. Hier ist nicht das Volk gemeint, auch keine große treue Gruppe innerhalb des Volkes, sondern offensichtlich ein einzelner Mann.
„Siehe, mein Knecht, den ich stütze, meinen Auserwählten, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.“
Jetzt sagt Jesaja zwei Dinge: „Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt“ und „Er wird den Nationen das Recht kundtun“, also den Nationen sagen, was in Gottes Augen richtig ist.
Ich mache nun einen kleinen Sprung und komme auf die Verse dazwischen zurück, genauer gesagt auf das Ende von Vers 3. Ich habe gerade Vers 1 vorgelesen, jetzt steige ich noch einmal am Ende von Vers 3 ein. Vers 1 endet mit „Er wird den Nationen das Recht kundtun“. Am Ende von Vers 3 steht: „Er wird in Treue das Recht kundtun.“
Man merkt, der Gedanke wird hier weitergeführt, auch wenn er kurz unterbrochen wird. Dann geht es weiter in Vers 4: „Er selbst wird nicht glimmen und nicht abknicken, bis er das Recht auf der Erde gegründet hat.“
Noch einmal: Es geht darum, dass hier jemand ist, der Gottes Gedanken und Prinzipien auf der ganzen Erde verkündet und letztlich auf der ganzen Erde durchsetzt. Vers 4 endet mit den Worten: „Die Inseln werden auf seine Lehre harren.“
An dieser Stelle möchte ich kurz etwas zum Wort „Inseln“ sagen. Wir haben heute eine bestimmte Vorstellung von Inseln: Eine Landmasse von nicht genau definierter Größe. Ab einer gewissen Größe wird es dann plötzlich ein Kontinent. Eine Insel ist eine Landmasse, die vollständig von Wasser umgeben ist.
Das ist jedoch nicht der Sprachgebrauch der alttestamentlichen Propheten. Für einen alttestamentlichen Propheten ist alles eine Insel, wohin man am besten mit dem Schiff gelangt. So ist für einen alttestamentlichen Propheten auch Italien eine Insel, weil man von Israel aus normalerweise mit dem Schiff dorthin fährt. Viele Länder, die direkt am Mittelmeer liegen, wären für einen Propheten Inseln, nicht nur Kreta und Zypern.
Das spielt heute keine große Rolle, aber wenn man die Bibel liest, wäre mein Vorschlag, dieses Wort im Kontext der Propheten so zu verstehen.
Wir haben nun aus Jesaja 42 gelesen: Vers 1, das Ende von Vers 3 und Vers 4. Die Frage ist: Wen meint Jesaja hier mit dem Titel „Knecht Gottes“?
Wenn man sich zurückerinnert an die Betrachtung dieses Abschnitts vor einigen Wochen, dann haben wir gesehen, dass es in diesem Abschnitt hauptsächlich um einen bedeutenden König geht – nämlich Kyros, den ersten König des persischen und medischen Weltreiches. Es geht um seine Machtergreifung, die Niederwerfung der Babylonier, um dieses Wunder.
In den Augen Jesajas war es wirklich ein Wunder, als er hundert, hundertzwanzig oder hundertsechzig Jahre in die Zukunft schaute und einen heidnischen König sah, der die Macht übernimmt, die Assyrer und Babylonier entmachtet und plötzlich zu all den deportierten Israeliten sagt: „Ihr dürft in euer Land zurückkehren.“
Ja, mehr noch: „Ihr sollt bitte in euer Land zurückgehen und den Tempel Gottes wieder aufbauen.“
Als Jesaja das in der Zukunft sah, war das für ihn überwältigend. Es war für ihn ein Schlüsselereignis der Geschichte, zumindest der näheren Geschichte seiner Zeit, in der nächsten Generation. Und er wunderte sich.
Jetzt die große Frage: Sind wir hier mitten in Jesaja Kapitel 42 – ist hier Kyros gemeint, wenn Jesaja von dem Knecht Gottes spricht? Vom Zusammenhang her ist das sehr naheliegend. Die erste Antwort ist sicher: Ja, vieles von dem, was in Kapitel 42 steht, hat eine gewisse Erfüllung in der Regierung und im Regierungsstil von Kyros. Darauf werde ich gleich noch zurückkommen.
Auf der anderen Seite ist das Bild einfach zu ideal. Ist es wirklich so, dass Kyros die Gerechtigkeit Gottes auf der Erde verbreitet? Das ist wahrscheinlich etwas übertrieben.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass manche Formulierungen, die wir gerade in Kapitel 42 gelesen haben, stark an Kapitel 11 erinnern. Einige Ausdrücke hier ähneln denen, die Jesaja schon in Kapitel 11 verwendet hat.
In Kapitel 11 geht es eindeutig nicht um Kyros, sondern um den zukünftigen Messias Gottes und das Reich, das er aufrichtet.
Ich lese einfach mal ein paar Verse aus Jesaja 11, Vers 1: „Und ein Trieb wird hervorwachsen aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling wird sprossen aus seinen Wurzeln.“
Eindeutig ist hier der Messias gemeint, jemand aus der Königsdynastie Davids, die lange verschollen war und über die lange Zeit niemand regiert hat. Alle wundern sich, dass jemand kommt, der sich auf diese Linie berufen kann und das Reich Gottes, so wie Gott es sich gedacht hat, neu aufrichtet.
Dann steht dort: „Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn.“
Das haben wir gerade in Kapitel 42 gelesen: „Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt.“ Der gleiche Gedanke.
