Ein ungewöhnliches Thema und seine Bedeutung
Ein merkwürdiges Thema für heute Mittag, für unsere Bibelzusammenkunft: Verleugne dich selbst! Merkwürdig, was soll das bedeuten? Man kann sich verleugnen – manche tun das ja. Wenn zum Beispiel jemand an die Glastür kommt, mit dem man nicht sprechen möchte, oder wenn am Telefon gesagt wird: „Halt mir den vom Leib!“ Dann sagen manche Leute: „Sag, ich bin nicht zu sprechen“ oder noch schlimmer: „Ich bin nicht da.“ Das ist Verleugnung.
Aber sich selbst verleugnen – was soll das heißen? So hat es der Herr Jesus gesagt, als er auf dem Weg zu seinem Leiden nach Jerusalem war. Heute ist Sonntag Septuagesima, im Grunde schon der Voranfang der Passionszeit.
In Matthäus 16 spricht Jesus, und es heißt: „Es war zu der Zeit, wie er nach Jerusalem gehen wollte und viel leiden musste von den Ältesten.“ Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Matthäus 16,24: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst.“
Das ist also ganz eng auf die Gemeinschaft mit Jesus bezogen, nicht eine allgemeine Weisheit. Wer zu Jesus gehören will, der soll sich selbst verleugnen.
Es gibt mehr Menschen, als wir ahnen, die darunter leiden, dass sie gar keine Achtung mehr vor sich selbst haben können, die meinen, keinen Selbstwert mehr zu besitzen. Deren Selbstachtung wurde zertreten. Für sie ist es wie ein Peitschenhieb, wenn nun auch Jesus sagt: „Verleugne dich selbst! Nimm dein eigenes Selbst nicht so arg wichtig! Sag, ich bin nicht zu sprechen.“
Aber Jesus will keine Peitschenhiebe austeilen. Es ist gut, dass Jesus das Selbst durchlitten hat und dass uns das berichtet ist.
Das Leiden Jesu und die Herausforderung der Selbstverleugnung
Wie unsagbar schwer es ist zu sagen: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“
Gut, wie es uns über die Szene im Garten berichtet ist: Der gezähmte Vater ist nicht möglich, dass der Kelch von mir geht, aber nicht wie ich will, sondern so, wie du willst. Offenbar ist es dem Herrn Jesus selbst schwergefallen. Er ist Mensch geworden, so sehr, dass er geradezu animalisch am Leben gehangen hat.
Gott, es kann doch nicht sein, dass ich in den Tod hineingehen muss, dass ich so entehrt werde – aber nicht wie ich will. Wer zu mir gehören will, der muss das auch durchmachen.
Wir wissen es etwa vom Apostel Paulus. Da klingt es nach, wie es fast eine unmenschliche Anstrengung und ein Willensentschluss ist: „So lebe ich nun – ach nein, nicht ich! Sondern Christus lebt in mir, nicht ich!“ Sind das überhaupt nötig? Ja, sagt Jesus: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst.
Später taucht der Begriff vom Nachfolgen bei den Aposteln eigentlich gar nicht mehr auf, nur 1. Petrus 2 etwa. Beim Apostel Paulus spielt das Nachfolgen gar keine Rolle mehr, damit es kein Missverständnis gibt.
Bei den Rabbinen hieß Nachfolge: Die Rabbinenjünger folgen einem Lehrmeister nach und hängen an seinen Rockschößen, um jedes Wort mitzubekommen. Nachfolge war eine Informationsgemeinschaft, eine Lehrgemeinschaft.
Nachfolge als Gemeinschaft und Schutz
Bei Jesus ging es um viel mehr. Wie oft habe ich euch versammeln wollen, wie eine Henne, wie eine Glucke ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt. Dabei ging es um weit mehr als nur um Lehre. Es ging um Bergung, um Wärme, um Schutz und Gemeinschaft.
Deshalb haben die Apostel, besonders Paulus, das Wort von der Nachfolge durch einen anderen Begriff ersetzt. Dieser ist schon einmal aufgegangen. Apostel Paulus spricht immer wieder davon, „in Christus sein“. Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. So wie das kleine, bibbernde Küchlein von der Glucke unter den Flügeln beschirmt und gewärmt wird, so ist Jesus gemeint.
