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Glaube ist keine wissenschaftliche Erkenntnis, aber elementare Erkenntnisse darüber sollte sich jeder aneignen. Bei Vater Abraham kann man das ABC des Glaubens lernen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Es braucht nicht nur einen klugen Kopf, um etwas zu kapieren. Es braucht nicht nur etwas guten Willen, um etwas mitzubekommen. Es braucht nicht nur stabiles Sitzleder, um etwas zu begreifen. Liebe Gemeinde, es braucht immer begabte Persönlichkeiten, um etwas zu lernen.

Zum Beispiel Pythagoras, der griechische Philosoph aus Samos. Um der Gewaltherrschaft des Polykrates zu entgehen, wanderte er nach Unteritalien aus und gründete einen Bund mit wissenschaftlichen Zielen. Von ihm stammt der grundlegende Satz, und jeder Schüler wird es nach Ausbruch der Sommerferien mit Grausen hören: “In einem rechtwinkligen Dreieck ist der Flächeninhalt des Quadrats über der Hypotenuse gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten.” Doch, bei Pythagoras kann man rechnen lernen.

Oder zum Beispiel Albert Einstein, der schwäbische Professor aus Ulm. Als “technischer Experte 3. Klasse” des Berner Patentamtes begann er zu forschen und lehrte ab 1935 in den USA. Von ihm stammt die Relativitätstheorie von der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller raumzeitlichen Koordinatensysteme. Doch, bei Einstein kann man denken lernen.

Oder noch ein Beispiel: John Maynard Keynes, der britische Volkswirtschaftler aus Cambridge. Seine finanzfachmännischen und wirtschaftspolitischen Publikationen erregten großes Aufsehen in der Fachwelt. Heute gilt er als der Vater der freien Marktwirtschaft. Doch, bei Keynes kann man Handel lernen.

Sicher gäbe es noch viele andere Beispiele, aber hier wird auch ein Name genannt: Abraham, der Sohn Terachs aus Ur. Mit seiner Frau Sara und seinem Neffen Lot durchzog er das Land. Im gesegneten Alter von 175 Jahren verstarb er und wurde von seinen Söhnen in der Höhle von Machpela bestattet. Kann man an ihm auch etwas kapieren? Kann man durch ihn auch etwas begreifen? Kann man von ihm auch etwas lernen?

Historiker winken ab und sprechen von einer Mythengestalt, um die sich nur Wanderlegenden ranken. Kritiker schütteln die Köpfe und schreiben von einem Kameltreiber, der nur lokale Bedeutung hatte. Zyniker tun es weit von sich und belächeln einen Beduinenscheich, der nur sein Nomadenblut befriedigte.

Und Paulus bezeichnete ihn als den Vater aller Glaubenden. Und Jakobus beschrieb ihn als ein Vorbild des Gehorsams. Und der Hebräerbrief setzte ihn auf die Ehrentafel der Gottesmänner. Und Blaise Pascal nähte ein Stück Papier mit diesem Namen in seinen Rock, zwischen Tuch und Futter, um es täglich mit sich herumzutragen.

Auch uns muss dieser Name Abraham wieder wichtig werden, weil man bei ihm glauben lernen kam. Gewiss ist der Glaube kein mathematischer Lehrsatz, den man kapieren kann, keine physikalische Formel, die man mitbekommen kann, keine wissenschaftliche Erkenntnis, die man begreifen kann. Glaube ist und bleibt im letzten ein Geschenk Gottes, über das wir nicht verfügen. Aber im Vorletzten gibt es elementare Erkenntnisse, die sich jeder aneignen sollte. So führt dieser Textabschnitt gleichsam in die Elementarschule, wo bei Vater Abraham das ABC des Glaubens gelernt wird.

A. Glauben heißt hinhören, nicht hinaushören

Abraham führt uns nach Ur. Diese chaldäische Siedlung ist im irakischen Mugajjar, hart an der Grenze zum Iran, durch umfangreiche Grabungen wieder frei­gelegt worden. Wahrlich eine sehenswerte Stadtanlage mit einem besonderen Wahrzeichen. Das, was für Stuttgart der Stiftskirchenturm oder für Ulm das Münster oder für Heidelberg das Schloss ist, das war für Ur auf einem künstlich aufgeschütteten Terrassenberg der Tempel des Mondgottes Nanna-Sin und seiner Frau Gemahlin Ningal. Chaldäer waren Mondanbeter. Urbewohner waren Gestirnsgläubige. Abrahamsleute waren Sterngucker. Wenn also die mörderisch sengende Sonne hinter dem weiten Wüstenhorizont verschwand und sich Millionen von Lichtern um den kühlen und angenehmen Mond herum entzündeten, dann zogen ganze Menschenschlangen den Tempelberg hinauf und blickten ängstlich hinaus zu den kosmischen Mächten über ihren Köpfen. Was sagt der Mond über mein Leben? Was sagen die Tierzeichen zu meinen Plänen? Was sagen die Konstellationen zu meinen Absichten? Habe ich unter einem guten oder unter einem schlechten Stern zu leben?