Jesaja 11, Ende von Vers 3: Wenn vom Messias die Rede ist, sagt Jesaja, „er wird nicht richten nach dem Sehen seiner Augen und nicht rechtsprechen nach dem Hören seiner Ohren, sondern wird die Armen in Gerechtigkeit richten und den Unterdrückten des Landes rechtsprechen in Geradheit.“
Zumindest in der deutschen Übersetzung erinnert uns das sehr stark an das, was in Jesaja 42 steht. Wenn man genau liest, verwendet Jesaja etwas andere Vokabeln, die aber synonym sind. Es geht darum, dass hier ein Herrscher ist, der die Gerechtigkeit und das Recht Gottes verbreitet, lebt und aufrichtet.
Jesaja kommt auf das Gleiche zurück in Kapitel 42. Vers 10: In Jesaja 11 wird gesagt: „An jenem Tag wird der Wurzelspross Isais dastehen als Banner der Völker; nach ihm werden die Nationen gefragt.“
Wir haben gerade gelesen: „Die Nationen harren auf deine Belehrung.“
Also nimmt Jesaja in vielem Bezug auf Jesaja 11, wo es, wie gesagt, nicht um Kyros, sondern um den Messias Gottes ging.
Kann es sein, dass Jesaja diesen König Kyros mit all dem Erstaunlichen, was er getan hat, vor Augen hatte? Sein prophetischer Blick schweifte immer wieder weit in die Zukunft, als er Parallelen sah zwischen dem, was Kyros tut, und dem, was der zukünftige Messias tun wird – Dinge, die Gott ihm gezeigt hat, Dinge, die er in Jesaja 11 schon beschrieben hat.
Nein, Kyros ist nicht der ideale Knecht Gottes. Der ideale Knecht Gottes kommt noch – aus dem Messias Gottes.
Ich bin sicher, dass Jesaja auch hier in Kapitel 42 in erster Linie immer wieder auf diesen zukünftigen Messias Gottes hinweisen will.
Weiterer Verlauf von Jesaja 42: Charakter und Verhalten des Knechtes
Aber kommen wir zurück zu den ausgelassenen Versen. Wir haben einen Sprung gemacht von Kapitel 42, Vers 1 zum Ende von Vers 3. Lesen wir, was dazwischen steht: Vers 2.
Dieser Knecht Gottes wird nicht schreien und nicht rufen, und seine Stimme wird man nicht auf der Straße hören. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den klemmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Es scheint so, als sei Jesaja beeindruckt gewesen – auch von der ganz neuen Politik der Perser. Diese hatten nicht in erster Linie das Ziel, alle unterworfenen Völker völlig zu demütigen, ihnen sozusagen das Rückgrat zu brechen, wie wir sagen würden.
Ja, die Perser wollten ein Weltreich. Sie strebten eine Ausdehnung an, ähnlich wie die Assyrer und die Babylonier zuvor. Aber ihre Politik war ganz anders.
Die Assyrer und die Babylonier deportierten Völker, um jeden Widerstand zu brechen. Die Perser hingegen sagten: „Geht in euer Land zurück, wir geben euch eine gewisse Autonomie, solange ihr unsere Oberherrschaft anerkennt.“
Ein bisschen spielt Jesaja, glaube ich, darauf an, wenn er sagt, dass der Knecht Gottes den klemmenden Docht nicht auslöschen und das geknickte Rohr nicht zerbrechen wird. Das hat schon eine politische Dimension für die damalige Zeit.
Er wird seine Stimme nicht auf den Straßen hören lassen. Er wird nicht zur Bevölkerung gehen und sagen: „Ich bin euer neuer König.“ Stattdessen wird er durch einheimische Beauftragte regieren.
Er wird sich nicht abhängig machen – schon gar nicht vom Willen des Volkes oder von der Mehrheit. Er hat die Macht. Er muss seine Gedanken nicht durchsetzen und keine Werbung für seine Gedanken machen.
Er ist der König dieses Weltreichs. Sein Wille geschieht letzten Endes, auch wenn er sowohl den Politikern, den einzelnen Nationen als auch vielen Menschen eine gewisse Autonomie lässt.
Aber in Zukunft wird ein anderer König kommen. Einer, der es ebenfalls nicht nötig hat, Wahlkampf zu machen oder Menschen von seinen Gedanken zu überzeugen.
Viele werden überzeugt sein, wenn sie die Auswirkungen sehen. Aber dieser König ist nicht auf Zustimmung angewiesen. Er muss seine Stimme und seine Herolde nicht auf den Straßen laufen lassen, um die Mehrheit hinter sich zu bringen.
Es wird ein König sein, der nicht nur Völkern und Nationen ihr Rückgrat lässt, sondern vielen einzelnen Menschen ihre Würde lässt oder ihre Würde zurückgibt. So wird der zukünftige König Gottes sein.
Es ist kein Wunder und keine Überraschung, dass der Heilige Geist genau diese Stelle aus Jesaja benutzt, um die Zeit zu beschreiben, die Jesus auf dieser Erde verbracht hat.
Jesus ist dieser zukünftige König, und er war schon einmal auf dieser Erde, obwohl er damals sein Reich nicht in dieser sichtbaren politischen Weise aufgerichtet hat.
Jesus als Erfüllung von Jesaja 42
Wie hat er sich verhalten? Matthäus Kapitel zwölf, ich lese ab Vers fünfzehn:
Jesus zog sich von dort zurück, und große Volksmengen folgten ihm. Er heilte sie alle. Danach gebot er ihnen nachdrücklich, ihn nicht offenbar zu machen. So sollte erfüllt werden, was durch den Propheten Jesaja geredet ist. Jesaja spricht: „Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen gefunden hat. Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Nationen Recht verkündigen. Er wird nicht streiten noch schreien, noch wird jemand seine Stimme auf den Straßen hören. Ein geknicktes Rohr wird er nicht zerbrechen, und einen glimmenden Docht wird er nicht auslöschen, bis er das Recht zum Sieg führt. Auf seinen Namen werden die Nationen hoffen.“
Die Erfüllung von Jesaja 42 ist offensichtlich, als Jesus auf dieser Erde war, wie er aufgetreten ist. Er hat keinen Wahlkampf gemacht. Es war ihm nicht wichtig, den Willen der Mehrheit zu tun, sondern das Richtige. Er hat sich nicht proklamieren lassen als den großen neuen König, weil er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht König werden wollte.