Wer zu mir gehören will, der verleugne sich selbst. Es besteht die Gefahr, dass wir sagen: Ich kann ganz gut leben. Wenn ich in Not komme, dann will ich Herrn Jesus anrufen und wieder unter seine Flügel schlüpfen. Aber sonst geht es noch sehr gut allein.
Das ist keine Gemeinschaft. Gemeinschaft ist, wenn man dauernd angewiesen ist auf die Verbundenheit mit ihm. Wer ihm nachfolgen will, wer Gemeinschaft mit ihm haben will, der sage Nein zu sich selbst.
Die Auslegung des Verleugnens bei Paulus
Jetzt denken Sie an die vielen Stellen, an denen der Apostel Paulus dieses Wort auslegt. Bei den Aposteln ist es ja immer so: Sie haben nichts Eigenes erfunden, sondern die Worte Jesu ausgelegt und verständlich gemacht.
In Philipper 2 heißt es: „Ein jeder sei so gesinnt, wie Christus auch war.“ So steht es in der Neuübersetzung, besser noch entspricht es dem Gemeinschaftsverständnis in Christus. Weiter heißt es: „Er entäußerte sich selbst und erniedrigte sich selbst.“ Wenn ihr zu diesem Jesus gehören wollt, der die Herrlichkeit beim Vater aufgegeben hat und nicht an sich gedacht hat, dann muss das auch euer Leben bestimmen.
Wenn ihr ganz nah bei diesem Jesus seid, dann muss das euer Leben prägen. So sagt Paulus es auch in Galater 2: „Nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ Denken Sie daran, wie oft Paulus bei der Auslegung dieses Jesuswortes darauf hinweist, dass schlimme Zeiten kommen werden, in denen böse Menschen sein werden.
Und was nennt er als Erstes? Nicht nur, dass sie alle möglichen Sünden begehen, sondern dass sie viel von sich selbst halten. Wer viel von sich selbst hält, braucht Jesus nicht.
Die Not unserer Zeit und die Herausforderung des Ich
Wir sind in der Vorbereitung auf diese Stunde eingeladen. Ich bedanke mich. Mir ist aufgefallen, dass die Not unserer Zeit in der vielen geistigen und glaubensmäßigen Verwirrung liegt. Letztlich ist es so, dass Menschen viel von sich selbst halten.
So wie ich es sehe, glauben viele, dass nur das richtig ist, was ihnen selbst einleuchtet. Was in ihr Weltbild passt, das können sie auch akzeptieren. Eine Jungfrauengeburt können sie sich nicht so recht vorstellen. Auch die Auferstehung fällt vielen schwer zu glauben. Dass die Bibel Gottes Wort sein soll, können sie sich ebenfalls nicht richtig vorstellen.
Mit meinem armen, umgetriebenen Ich, das so vielen Einflüssen ausgesetzt ist, mit meinem merkwürdigen, verbogenen Ich, meinem subjektiven Ich – ist Ihnen das noch nie passiert? Ich sage zum Beispiel: Ich habe ganz bestimmt heute Morgen den Hausschlüssel abgegeben, und plötzlich merke ich: Ach nein, ich habe ihn doch noch in der Tasche. Wer bin denn ich?
Ich erfahre täglich mehrmals, wie mein eigenes Ich überhaupt nicht verlässlich ist. Und dieses Ich wagt es, zu behaupten, Bescheid zu wissen, ob der Papst Recht hat oder Saddam Hussein. Wir spielen mit, als könnten wir die Weltgeschichte regieren. Wir wählen aus, was uns in der Bibel passt, was uns von Gott passt.
Und das nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch in all den ethischen Fragen. Jeder meint, so leben zu müssen, wie er es vor sich selbst verantworten kann, so wie er nun einmal gebaut ist. Was für ein Götzendienst des Ich ist das, dass unser kleines, schwaches Ich angebetet wird!
Kein Wunder sagt der Herr Jesus: Wer zu mir gehören will, wer mir nachfolgen will, wer unter meinen Flügeln Bergung finden will, der sage nicht „ich“, der verleugne sich selbst.
Warnung vor Selbstüberschätzung und Irrtümern
Bei den Aposteln taucht immer wieder die Mahnung auf, sich nicht für klug zu halten. Besonders der Apostel Paulus betont dies mehrfach. Wer sich selbst für weise hält, wird sich irren. Denn solche Menschen messen sich nur an sich selbst und vergleichen sich mit sich selbst. Sie verstehen nicht, dass niemand tüchtig ist, der sich selbst empfiehlt.