Das ist 3000 Jahre her, aber hinaushören tun sie immer noch. Die Astrologie feiert sogar fröhliche Urstände. Die viel propagierte Wendezeit ist zur regenbogenfarbigen Blütezeit der Kosmologen geworden. Wassermann lässt grüßen. Man lebt nicht hinterm Mond, wenn man nach den Monden fragt. Was sagt Jupiter? Was sagt Saturn? Was sagen die Zwillinge?

Aber Abraham geht ein ganz anderes Licht auf. Die Monde sagen gar nichts. Die Sterne schweigen sich aus. Im Weltraum herrscht Totenstille. Von außen ist kein Ton zu hören, aber von vorn. Und der Herr sprach, obwohl er nach der Paradiesgeschichte hätte schweigen müssen. Und der Herr sprach, obwohl er sich nach dem Kainmord hätte zurückziehen müssen. Und der Herr sprach, obwohl mit der babylonischen Sprachverwirrung alles gesagt war. Dieser grundgütige und langmütige Herr schwieg nach jenem missglückten Start im Garten Eden seine Schöpfung nicht tot, sondern schlug ein neues Kapitel der Heilsgeschichte auf. Und der Herr sprach zu Abraham. Er sprach zu Isaak. Er sprach zu Jakob. Er sprach zu Mose, zu David, zu Jesaja. Dann wurde das Wort sogar Fleisch und wohnte unter uns. Jetzt spricht Gott in Jesus Christus zu uns.

Warum sind wir ganz Ohr, wenn Horoskope sich zu Wort melden? Warum spitzen wir die Ohren, wenn angebliche Sphärenklänge zum Klingen kommen? Warum hören wir hinaus in die eiseskalte Gestirnswelt? Der Herr spricht in seinem Wort: Ich sehe dich auf dem grünen Planeten zwischen Myriaden von Sternen und Milchstraßen. Ich kenne dich an deinem Erdenplatz unter den Völkern und Nationen. Ich liebe dich, trotz aller Macken und Mängel in deinem Leben. Ich trage dich mit allen Schwächen und Schwierigkeiten. Du bist mein.

Glauben heißt hinhören, nicht hinaushören. Das ist das A im ABC unserer Glaubensschule, und das …

B. Glauben heißt hinhören, nicht herumhören

Abraham zeigt uns Ur. Das Sightseeing in dieser 1300 Meter langen Stadtanlage lohnt sich. Außer dem Mondtempel sind sieben Stadttore zu bewundern, die den ständig fließenden Verkehr und Handelsstrom kaum fassen können. Breite Geschäftsstraßen und orientalische Bazare, durch die der betäubende Geruch orientalischer Gewürze zieht, laden zum Einkaufsbummel ein. Vor stattlichen Häusern, zum Teil mit 10 bis 20 Wohnräumen, ausgestattet mit allen erdenklichen Bequemlichkeiten wie Polstern und Teppichen, bleibt der Besucher staunend stehen. Wahrlich kein Rastplatz für schmutzige Kameltreiber, sondern Wohnplatz für bildungsbeflissenes Bürgertum. In Ur ließ sich leben, gut leben, herrlich leben.

Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vater­land. Und der hört auf diesem wunderschönen Fleckchen Erde herum: Hier bin ich auf die Welt gekommen; hier erlebte ich meine Jugendzeit; hier habe ich Wurzeln geschlagen. Das ist meine Heimat. Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deiner Verwandtschaft. Und der hört in den behaglichen Nachbarhäusern herum: Hier wohnt meine Mutter; hier leben meine Geschwister; hier habe ich meine Nichten und Neffen. Das ist doch meine ganze Sippschaft. Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Haus. Und der hört in seiner Wohnung herum: Hier habe ich mich eingerichtet; hier feiern wir unsere Feste; hier ist der Mittelpunkt der Familie. Das ist doch mein Daheim. Und der Herr sprach zu Abraham: Geh!

Man kann sich diese Zumutung Gottes kaum steil genug vorstellen. Das Vaterland ist und bleibt unersetzliches Heimatland. Die Verwandtschaft ist durch keine andere Gemeinschaft zu ersetzen. Das eigene Haus bleibt die Stätte des Glücks. Könnte man nicht beides verbinden? Gott und das Vater­land? Könnte man nicht beides kombinieren? Gott und die Verwandt­schaft? Könnte man nicht beides zusammen haben: Gott und das Eigenheim? Das wäre schön, ein Überzieher-Gott, der unseren ganzen Krempel mit seiner großen Gnade überzieht.