Er hat das, was es gab, das, was noch ein bisschen Leben hatte, das, was noch geklemmt hat, das, was vielleicht schon angeknickt war und noch nicht abgebrochen, nicht zerstört. Stattdessen hat er gehofft, dass daraus neues Leben hervorkommt.
In gewisser Weise sagt uns Jesaja aus seiner historischen Sicht, dass Jesus die perfekte Version des Königs Kyros ist. Oder vielleicht umgekehrt: Kyros ist in vielem nur eine nicht ausgereifte Vorversion des Messias.
Lesen wir Jesaja 42, diesen Abschnitt, noch zu Ende:
Jesaja 42, Vers 4: „So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schuf und sie ausspannte, der die Erde ausbreitete mit dem, was auf ihr wächst, der dem Volk auf ihr den Odem gab und den Hauch des Lebens, den die darauf leben: Ich, der Herr, ich rufe dich, also dich, mein Knecht, in Gerechtigkeit und ergreife dich bei der Hand, und ich werde dich behüten.“
Und jetzt kommen diese Aussagen, auf die das Ganze hinausläuft, nachdem Gott noch einmal vorgestellt wurde. Es sind Aussagen, die wir uns vielleicht zumindest kurz merken sollten, denn hier steht:
„Und ich werde dich setzen zum Bund des Volkes, zum Licht der Nationen, um blinde Augen aufzutun, um Gefangene aus dem Kerker herauszuführen, aus dem Gefängnis, das in der Finsternis sitzt.“
Hier geht es darum, dass Blinde plötzlich sehen. Wahrscheinlich meint Jesaja nicht in erster Linie Menschen, die tatsächlich körperlich blind sind – obwohl Jesus Blinde sehend gemacht hat.
Ich glaube, es steht hier alles im Zusammenhang damit, dass Menschen im Gefängnis waren – wörtlich oder in der Deportation, bildlich auf jeden Fall im Gefängnis. Aus der Sicht Jesajas haben sie so lange im Dunkeln gelebt, dass ihre Augen nicht mehr funktionierten, einfach weil sie so lange kein Licht gesehen haben.
Das ist hier der Zusammenhang: Es geht um jemanden, der Gefangene befreit, die lange kein Licht gesehen haben. Dieser jemand gibt ihnen wieder Licht, und zum ersten Mal funktionieren ihre Augen wieder, weil sie wieder Licht sehen.
Wie gesagt, merken wir uns kurz diesen Gedanken.
Jesaja 49: Der Knecht Gottes als leidender Prophet
Kommen wir zu Jesaja 49. Jesaja spricht hier wieder von dem Knecht Gottes. Wenn wir den Text diesmal lesen, kommen wir zunächst gar nicht auf die Idee, dass er von einem König sprechen könnte. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass er von einem Propheten spricht – einem Propheten, der die Botschaft Gottes verkündet und verbreitet. Dabei muss er all das erdulden, was ein Prophet eben erdulden muss, wenn er die Wahrheit sagt.
Das trifft sowohl auf Jesaja 49 als auch auf Jesaja 50 zu. Man fragt sich ein wenig, ob diese Abschnitte auch autobiographische Züge haben. Ob Jesaja diesen zukünftigen Propheten sieht und manchmal an sich selbst denkt – an sein Schicksal, daran, wie er und seine Botschaft zu seiner Zeit im Volk aufgenommen werden, und wie er unter Widerstand leidet.
Ich lese nun einige Verse aus Jesaja 49, beginnend mit Vers 1: „Hört auf mich, ihr Inseln, und hört zu, ihr Völkerschaften in der Ferne!“ Er spricht hier in der Ich-Form. Schon deshalb kommt man auf die Idee, dass er sich sehr stark mit diesem Propheten identifiziert. Doch in erster Linie spricht er im Namen dieses zukünftigen Propheten.
„Der Herr hat mich berufen von Mutterleib an. Er hat von meiner Mutter Schoß an meinen Namen erwähnt, und er machte meinen Mund wie ein scharfes Schwert.“ Hier wird deutlich, dass es sich um einen Propheten handelt, dessen Mund Gott zu einem scharfen Schwert gemacht hat.
„Er hat mich versteckt im Schatten seiner Hand, er machte mich zu einem geglätteten Pfeil, er hat mich verborgen in seinem Köcher.“ Gott hat seinen Knecht in den ersten Jahren irgendwie im Verborgenen vorbereitet. Er hat ihn scharf gemacht wie einen Pfeil, seinen Mund geschult, so dass er wie ein Schwert ist. Doch er war noch verborgen im Köcher, verborgen in der Hand Gottes. So beschreibt Jesaja die ersten Jahre dieses Propheten.
Dann fährt er fort: „Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen werde.“ Damit meint er das eigentliche Israel.
Wie entwickelt sich dieser Knecht in seinen aktiven Jahren? Wie beurteilt er seine Dienstzeit, wenn er gegen Ende darauf zurückblickt? Jesaja beschreibt einen frustrierten Propheten. Er schaut auf die Jahre seiner Verkündigung zurück und hat den Eindruck, nichts von dem erreicht zu haben, was er sich gewünscht hat. Alles scheint vergeblich gewesen zu sein.