Wichtig ist, dass wir uns nicht an uns selbst, sondern an Jesus orientieren und uns nicht an uns selbst gefallen. Wir leben heute in einer Zeit großer Irrtümer. Was ethisch und moralisch in unserem Land möglich ist, wäre vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen. Hätte uns damals jemand gesagt, dass sich die Dinge so entwickeln, hätten wir gesagt: „Du spinnst!“ Das hätten wir nicht für möglich gehalten.
Auch im Glauben gibt es derzeit heftige Diskussionen. Selbst gebürtige Juden behaupten heute, die Geschichten von Mose und Josua seien nicht wahr. Sie sagen, die Geschichte Israels beginne erst um 600 vor Christus. Vor zehn Jahren hätten wir so etwas noch nicht für möglich gehalten. Unsere Alttestamentler in Tübingen hätten gesagt, das gibt es nicht. Heute herrscht eine grenzenlose Verwirrung.
In dieser Situation besteht die Gefahr, dass wir denken: „Uns kann das nicht passieren, wir bleiben beim Wort Gottes, ich will treu bleiben.“ Doch es ist nicht unsere eigene Treue, auf die wir vertrauen können. Es ist der Herr Jesus, der uns bewahrt hat und für uns gebetet hat – so wie er es für Petrus tat, ohne aufzuhören. Sein Gebet und sein Glaube hören nicht auf.
Die Gefahr besteht, dass wir in dieser Zeit der Verwirrung sagen: „Wir sind die Treuen.“ Dabei haben wir uns an uns selbst gefallen. Doch Jesus sagt: „Wer mir nachfolgen will, der verleugnet sich selbst.“ Er fordert uns auf, nicht so sehr an uns selbst zu denken.
Persönliche Erinnerungen und das Kreisen um das Ich
In unseren Jugendtagen war es in der Familie ziemlich knapp. Vater wurde auf halbes Gehalt gesetzt. Doch einmal im Jahr durften wir am Samstagnachmittag aufs Cannstatter Volksfest gehen. Anders als die Eidlinger Schwestern, die dort Schriften verteilten, durften wir eine Runde mit dem Karussell fahren. Zehn Runden wären mir damals sowieso recht gewesen.
Vielleicht hat mein Vater als Volkswirt auch noch gesagt, dass es vor 15 Uhr um fünf Uhr möglich sei, das zu machen. Wir haben uns das ganze Jahr darauf gefreut und uns schon unterhalten: „Nimmst du das Motorrad? Ich gehe mit der Straßenbahn.“ „Oder eine Feuerwehr, das wäre noch schöner.“
Als wir dann im Karussell saßen und uns drehten, war ich ganz uninteressiert am Motorrad oder am Klingeln der Straßenbahn. Wo waren denn meine Eltern? Sie huschten nur wie schemenhafte Gestalten vorbei. Wir konnten sie bei diesem Drehen gar nicht richtig wahrnehmen und waren froh, als es vorbei war.
„Wo sind sie denn?“ – „Ach ja, da sind wieder die Eltern.“ Nehmen Sie das als Bild: Solange wir nur um uns selbst kreisen, verlieren wir unseren Herrn Jesus aus dem Blick. Manchmal nehmen wir ihn nur flüchtig wahr, wie ein vorbeihuschendes Bild im Gebet oder während einer Andachtsstunde.
Wir wollen wegkommen von diesem Kreisen um uns selbst, damit wir wieder ganz bei ihm sein können. Dafür braucht es eine heilige Entschlossenheit: Herr Jesus, ich bin dein!
Die Bedeutung der Zuordnung zu Jesus
Im oberbergischen Land, in Nümbrecht, war über Jahrzehnte hinweg, sogar sechs Jahrzehnte lang, Jakob Gerhard Engels als Pfarrer tätig. Er ist kurz vor 1900 gestorben und war ein Seelsorger, der dieses Land bis heute prägt.
Er schrieb einmal zu einem Psalmwort aus dem längsten Psalm, Psalm 119: „Ich bin dein“. In diesem langen Psalm steht diese Auslegung. Es geht um Engels – nicht Marx Engels, sondern Jakob Gerhard Engels. Der normale Mensch sagt: „Ich gehöre mir selbst, ich bin mein.“ So denkt, redet und handelt der gewöhnliche Mensch.
