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Wer kennt nicht Noah, den gehorsamen, gutmütigen und aufrichtigen Noah? Aber kennen wir auch den angefochtenen, ungeduldigen und zweiflerischen Noah? Konrad Eißler lädt ein, mit ihm drei Blicke durchs Fenster der Arche zu werfen, um diesen anderen Noah zu entdecken.


Noah. Noah der Landmann, Noah der Seefahrer, Noah der Stammvater des Menschengeschlechts. Wer kennt nicht Noah, liebe Gemeinde? Im Kindergarten malten wir seine bunte Menagerie. Im Religionsunterricht diskutierten wir seine nautischen Fähigkeiten. Im Kunstband, bei Chagall oder Picasso, entdeckten wir seine Taube mit dem Ölblatt. Noah ist unvergessen.

So ist er uns als gehorsamer Mann bekannt. Weil Gott zu ihm sagte: “Mache dir einen Kast­en!” legte er fernab von jedem Wasser ein Boot auf Kiel. Sein klarer Menschenverstand muss ihm gesagt haben, dass ein Weinbauer kein Schiffbauer und ein Wengert keine Werft ist. Trotzdem baute er bei strahlendem Sonnenschein das seltsamste aller Wasserfahrzeuge, dieses 150 m lange, 25 m breite und 15 m hohe Containerschiff, diesen überdimensionierten Viehstall mit Bug, Heck und Ruder, diese vereinigten Hüttenwerke als Seenotrettungskreuzer. Er schleppte und fugte, er hämmerte und nagelte, er tat alles, was ihm Gott befahl. Noah war ein gehorsamer Mann.

So ist er uns auch als gutmütiger Mann bekannt. Seine Söhne, Sem, Ham und Japhet werden ganz schön über dieses Väterchen gelästert haben, der auf seine alten Tage hin den Aussteiger markiert und auf einmal alternativ leben will. Auch seine Nachbarn werden ganz laut über diese Kauz gelacht haben, der sich urplötzlich vom Meister der Landwirtschaft zum Admiral der Landmarine mausert. Und seine Zeitgenossen werden ganz böse über diesen Spinner gespottet haben, der wohl in Drecklachen den Seeräuber spielen will. Aber Noah zog weder seinen Buben die Hosen stramm, noch legte er sich mit seinen Nachbarn an, noch fuhr er seinen Zeitgenossen über den Mund. Er ertrug dies alles. Noah war ein gutmütiger Mann.

Und so ist er uns nicht zuletzt als aufrichtiger Mann bekannt. Im 6. Kapitel wird ausdrücklich vermerkt: “Er war ein frommer Mann und ohne Tadel zu seinen Zeiten, er wandelte mit Gott.” Der alte holländische Maler hat also die Bibel nachempfunden, wenn er auf seinem Sintflutbild die schwimmende Arche auf der steigenden Flut gemalt hat, umgeben von schreienden, ertrinkenden und schon ertrunkenen Menschen. Oben aber auf dem Verdeck kniet Noah mit gefalteten Händen und ringt mit Gott in heißer Fürbitte für die untergehende Welt. Noah war ein aufrichtiger Mann.

Aber, liebe Gemeinde, kennen wir auch seine andern Seiten, die nicht so recht zum makellosen Glaubenshelden passen? Kennen wir auch seine andern Anlagen, die nicht so steil alle übrigen Glaubensbrüder überragen? Kennen wir auch seine andern Züge, die ihm den Heiligen­schein nehmen und ihn zu dem machen, der ganz nahe bei uns steht? Also kennen wir nicht nur den gehorsamen, gutmütigen und aufrichtigen, sondern auch den angefochtenen, ungeduldigen und zweiflerischen Noah? Der Text lädt uns ein, diesen andern Noah zu entdecken. Dazu blicken wir am besten durchs Fenster, das genau nach Bauplan am Dach der Arche angebracht war.

1. Es ist erstens ein Blick durchs geschlossene Fenster, …

der uns einen angefochtenen Mann zeigt. Damals, als die bunte Crew aus Panther und Löwen, Kamelen und Rhinozerussen, Ziegenböcken und Katzen an Bord waren und plötzlich der große Regen einsetzte, hat er die Luke dicht gemacht. Wohl wusste er, dass ein starker Guss die Erde unter Wasser setzen wird, aber dass tagelang, wochenlang, monatelang Wasserfälle aus den Schleusen des Himmels auf das Schiff trommeln werden, machte ihn betroffen. Der Schwimmstall hob sich, trieb und schaukelte und tanzte wie eine Nussschale zwischen den Wellen: ein paar Kubikmeter Holz inmitten des Nichts. Und das 150 Tage lang. Stürme umtobten sein Boot und durchtobten sein Herz. Noah musste sieh fragen: Hat Gott mich aus den Augen verloren, mich winzigen Punkt inmitten der Wasserwüste? Hat Gott mich aus dem Gedächtnis gestrichen, mich elenden Wurm inmitten des Chaos? Hat Gott mich vergessen?