Trotzdem hält er an seinem Vertrauen zu Gott fest: „Ich aber sprach: Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.“
Er sagt, er habe nichts erreicht. Er habe viel investiert, viel geredet, versucht zu überzeugen, das Gericht Gottes verkündet und Menschen aufgerüttelt. Doch der Eindruck bleibt, dass er nichts bewirkt hat. Das ist frustrierend. Aber auf der anderen Seite hält er fest: Gott wird ihn für seinen Dienst belohnen.
Dann erhält er eine Antwort von Gott, die sowohl seinen Frust als auch seinen Glauben aufgreift. Gott spricht: „Der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht gebildet hat“ – das hatten wir gerade gelesen – „um Jakob zu ihm zurückzubringen und damit Israel gesammelt wird.“ Das war eigentlich sein Auftrag: Israel zu Gott zurückzubringen und zu sammeln.
Gott sagt weiter: „Ich bin geehrt in den Augen des Volkes? Nein! Aber ich bin geehrt in den Augen des Herrn, und mein Gott ist meine Stärke.“
Wenn Gott spricht, ist es zu wenig, dass du mein Knecht bist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. „Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt und zu meiner Rettung bis an das Ende der Erde.“
Der Knecht, der Prophet, sagt: Ich habe in Israel nichts erreicht. Doch Gott sagt: Deine Botschaft wird bis an die Enden der Erde getragen. Durch dich werde ich meine Rettung bis an die Enden der Erde bringen.
Das ist ermutigend, wenn man gerade von seinem Kerndienst frustriert ist. Wenn Gott einem einen Blick in die Zukunft gibt und sagt: Deine Aufgabe wird viel größere Kreise ziehen, als du dir ursprünglich vorgestellt hast. Das ist das, was Gott Jesaja an dieser Stelle sagt.
Als Paulus und Barnabas sich in Antiochien genau auf diese Stelle berufen, merkt man, wie diese Botschaft ihr Denken beeinflusst hat. In der Apostelgeschichte Kapitel 13, Vers 46 heißt es: Paulus und Barnabas sprachen: „Zu euch, den Juden, musste das Wort Gottes zuerst geredet werden. Weil ihr es aber von euch stößt und euch selbst nicht würdig achtet des ewigen Lebens, siehe, so wenden wir uns zu den Nationen.“
So hat der Herr geboten: „Ich habe dich zum Licht der Nationen gesetzt, damit du zur Rettung seist bis an das Ende der Erde.“
Als die aus den Nationen dies hörten, freuten sie sich und verherrlichten das Wort des Herrn. Sie nahmen diese Stelle aus Jesaja und sagten, dass sich dies auf die Botschaft Jesu und seinen Dienst bezieht. Seine Botschaft geht bis an die Enden der Erde, zu allen Nationen. Jesaja hat es schon gesagt, und wir werden es nun genau so leben.
Sie waren tief beeindruckt von dieser Botschaft Jesajas. Aber habt ihr auf die Worte geachtet? Vers 6 in Kapitel 49 haben wir gelesen, und Paulus und Barnabas haben es wiederholt: „Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt.“
In Jesaja 42, Vers 6 hat Jesaja schon gesagt: „Ich habe dich gesetzt zum Bund des Volkes, zum Licht der Nationen.“
Nicht nur durch diesen Titel verknüpft Jesaja die beiden Stellen in Kapitel 42 und 49, sondern auch durch diese Kernaussage: Der Knecht Gottes wird ein Licht für alle Nationen sein.
Jesaja führt diesen Gedanken weiter. Mit einer kleinen Unterbrechung, die er in Kapitel 42 begonnen hat, setzt er ihn in Kapitel 49 fort. In den nächsten Zeilen wird das noch deutlicher.
Ich lese Jesaja 49, Vers 8: „So spricht der Herr: Zur Zeit der Annehmung werde ich dich erhören, am Tag der Rettung werde ich dir helfen.“ Er spricht weiterhin zu seinem Propheten, seinem Knecht. „Und ich werde dich behüten und dich setzen zum Bund des Volkes.“
Jesaja 42, Vers 6 sagt: „Du wirst Bund des Volkes, Licht für die Nation sein.“
Das heißt: Er sagt zu seinem Propheten, du wirst die Enden der Erde erreichen. Aber letzten Endes wirst du auch deine ursprüngliche Kernaufgabe erfüllen. Du wirst das Volk neu in einen Bund mit seinem Gott bringen.
In beiden Abschnitten, Kapitel 42 und Kapitel 49, heißt es, dass er das Land aufrichten und die verwüsteten Erbteile neu austeilen wird.
Und jetzt, um den Gefangenen zu sagen: „Geht hinaus! Zu denen, die in Finsternis sind, kommt uns Licht!“
Erinnert ihr euch an Jesaja 42, Vers 7? Dort heißt es, dass er Gefangene aus dem Kerker herausführen wird, aus dem Gefängnis, die in der Finsternis sind.
Jesaja ist ein Prophet Gottes. Doch hier ist der Prophet König geworden. Er wird das Land aufrichten und neu verteilen. Der, der als Prophet auf dieser Erde abgelehnt wurde, wird der neue Herrscher sein. Er befreit die langjährig Gefangenen und teilt das Land neu aus.
Jesaja 50: Der gehorsame und leidende Knecht Gottes
Schauen wir kurz in den Abschnitt in Jesaja 50. Dabei beginnen wir nicht am Anfang des Kapitels, sondern erst in Vers 4. Man hat den Eindruck, dass Jesaja von einem Propheten spricht. Gleichzeitig scheint er sich sehr stark mit dieser Person zu identifizieren.