Doch es ist die Frucht einer echten Bekehrung, dass sich dieses Denken umkehrt und wahr wird: „Ich bin dein, Herr Jesus.“ Nur dort, wo diese gründliche Veränderung stattfindet, ist die Bekehrung von echter Art. Das „Ich bin mein“ verwandelt sich in das „Ich bin dein, o Herr“.
Es ist kaum in kühnen Träumen auszudenken, was geschieht, wenn das echt ist: „Ich gehöre dir, ich bin dein.“ Jesus hat gesagt, dass es sein kann, dass ihr sogar vor Gerichte geschleppt werdet und einsam vor hasserfüllten Richtern steht. In solchen Momenten müsst ihr euch nicht kampfbereit überlegen, wie ihr euch verteidigt oder was ihr sagen werdet. Denn ihr gehört auch mir. Es wird euch alles zugeteilt, jedes Wort, das er sagt. Ihr braucht euch nicht zu sorgen, denn ich bin da.
Früher habe ich das nicht gewusst. Wenn man dann in schwerer Krankheit ist und besorgt darüber, wie es weitergeht, wird einem plötzlich durch die Nähe Jesu klargemacht: Du brauchst keine Angst zu haben. Was auch immer geschieht, du gehörst nicht dir selbst, nicht deiner Familie, nicht deiner Krankheit, nicht den Ärzten und nicht deinem Körper.
Das Vertrauen auf Jesus und die Verantwortung abgeben
Wie ist das Liedpferd so wichtig geworden? Das ganze Lied von Philipp Friedrich Hiller lautet:
Solange ich hier noch walle,
soll dies mein Seufzen sein:
Ich spreche in jedem Falle,
Herr Jesus, ich bin dein.
Ich gehöre doch ihm.
Dann können Sie die Sorge beiseitelegen, denn der Herr der Welt hat die Verantwortung für Sie übernommen. Der Herr Jesus will uns nicht die Gräten brechen, wenn er sagt: „Der verleugne sich selbst.“ Er will uns nicht das Rückgrat brechen, sondern uns helfen, in eine ganz andere Sicherheit zu kommen.
Diese Sicherheit ist viel größer, als wenn wir sagen: „Ich weiß, dass ich für mich selber einstehen kann. Ich übernehme für mich die Verantwortung.“ Es ist doch viel besser, dass der Herr, der Sohn des Himmels und der Erde, die Verantwortung für mich übernimmt.
Wer wirklich zu Jesus gehören will, sagt er, der lasse sein kleines Ich zurück, übergebe sich ganz ihm, folge ihm nach und verleugne sich selbst. Es wäre doch schade, wenn wir diesen Adel verspielen, indem wir an unserem Selbst festhalten: „Ich gehöre mir, ich weiß, was richtig wäre.“
Das Vorbild von Jakob Gerhard Engels
Dieser Pfarrer Jakob Friedrich Gerhard Engels hat man nach seinem Tod auf seinem Nachttisch einen Zettel gefunden. Darauf stand ein dreißigfaches „Ich will“ aufgeschrieben. Lest hier ein paar Sätze daraus:
„Ich will mich nicht mehr rechtfertigen. Ich will mich nicht mehr vor den Menschen genieren. Ich will keinen Tag vorbeigehen lassen, an dem ich nicht einem Menschen etwas Gutes tue. Ich will nur die Ehre meines Herrn suchen, nicht meine eigene Ehre.
Ich will alle hohen Gedanken über mich für ganz vergänglich, für ganz eitel halten. Ich will nur noch, wenn es ganz nötig ist, politische Urteile abgeben. Bei der Stammtisch-Politisierung kann man sich so arg wichtig nehmen. Wenn es nötig ist, will ich politische Urteile abgeben.
Ich will mich beim Reden und Ermahnen vor nervöser Aufregung hüten. Ich will mich noch mehr beschränken in dem, was ich brauche. Liebe Brüder und Schwestern, das wird in den nächsten Monaten und Jahren wichtig sein und bleiben müssen für uns.
Ich will mich noch mehr beschränken in dem, was ich brauche. Ich will mich darin üben, der Kleinste zu sein. Ich will nur dann eine Sache richtigstellen, wenn es absolut nötig ist. Nicht, um mich selbst groß herauszubringen, sondern damit nichts falsch läuft.