Aber Abraham weiß Schöneres. Er hört nicht überall herum, sondern hört hin auf dies­en Herrn. Wenn der einen Marschbefehl erteilt, dann schickt er nicht in die Wüste. Er wird ihm eine schönere Heimat als in Chaldäa geben. Er wird ihm eine engere Gemeinschaft als am Golf schenken. Er wird ihm noch ein ganz anderes Dach überm Kopf zimmern als in Ur.

Wer Gott bedingungslos folgt, macht keinen schlechten Tausch. Sein zugesagter Gewinn übersteigt das Aufgegeben um ein Vielfaches. Dieser Herr hat noch keinen im Regen stehen lassen. Sicher wird nicht von jedem verlangt, alles zu verlassen. Aber verlangt ist auf jeden Fall, dass wir alles hinter Gott rangieren lassen, dass wir allem den richtigen Stellenwert einräumen, dass wir unser Leben allein auf ihn hin ausrichten. Wir können ihm doch aufs Wort vertrauen. Bei ihm ist man auf jeden Fall fein heraus. Wer überall herumhört, verhört sich. Der Glaubende hört auf ihn und lässt es fröhlich und guten Muts auf die Überraschungen ankommen, die er für ihn bereit hat.

Glauben heißt hinhören, nicht herum­hören. Das ist das B im ABC der Glaubensschule, und das …

C. Glauben heißt hinhören, nicht hineinhören

Abraham verlässt Ur, weil er schließlich auch die gefährlichsten Stimmen überwunden hat. Und die kommen nicht von außen, sondern von innen.

Der alte Adam ist immer noch der größte Bremser: Bist du denn sicher, dass du Gott gehört hast? Es gibt fiebrige Erkrankungen, die einem imaginäre Stimmen vorgaukeln. Vielleicht warst du gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe und bist akustischen Einbildungen erlegen? Aber Abraham weiß: Es ist der Herr. Sein Wort ist keine Einbildung. Nachfolger sind hellwache und kerngesunde Leute, die dem Anruf Gottes gehorsam sind.

Dann meldete sich der alte Adam noch einmal: Weißt du denn eigentlich, wohin die Reise geht? Wegen einer Fahrt ins Blaue bricht man nicht alle Brücken hinter sich ab. Jeder hat Anspruch darauf, dass er Auskunft über Weg und Ziel bekommt. Aber Abraham weiß: Es ist des Herrn Weg. Sein Plan liegt fixfertig vor, auch wenn er keine Karteneinsicht bekommt. Glaubende kennen die Melodie: “Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl, das macht mein Herze still und friedevoll.”

Und noch ein letztes Mal meldet sich der alte Adam zu Wort: Ist dir denn klar, dass du schon 75 bist? In solchem Alter macht man keine großen Sprünge mehr. Rentner sind keine Aussteiger und Senioren sind keine Abenteurer. Aber Abraham weiß: Es ist des Herrn Befehl. Glaube ist an kein Lebensalter gebunden. Ob blutjung oder steinalt: Geh, du sollst ein Segen sein. Geh, du kannst ein Segen sein. Geh, du darfst ein Segen sein, weil dich der Herr mit himmlischen Gütern gesegnet hat.

Glauben heißt hinhören, nicht hineinhören.

Liebe Freunde, an einem Sommertag stand ich an der Elbmündung bei Cuxhafen. Mit andern Besuchern beobachtete ich die großen Schiffe, die Kurs auf Hamburg nahmen. Unweit der ersten Markierungsbojen legte sich ein kleines Boot an den Bauch des Ozeanriesen und ein Lotse kletterte über eine Strickleiter an Bord. Dann ereignete sich das, was sich ständig vor jedem Hafen ereignet, dass der Steuermann, der bisher das große Steuerrad in der Hand hat, seine Hände wegnehmen muss, um dem Lotsen Platz zu machen. Beide können sich das Geschäft nicht untereinander aufteilen. Nein, erst wenn der Steuermann seine Hände ganz loslässt, dann hat der Lotse das Steuer in der Hand, dann fährt der Lotse durch schwieriges Gewässer, dann bringt der Lotse das Schiff sicher zum Ziel.

Darum ging es bei Abraham: Er hat nur noch auf den gehört, der in sein Lebensschiff getreten ist, und ihm hat er das Steuer überlassen. Darum geht es bei uns: Nur ihn hören und ans Steuer lassen, denn er bringt durch schwierige Zeiten bis zum letzten Ziel. So einfach ist das mit dem ABC des Glaubens.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]