In Vers 4 lesen wir: „Der Herr, Yahweh, hat mir die Zunge eines Jüngers gegeben, damit ich den Müden durch ein Wort aufrichte.“ Er weckt mich jeden Morgen, er öffnet mir das Ohr, damit ich höre wie ein Jünger. Der Herr Yahweh hat mir das Ohr geöffnet, und ich bin nicht widerspenstig gewesen, ich bin nicht zurückgewichen.
Hier sehen wir den idealen Propheten oder den idealen Knecht Gottes. Dieser hört jeden Morgen, was Gott zu sagen hat, und ist im Lauf des Tages bereit, seinen Mund aufzumachen. Er tut nicht nur selbst, was Gott ihm gesagt hat, sondern gibt es auch weiter, um die Müden aufzurichten – jeden Tag.
Jesaja sagt: „Ich bin nicht widerspenstig gewesen, ich bin nicht zurückgewichen, ich habe mich nicht gewehrt gegen diesen Auftrag Gottes.“ Das trifft sicher auf Jesaja zu, aber noch viel mehr auf diesen damals noch zukünftigen Knecht Gottes. Denn es hätte viele Gründe gegeben, sich zu wehren.
Jesaja fährt fort und sagt: „Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen denen, die den Bart ausraufen.“ In meiner Übersetzung steht, glaube ich, „den Raufen“. Damals hatte jedermann Bart, und hier geht es um einen ganz üblichen Trick, wenn man jemanden in den Griff bekommen wollte: Man griff seinen Bart so fest, dass Barthaare ausgerissen wurden.
Darum geht es hier. Jesaja bot seinen Rücken den Schlägen und seine Wange denen, die den Bart ausrissen. Er wehrte sich nicht gegen den Auftrag Gottes, obwohl er wusste, dass das auf ihn zukommen würde – sowohl wörtlich als auch bildlich.
Er sagt weiter: „Mein Gesicht vermag ich nicht vor Schmach und Speichel zu verbergen.“ Sicher fallen einem Abschnitte aus dem Neuen Testament ein, in denen dieser Prophet Gottes, der Messias Jesus, genau das erlebt hat: Er wurde geschlagen und angespuckt.
Jesaja sagt das voraus, und wahrscheinlich hat er es selbst in der einen oder anderen Weise erlebt – wie viele Propheten Gottes es erlebten. Trotz aller Anfeindungen, Ablehnung und Angriffe auf seine Person war dieser Prophet Gottes, dieser Knecht Gottes – Jesus auf dieser Erde – sich seines Auftrags bewusst.
Er vertraute darauf, dass sein mächtiger Auftraggeber sich letzten Endes zu ihm stellen und eingreifen wird. Ich lese noch ein Stück weiter in Jesaja 50:
„Aber der Herr Yahweh hilft mir, darum bin ich nicht zu Schanden geworden. Darum machte ich mein Angesicht wie einen Kieselstein, weil ich wusste, dass Gott hinter mir steht, auf meiner Seite steht, und ich wusste, dass ich letztlich nicht beschämt werde.“
Jesaja fährt fort: „Nah ist der, der mich rechtfertigt. Wer will mit mir rechten? Lass uns zusammen hintreten! Wer hat eine Rechtssache gegen mich, der trete her zu mir! Siehe, der Herr Yahwe wird mir helfen. Wer ist es, der mich für schuldig erklären könnte? Allesamt werden sie zerfallen wie ein Kleid, und die Motte wird sie fressen.“
Für manche aber, die sich nicht gegen diesen Gesandten Gottes wenden, sondern ihm zuhören und auf ihn hören, wird das Rettung bedeuten. Für wen genau? Die Botschaft wird uns bekannt vorkommen.
Jesaja sagt: „Wer unter euch den Herrn fürchtet, wer hört auf die Stimme seines Knechtes, der in Finsternis unterwegs ist und dem kein Licht glänzt, der vertraue auf den Namen des Herrn und stütze sich auf seinen Gott.“
Wieder begegnet uns hier jemand, der in der Finsternis ist, der das Licht gar nicht mehr kennt. Von ihm hat Jesaja schon in Kapitel 42 und Kapitel 49 gesprochen. Hier erscheint er erneut und sagt, dass diese Menschen auf diesen Retter hoffen werden. Wie wir schon gelernt haben, wird er sie befreien und ihnen Licht bringen.
Das waren eigentlich die drei einleitenden Abschnitte zu diesem Thema des Knechts Gottes:
Der erste Abschnitt beschreibt ihn als König, der seine Macht noch nicht durchsetzt.
Der zweite Abschnitt zeigt ihn eher als Propheten, einen Propheten, der aber irgendwann an die Macht kommen wird.
Der dritte Abschnitt beschreibt einen Propheten, der viel erdulden muss.
In allen drei Abschnitten ist es jemand, der Gefangene befreit und Menschen, die kein Licht mehr kennen, ans Licht bringt und zum Licht führt.
Jesaja 52-53: Der leidende und erhöhte Knecht Gottes
Aber jetzt kommen wir zu dem Abschnitt, auf den das alles hinläuft, auf den Jesaja, auf den der Heilige Geist das alles ausgerichtet hat. Ein wirklich zentrales Kapitel, nicht nur des Propheten Jesaja, sondern des ganzen Alten Testaments und der ganzen Bibel. Es sind ganze Bücher nur über dieses Kapitel geschrieben worden. Viele haben versucht, es irgendwie in Strophen einzuteilen, und bis zu einem gewissen Grad macht das Sinn, aber alle diese Einteilungen sind immer ein bisschen anders. Es hat poetische Strukturen, aber schauen wir uns einfach den Gedankenfluss an.