Die heilige Entschlossenheit: Herr Jesus, ich bin dein! Es soll zu einer rechten Gemeinschaft kommen, wie es der Gemeinschaft mit Jesus entspricht. Es stört die Gemeinschaft mit Jesus, wenn wir so sehr an unserem Ich hängen.“
Umgang mit Krankheit und das Loslassen des Ich
Natürlich steckt in uns allen der Wunsch, gesund zu werden, wenn Krankheit kommt. Doch lassen Sie uns stattdessen üben, zu sagen: „Jetzt bin ich gespannt, Herr Jesus, was du mit mir machst.“
Gerhard Terstegen hat ein Lied gedichtet, das im großen Zapfenstreich eine Rolle spielte. Darin heißt es: „Ich bete an die Macht der Liebe“, und es geht weiter mit den Worten: „Ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken.“
Das hat Jesus in seinem Leiden vorgelebt: Nicht „wie ich will“, sondern „wie du willst“. Er dachte nicht an sich selbst, und sein letztes Gebet lautete: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Jetzt übernimm du! Nicht ich, sondern du!
Wir dürfen mit diesem Jesus so verbunden sein, dass wir beginnen, in den Jahren, die uns bleiben, uns darin zu üben, wie es der Gemeinschaft mit Jesus entspricht.
Verantwortung gegenüber dem Nächsten und die Bergpredigt
Ah, ich bin noch nicht am Ende. Sie müssen noch einmal tief Luft holen. Jesus will uns ja auch helfen, nicht nur ihm gerecht zu werden, der Gemeinschaft mit ihm, sondern auch unserem Nächsten, der Gemeinschaft, in der wir stehen. Wir sollen auch dieser gerecht werden.
Jesus hat ja schon in der Bergpredigt den Kampf gegen die Selbstliebe aufgenommen. Ich selbst liebe mich – die Eigenliebe ist eine ganz gewaltige Macht. Ich weiß, was ich will, was ich brauche und was ich von den anderen Menschen eigentlich erwarten kann: von meinen Eltern, von meinen Freunden, vom Lehrer, von der Regierung.
Wir haben alle großartige Vorstellungen davon, was die anderen eigentlich tun sollten, damit es uns wohl ist. Haben Sie das nicht auch? Unsere Ehen, alles nichts, weil mein Mann, meine Frau, die sollten einen Frieden haben, meine Kinder sollten eigentlich so und so sein.
Und Herr Jesus sagt: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen – da ist unsere Phantasie mächtig, was die anderen tun sollen. Wenn ich aus dem Nähkästchen plaudern soll: Die anderen sollen doch freundlich mit mir sein, sie sollen nicht gleich über jedes meiner Worte und Entscheidungen ein unbarmherziges Urteil fällen. Sie sollen nicht so sehr auf meine Ecken und Macken schauen, sondern mich geduldig annehmen, so wie ich bin. Sie sollen mir mit Freundlichkeit entgegenkommen und doch mal fragen, wie es mir wirklich geht.
Genug mal, nicht? Ein riesiger Katalog, was die anderen tun sollen.
Und jetzt sagt Jesus: Jetzt ist alles schön und gut, aber schreibt eine andere Adresse drauf. Nicht, was die euch tun sollen, sondern alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut doch ihnen. Schreibt eure Nächsten drauf, euren Ehegefährten, eure Nachbarn.
Wie viel Streit geht in unseren Wohnanlagen schon los, wenn es um die richtige Sortierung von Restmüll, Pappe, Papier und so weiter geht? Da hat schon wieder jemand etwas falsch reingeworfen. Können die eigentlich nicht aufpassen? Pass ich denn so genau auf, wo der Biermüll hingehört? Fangen wir bei den kleinen Dingen an, nicht ich.
Du sollst deinen Nächsten lieben, wie du dich selbst liebst. Man hat in heutigen Zeiten in der Christenheit daraus gemacht: Du sollst zuerst dich selbst lieben, erst dann kannst du die anderen lieben. Da steht nichts davon.
Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen – Adresse ändern!
Die Ambivalenz des Selbst in Sprache und Leben
So hat Jesus in der Bergpredigt eigentlich mal angefangen, am Gewissen der Menschen zu rühren – wie das mit der Eigenliebe ist, mit der Selbstliebe. Es ist ja eigenartig, dass wir schon in unserer Sprache nicht ganz entschieden sind.