Der Psalmist hat auch so gefragt: “Ich sage zu meinem Gott: Warum hast du mich vergessen?” Jona hat auch so gefragt: “Ich rief zum Herrn in meiner Angst, warum umgaben mich Wasser der Tiefe?” Viele haben auch so gefragt: “Mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Es braucht also gar keine Sintflut, um diese Anfechtung zu durchleiden. Da gibt es auch andere Güsse, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Da gibt es auch andere Ströme, die einem den Halt und die Haltung nehmen. Da gibt es auch andere Wasser, die einem bis zum Halse stehen. Menschen schwimmen im Meer von Leid und Tränen und Schuld und das jahrelang. Deshalb sagen sie: Hat Gott mich aus den Augen verloren? Deshalb klagen sie: Hat Gott mich aus dem Gedächtnis gestrichen? Deshalb fragen sie: Hat Gott mich vergessen?

Auf diese noahchitische Anfechtung antwortet der Text: “Da gedachte Gott an Noah.” Das heißt nicht, dass er ihm wieder in den Sinn gekommen ist. Er dachte an ihn, als das Fenster verriegelt wurde. Er dachte an ihn, als der Kasten aus Tannenholz Wasser unter den Kiel bekam. Er dachte an ihn, als die Welt in den Fluten versank. Gott hat keine Sekunde den Noah aus dem Blick ge­lassen. In jedem Augenblick war er unter der Aufsicht dieses gut­en Herrn. Noah ist nie vergessen, egal auf welchen Meeren er gerade schwimmt. Dieser Gott ist kein eiskalter Konstrukteur einer Weltmaschine oder ein gewinnsüchtiger Produzent der Ware Mensch, sondern Gott ist ein barmherziger Vater, der den Noah und den Abraham und den David und den Matthäus und den Paulus und dich und mich will. “Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, so will ich doch dein nicht vergessen. Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet.”, sagt dieser Gott. Und seit dieses Wort Fleisch geworden ist und in Jesus Christus zu uns gekommen ist, kann es jeder wissen: Er kennt mich, auch wenn ich schwimme. Er hält mich aus, wenn ich ertrinke. Er liebt mich, auch wenn ich leide.

Gott gedachte an Noah. Gott gedenkt seiner Leute. Gott denkt an mich. Rums!, machte es am Kiel. Bums!, machte es im Stall. Die Arche saß auf dem Ararat fest. Ein Seemann würde fluchen, wenn sein Schiff auf Grund läuft. Noah aber wusste: Das Lehen kann noch einmal beginnen. Trotzdem jubelte er nicht. Schauen wir wieder durchs Fenst­er.

2. Es ist zweitens ein Blick durchs geöffnete Fenster, …

der uns einen ungeduldigen Mann zeigt. Am 17. Tag des 7. Monats - so genau hat der Chronist gearbeitet - also am 17. Juli war die Arche aufgelaufen. Aber keine Rede davon, dass nun die Tür aufsprang und die Falltreppe hinuntergelassen wurde. Wer ersehnte sich nach so viel Stallgeruch keine frische Luft? Aber zehn Wochen lang passierte überhaupt nichts. Zweieinhalb Monate lang hing das Ding an der Bergkuppe. Das Leben in der Enge und Schwüle und Hitze ging weiter. Als am 1. Oktober die ersten Bergkuppen aus den Wassern auftauchten, kam Bewegung in die Mannschaft, aber von Aus­booten war keine Rede. Noch weitere 40 Tage flossen dahin, dann riss Noah der Geduldsfaden: So kann’s doch nicht ewig weitergehen! Mit einem Stoß drückt er die Luke auf. Wie alte Seefahrer, die in Ermanglung von Navigationsinstrumenten und Seekarten Vögel als Kompass benutzten, lässt er einen schwarzen Raben starten, aber er bringt nur rabenschwarze Nachricht: Kein Fleckchen trockene Erde. Das kann doch nicht wahr sein! Das darf doch nicht wahr sein! Das muss doch ein Ende haben! Noah greift nach den weißen Tauben, die er wie lebendige Signale in die Ferne schickt. Aber das erste Tierchen muss er mit liebevoller Hand wieder durchs Fenster zurückholen: keine Aussicht auf Änderung. Das zweite Tierchen bringt ein frisch gebrochenes Ölblatt: nur ein schwacher Hoffnungsschimmer. Das dritte Tierchen bleibt ganz aus: Hochwassergefahr gebannt! Das war am 1. Januar, und Noah hockt immer noch in seinem hölzernen Gefährt wie in einem Gefängnis.