Ich möchte mit euch vieles lesen, fast alles aus diesem Abschnitt. Ich fange an in Kapitel 52, Vers 13: Siehe, mein Knecht wird weise handeln, er wird erhoben und erhöht werden und sehr hoch sein. Ein Stückchen weiter, Vers 15: So wird er jetzt viele Nationen in Staunen versetzen, über ihnen werden Könige ihren Mund verschließen, denn sie werden sehen, was ihnen nicht erzählt worden war, und was sie nicht gehört hatten, werden sie wahrnehmen.
Jesaja fängt mit dem Ende an. Er sagt, letzten Endes wird dieser Knecht erhöht werden, die Herrscher dieser Erde werden staunen, wenn sie ihn sehen. Das ist das, auf was es hinausläuft. Und das ist das, womit er auch dieses Kapitel 53 letzten Endes wieder beenden wird. Er fängt mit der Erhöhung des Messias an und endet mit der Erhöhung des Messias.
Wesentlich ist, dass er in diesem Kapitel schon in der ersten, ich sage mal Strophe, in diesen ersten drei Versen in die Mitte einfügt. Jesaja 52, Vers 14: Er blickt zurück, er stellt sich sozusagen an dem Punkt, wo er sieht, der Messias wird erhöht bei Gott, und er schaut zurück. Aber wie war der Weg dorthin? Wie haben sich vorher viele über dich entsetzt? Du bist so erhöht in einem so hohen Maß, und es spiegelt irgendwie die Tiefen wider, in die du gegangen bist. Du bist so hoch erhöht, wie du vorher erniedrigt warst. Wie viele sich über dich entsetzt haben, so staunen jetzt alle über dich. Viele haben sich entsetzt, so war seine Entstellung: nicht mehr wie ein Mann, sein Aussehen und seine Gestalt nicht mehr wie Menschenkind. Es klingt wirklich nach krasser Entstellung, dass er nicht mehr ausgesehen hat wie ein Mensch.
Das versucht Jesaja uns hier schon mal zu sagen, wie gesagt, bevor er in die Details geht. Und genau daran knüpft er jetzt am Anfang von Kapitel 53 an: Wer hat unserer Botschaft geglaubt, wem ist der Arm des Herrn offenbar geworden? Er ist wie ein Reis oder wie ein Trieb, der vor ihm aufgeschossen ist, sondern wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht, dass wir ihn gesehen hätten, kein Aussehen, das wir begehrt hätten.
Nochmal Jesaja: Ein Trieb sprosst aus auf dieser Wurzel Isais, aus dieser Dynastie Davids, und alle werden sich wundern und alle werden erstaunt sein, was Gott da tut. Hier verwendet Jesaja ein ganz ähnliches Bild, aber ganz anders. Es ist wieder etwas, das aufsprosst. Ein Reis, ja, es wird mal ein Busch und es wird mal ein Baum, aber noch ist es nur ein Trieb. Es hat keine Verästelung, es hat keine Blätter, es kommt aus dem Boden und wächst.
Und er sagt, wir haben es gesehen, wir haben diesen Mann gesehen. Wir haben gesehen, dort, wo dieser Baum versucht zu wachsen, das ist so ein öder, fruchtloser Boden. So eine dürre Umgebung, es gibt nichts, was ihm Schatten spendet, es gibt nichts, was ihn unterstützt, es gibt nichts drumherum. Es ist wie so ein einzelner Baum, der versucht, sich irgendwo in der Steppe durchzusetzen.
Jesaja sagt, wir haben ihm keine Chance gegeben. Wir haben ihm keine Chance gegeben, zu überleben, wir haben ihm keine Chance gegeben, groß zu werden, ein Baum zu werden, Einfluss zu haben. Wir haben ihn verachtet. Es war nichts Anziehendes daran, es war im besten Fall Mitleid erregend, ihn zu beobachten. Das ist es, was er hier versucht mit diesem Bild zu sagen. Er war verachtet und verlassen von den Menschen.
Ende von Vers 3: Er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet. Jesaja betont es: Hier ist ein Knecht Gottes gekommen, und er war verachtet. Wir haben ihn verachtet, wenn wir ihn kommentarlos nur beobachtet hätten. Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht verbergt, weil man es sich nicht mehr mit ansehen möchte. Er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet.
Und jetzt, und fürs Vier, kommen wir zu den Schlüsselversen dieses ganzen Abschnitts, dieses ganzen Abschnitts, der zentral ist in diesem Propheten. Jesaja führt einen Gedanken ein, den er jetzt ab da in diesem Kapitel immer wieder wiederholen wird. Egal, was er sagt, er wird diesen einen Gedanken immer wiederholen, bis der Nagel eingeschlagen ist.
Von wem schreibe ich?, fragt Jesaja zwischen den Zeilen. Ist es irgendein Prophet, der abgelehnt wurde, dessen Botschaft nicht ankam? Ja, das ist vielen Propheten in der Geschichte passiert, würde Jesaja sagen. Spreche ich von einem Propheten, der verfolgt, geschlagen, vielleicht umgebracht wurde, einem Mann, der Schmerzen mit Leiden vertraut? Jesaja würde sagen, auch das ist nicht unüblich in der Geschichte des Volkes Gottes, dass Propheten nicht nur abgelehnt, sondern auch misshandelt und sogar getötet wurden.
Aber dann sagt er: Hier ist etwas Größeres. Hier ist nicht einer der Propheten, den das Volk abgelehnt hat. Hier ist nicht einer der Propheten, den das Volk umgebracht hat. Hier steckt etwas Größeres dahinter. Und das ist das, was Jesaja uns eigentlich sagen will.
Wir haben gesehen, dass Israel aus der Verbannung in das Land Gottes zurückkehren sollte. Wir haben gesehen, dass Gott von seinen Leuten persönliche Veränderung erwartet, dass er Heiligung voraussetzt, damit er sie wirklich wieder in dieses Land bringt, damit er wirklich mit ihnen wieder in dieses Land geht. Ihr Denken und ihr Handeln musste zu Gott passen, damit er wieder ihr Gott sein will.
Aber was bisher offen geblieben ist: Was ist mit der persönlichen Schuld? Was ist mit meiner Vergangenheit? Ja, ich kann mir vornehmen, jetzt treu zu sein, jetzt fromm zu sein, mich jetzt ans Gesetz zu halten. Aber was ist mit dem, was ich schon kaputt gemacht habe und was ich vielleicht nie mehr gut machen kann? Was ist mit dem, was ich schon verschmutzt habe, ohne dass ich das zurücknehmen kann? Was mit meiner Vergangenheit und was mit meiner Zukunft? Ich habe nicht die Illusion, dass ich in Zukunft perfekt leben werde. Was ist mit meiner Schuld? Geht es nur um mein Bemühen, und dann ist alles gut? Was ist mit meiner Schuld?
Und die Antwort auf diese Frage kommt jetzt in Jesaja 53, Vers 4: Doch er hat nicht seine Leiden getragen. Er hat nicht einfach gelitten, weil die Leute die Botschaft Gottes nicht wollten. Er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen. Und wir hielten ihn für bestraft von Gott, geschlagen und geplagt. Wir waren so fromm.
Jesaja versetzt sich in die Lage der Menschen, der Israeliten, der frommen Israeliten zur Zeit Jesu, und sagt: Wir waren so fromm, dass wir dachten, wenn es jemandem schlecht geht, dann muss Gott ihn bestrafen, es muss einfach eine Strafe Gottes sein. Und er hatte Recht. Die Menschen hatten Recht, die das so beurteilt haben, aber es war nicht sein Gericht, sagte Jesaja, sondern es war unser Gericht. Es waren unsere Sünden, für die Gott ihn bestraft hat.
Doch um unserer Übertretung willen war er verwundet, um unserer Ungerechtigkeit willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden. Da hat jemand gelitten im Gericht Gottes, nicht weil er etwas falsch gemacht hat, sondern weil wir alles falsch gemacht haben. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm.
Glaubst du das eigentlich? Ihr seid alle brav, die meisten von euch kommen irgendwie aus einem bürgerlichen Background. Glaubt ihr wirklich, dass ihr in den Augen Gottes so schlecht seid, dass nur noch die Todesstrafe in Frage kam? Denn nur dann macht es Sinn, dass Jesus für dich die Todesstrafe getragen hat.
Petrus greift diesen Gedanken aus Jesaja auf, 1. Petrus 2, Vers 24: Der selbst unsere Sünden an seinem Körper auf dem Holz getragen hat. Und jetzt zitiert Jesaja wörtlich: Durch dessen Striemen ihr heil geworden seid.
Ich muss noch ein paar Sätze lesen, ich sage nicht mehr so viel dazu. Jesaja 53, Vers 6: Wer alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns jeder auf seinen Weg. Der Herr hat ihn treffen oder ihn attackieren lassen, unser aller Ungerechtigkeit. Er wurde misshandelt und gepeinigt, aber er tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern, und er tat seinen Mund nicht auf.
Er wurde weggeführt durch Zwang. Es gab rebellierende Schafe, jeder ging auf seinem eigenen Weg. Ein Schaf ist beim Hirten geblieben, und dieses Schaf wurde mit Zwang weggeführt, auf einem Weg, der eigentlich nicht seines gewesen wäre, sondern der Weg der anderen. Er ließ sich unter Zwang abführen.
Zweimal hat Jesaja gesagt, er tat seinen Mund nicht auf. Er hat sich nicht verteidigt, er hat nicht gesagt: Das habe ich nicht verdient, das haben die anderen verdient. Er ist diesen Weg gegangen, den Weg, den die anderen verdient hatten.
Er war vor dem Schlächter genauso stumm, als wäre es nur jemand, der die Wolle abschert. Und mittendrin, habt ihr das gemerkt? Jesaja wiederholt diesen Satz, erste Wiederholung: Ich lese noch mal: Der Herr hat ihn treffen oder attackieren lassen wegen unser aller Ungerechtigkeit.
Und jetzt wechselt Jesaja das Bild, oder eigentlich tut er das nicht. Eigentlich verlässt er seine Bilder ausnahmsweise und schreibt Klartext. Er spricht nicht mehr von einem Schaf, das für andere Schafe irgendwie unter Zwang weggeführt und umgebracht wird. Er spricht von einer sehr realen Gerichtsverhandlung.
Und sein Geschlecht, wen kümmert es? Niemand kümmert es, dass er noch keine Kinder hat. Das war ganz furchtbar. Ich meine, umzukommen, wenn er noch keine Kinder hat. Deine Linie wird gekappt. Du hast niemanden, dem du das vererben kannst, was du aufgebaut hast. Wer kümmert sich darum, dass Jesus umgebracht wird? Niemand, sagt Jesaja. Niemand kümmert es, dass seine Linie gekappt wird, denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.
Und jetzt wiederholt Jesaja den Gedanken zum dritten Mal: Wegen der Übertretung meines Volkes hat ihn Strafe getroffen. Warum ist er umgebracht worden? Weil er etwas falsch gemacht hat? Nein, wegen der Übertretung anderer.
Und dann erzählt Jesaja die Geschichte zu Ende: Man hat sein Grab bei Gottlosen bestimmt, aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist.
Der ursprüngliche Plan seiner Ankläger und seiner Richter hat sich nicht hundertprozentig erfüllt. Er ist nicht bei den Gesetzlosen begraben worden, sondern bei einem Reichen. Was hat das zu bedeuten? Jesaja wird gleich darauf zurückkommen. Er sieht eine große symbolische Bedeutung darin.