Warten lernen ist schwer, sehr schwer sogar, nicht nur für Noah. Auch eine Mose musste warten, 40 Jahre in der Wüste, bis ihn Gott am Dornbusch zum großen Auszug rief. Auch ein Jakob musste warten, über den Tod hinaus, bis das ersehnte Heil in Jesus eintraf. Auch ein Paulus musste warten, in verschiedenen Polizeigefängnissen, bis er nach Rom kam. Warten ist das Los derer, die von diesem Gott nicht loskommen. Und wenn uns auch der Geduldsfaden reißen will, und wenn uns auch nur rabenschwarze Nachrichten ins Haus flattern, und wenn uns auch die weißen Friedenstauben nicht beruhigen können, dann hören wir auf jene apostolische Mahnung: “Geduld ist euch not, auf dass ihr die Verheißung empfangt.” Gottes Kalender hat eine eigene Zeiteinteilung und Gottes Uhr hat einen eigenen Pendelschlag. Er weiß, wann es Zeit bei uns ist und welche Stunde in unserem Leben geschlagen hat. Auf unser Mitrechnen oder gar Vorrechnen ist er wahrlich nicht angewiesen. So gilt es für alle Lagen, in denen wir rufen: So kann’s doch nicht weitergehen! So gilt’s für alle Situationen, in denen wir schreien: Das muss doch ein Ende haben! So gilt’s für alle Gefängnisse, in denen wir ungeduldig auf Befreiung hoffen: “Wenn die Stunden sich gefunden, bricht die Hilf mit Macht herein. Um dein Grämen zu beschämen, wird es unversehens sein.” Und wenn dies keine Stunde des zeitlichen Lehens mehr ist, dann ist es gewiss eine Stunde des ewigen Lehens, denn der Herr, der die Arche verriegelte, schloss sie auch auf.

Schauen wir ein letztes Mal durchs Fenster:

3. Es ist drittens ein Blick durchs abgerissene Fenster, …

der uns einen zweiflerischen Mann zeigt. Die letzte Wasserstandsmeldung durch die ausgebliebene Taube lautete: Pegel auf Null. Aber Noah stimmte keinen Dankchoral an: “Nun danket alle Gott, mit Herzen Mund und Händen!” Er befahl nicht: “Holt das Beste aus Küche und Kombüse!” Er kommandiert nicht: “Jedem Tier eine Extragabel Futter!” Kein Bordfest wird in Szene gesetzt. Noah dachte: Ob’s wahr ist? Ob’s klar ist? Ob’s stimmt? Erst wenn ich es mit meinen Augen sehe, will ich’s auch glauben. Deshalb riss er das Fenster mitsamt dem Dach ab.

Noah hat viele solche Nachkommen gehabt. Auch ein Thomas bekam die Meldung: Todesgefahr beseitigt. Aber er stimmte keinen Osterchoral an: “Jesus lebt, mit ihm auch ich, Tod wo sind nun deine Schrecken!” Er brach nicht in Freudentränen aus. Er fiel nicht auf die Knie: Kein Osterfest wurde gefeiert. Thomas sagte: “Ob’s wahr ist? Ob’s klar ist? Ob’s stimmt? Ich glaube nur das, was ich sehen kann.” Leben solche Nachkommen unter uns? Die Bibel meldet: Die Katastrophe liegt hinter uns. Eine Sintflut, ein Sintbrand, eine Sintverseuchung wird es so nicht mehr geben. Hoffnung für alle durch Jesus Christus! Aber wir stimmen nichts an, sondern denken: Ob’s stimmt? Zweifel machen uns zu schaffen. Nicht umsonst fügte Jesus an: “Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.” Auch wenn wir keinen Grund sehen, der Grund ist vor­handen. Auch wenn wir keinen Weg sehen, der Weg ist geebnet. Auch wenn wir kein Land sehen, Land ist in Sicht, neues Land, gutes Land, ewiges Land.

Liebe Freunde, wir sind wie von Zukunftsangst geschlagen und Gott sagt: “Ich will hinfort nicht mehr schlagen, was da lebt.” Wir leben wie unter einem Fluch, und Gott sagt: “Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen.” Wir leben in Ängsten und Gott schenkt Gewissheit, den zweiflerischen, ungeduldigen und angefochtenen Geschöpfen, durch Jesus Christus unseren Herrn. Es stimmt schon: “Er hat noch niemals was versehen, in seinem Regiment, nein, was er tut und lässt geschehen, das nimmt ein gutes End.”

Amen.

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]