Wie hat die Geschichte damit zu Ende erzählt? Noch nicht ganz. Obwohl es dem Herrn gefiel, ihn zuzuschlagen und ihn leiden zu lassen, wird er, wenn er das Schuldopfer gestellt haben wird – das ist die nächste Wiederholung – ein Schuldopfer, ein Opfer, das für jemand anders stirbt, nicht für die eigene Schuld, wird er Samen sehen.
Keine Nachkommen? Wow, doch Nachkommen! Er wird Samen sehen. Abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen, aus, vorbei? Er wird seine Tage verlängern. Abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen, er wird seine Tage verlängern, ist die Antwort auf Verstehung schon bei Jesaja.
Und wenn er nach diesem Leben und nach seinem Leiden in die Zukunft schaut, wird er nicht mehr frustriert sein. Er wird völlig befriedigt sein, und das Wohlgefallen des Herrn wird in seiner Hand gedeihen. Nach dem Mühsal seiner Seele wird er sehen und sich sättigen durch seine Erkenntnis.
Gott wird ihm einen weiten Blick geben, was alles entsteht durch seinen Tod, was alles an Samen entsteht, was alles dadurch entsteht, dass er sein Leben verlängert, dadurch, dass er das sieht und erkennt. Er wird völlig befriedigt sein.
Und dann, nächster Satz, vierte Wiederholung: Mein gerechter Knecht wird viele gerecht sprechen, er lädt ihre Ungerechtigkeiten auf sich. Dies ist dieser Gedanke aus Vers 4 und 5. Immer wieder, er trägt die Ungerechtigkeit anderer, er kommt wegen der Ungerechtigkeit anderer um, er wird verurteilt wegen der Ungerechtigkeit anderer. Schon zum vierten Mal kommt Jesaja auf diesen Gedanken zurück.
Und ja, sagt er, es ist nicht zufällig, dass Jesus bei einem Reichen war in seinem Tod. Darum werde ich ihm Anteil geben an den Vielen, und mit Mächtigen wird er die Beute teilen.
Es ist nur ein ganz kleiner Vorgeschmack von dem, was zukünftig passiert, dass er zu den Mächtigen gehört, so wie er in seinem Tod bei einem Reichen war.
Und natürlich beendet Jesaja diesen Abschnitt mit der fünften Wiederholung seines Hauptgedankens: Dafür, dass er seine Seele hingegeben hat in den Tod und zu den Übertretern gezählt worden ist, als er die Sünde vieler getragen hat und für die Übertreter eingegriffen hat.
Immer wieder merkt er das, er sagt es, er sagt es nochmal, er sagt es nochmal und nochmal.
Und ein letztes Mal: Das ist die Botschaft, das ist der Kern, die DNA des Evangeliums, dass jemand gekommen ist, das einzige Schaf, das eigentlich beim Hirten geblieben war, und hat die Ungerechtigkeit der anderen getragen in diesem Gericht Gottes.
Und diesen Kern des Evangeliums möchte Jesaja uns wirklich einschärfen.
Ganz oft wird Jesaja 53 im Neuen Testament in irgendeinem Zusammenhang zitiert, aber er möchte enden mit einer Geschichte, wo tatsächlich jemand durch diesen Abschnitt gerettet worden ist.
Apostelgeschichte 8: Die Wirkung von Jesaja 53
Ein Engel des Herrn sprach zu Philippus: „Steh auf, geh in Richtung Süden auf den Weg, der von Jerusalem nach Gaza hinabführt, denn dort ist eine einsame Gegend.“ Philippus stand auf und ging hin. Dort sah er einen Äthiopier, einen Kämmerer, der ein Würdenträger der Kandake, der Königin der Äthiopier, war. Er war auf der Rückkehr und saß in seinem Wagen, während er den Propheten Jesaja las.
Es war tatsächlich eine gute Idee gewesen, nicht nur nach Jerusalem zu gehen, um Gott anzubeten, sondern auch Jesaja zu lesen. Der Geist sprach zu Philippus: „Geh näher und schließe dich diesem Wagen an.“ Philippus lief hin und hörte, wie der Äthiopier in den Propheten Jesaja las. Er fragte ihn: „Verstehst du auch, was du liest?“ Der Äthiopier antwortete: „Wie könnte ich es verstehen, wenn mich niemand anleitet?“ Er bat Philippus, auf seinen Wagen zu steigen und sich zu ihm zu setzen.
Die Stelle der Schrift, die er las, war folgende, und wahrscheinlich ist sie euch bekannt: „Er wurde wie ein Schaf zur Schlacht geführt, und wenn ein Lamm vor seinen Scherern stumm ist, so tat er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde ihm sein Recht verweigert. Wer aber kann sein Geschlecht beschreiben, denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.“
Der Kämmerer fragte Philippus: „Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet das – von sich selbst oder von einem anderen?“ Eine gute Frage, oder? Ist es autobiographisch? Diese Frage haben wir heute schon einmal gestellt.
Philippus öffnete seinen Mund und begann, von dieser Schriftstelle aus das Evangelium von Jesus zu verkündigen. Ich meine, das war traumhaft, oder? Dieser Äthiopier liest im Kern die DNA des Evangeliums, und ausgehend von dieser Schriftstelle kann Philippus ihm das Evangelium von Jesus erklären.
Denn Jesaja sprach nicht in erster Linie von sich selbst oder von einem anderen Propheten, sondern von dem Einzigen, der die Sünde und Ungerechtigkeit anderer getragen hat und dafür gerichtet worden ist. Jesaja sagte den Kern des Evangeliums schon damals voraus – etwa siebenhundert Jahre vor Christus.