Da gibt es einen ganzen Katalog von sehr großen Werten, die mit dem Selbst zusammenhängen: Selbstlosigkeit, Selbstzucht, Selbstverleugnung. Ich bin selbst erstaunt gewesen, als ich mal zusammengestellt habe: Selbstbeherrschung, Selbstvertrauen, Selbsthilfe – Entwicklungshilfe ist Hilfe zur Selbsthilfe. Großartig sind auch Selbsterkenntnis, Selbstkritik, Selbstaufopferung, Selbstsicherheit, Selbstachtung – toll!
Aber es gibt auch einen Katalog von schrecklich selbstsüchtigen Eigenschaften: Selbstliebe, Selbstbespiegelung, Selbstzufriedenheit, Selbstvergötterung, Selbstzucht, Selbstquälerei, Selbsttäuschung, Selbstlob, Selbstgefälligkeit, Selbstbewusstsein, Selbstbetrug, Selbstüberschätzung. Vielleicht gehört auch dazu Selbstverwirklichung, Selbstfindung. Ich habe mich noch nie selbst gefunden – mein komisches Selbst!
Ich habe mich immer gefreut an dem Gedicht von Bonhoeffer: „Wer bin ich, der du allein weißt, wer ich bin“, nicht? Was ist das für eine wahnsinnige Übersteigerung, dass wir unser Selbst finden könnten!
Aber Sie merken, es gibt positive Werte wie Selbstbeherrschung und Selbstvertrauen – und es gibt negative Werte. Es ist schon bei unserer Sprache so, und Sprache ist doch Ausdruck unseres menschlichen Wesens.
Es kommt mir so vor: Wenn man einen hohlen Zahn hat, macht die Zunge ja dauernd an dem hohlen Zahn herum. Aber man hat noch Angst, zum Zahnarzt zu gehen, bevor der richtige Schmerz kommt, oder? So macht unsere Sprache immer am Selbst herum.
Ist das eigentlich etwas Positives oder etwas Negatives? Ist es selbst ein Schutzmechanismus oder ein furchtbarer Tyrann?
Der schlimmste Tyrann: das eigene Ich
Nach Beginn der Französischen Revolution, also in den Jahren 1793 bis 1795, als die Häupter der Revolution in Paris König Ludwig XVI. den Kopf richteten, wurden Tausende von Adligen verurteilt. In dieser Zeit erging ein Erlass an die Pfarrer im Land, auch an die evangelischen Pfarrer im Elsass. Sie sollten an einem bestimmten Sonntag gegen die Tyrannen predigen.
Man kann sich vorstellen, dass, wenn heute der Oberkirchenrat einen solchen Erlass herausgeben würde, die Hälfte der Pfarrer gegen den Busch und die andere Hälfte gegen Saddam Hussein predigen würde. Damals aber war für alle klar, dass mit den Tyrannen vor allem die Adligen und Könige gemeint waren.
Der Erlass erreichte auch den Pfarrer Oberlin im Steintal. Oberlin hatte viel Gutes für seine armen Bauern getan und gemeinsam mit Louise Schepler den ersten Kindergarten eingerichtet. Am betreffenden Sonntag verlas Oberlin von der Kanzel das Edikt, das zum Predigen gegen die Tyrannen aufforderte.
Er sagte: „Das will ich gerne tun, liebe Gemeinde. Wisst ihr, was der schrecklichste Tyrann ist? Das schlimmste und schrecklichste Tyrann ist mein eigenes Ich. Es will sich immer durchsetzen, seine Lüste befriedigen und immer Recht behalten. Das eigene Ich verursacht Streit in alle Himmelsrichtungen und bringt sich selbst in die Hölle – ich, ich, ich. Das eigene Ich ist der schrecklichste Tyrann.“
Anschließend sprach er von Jesus, der gekommen sei, um auch mit den Tyrannen fertig zu werden, mit den bösen Mächten.
Die Tyrannei des Ich und ihre Folgen
Über dieser Geschichte bin ich ins Nachdenken gekommen, und mir wurde bewusst: Ja, der Papa Oberlin – so haben sie ihn genannt dort im Steintal in der Gemeinde – mein Ich ist geprägt von dem, was ich will. Von dem, was ich mir nicht gefallen lassen darf, worauf ich ein Recht zu haben meine, worauf ich unter keinen Umständen verzichten kann und was ich unbedingt verteidigen muss.
Und doch ist mein kleines Selbst so wehleidig, so ehrsüchtig und voll auf Anerkennung erpicht. Es ist – wir sprechen ja von egoistisch, wie das Wort sagt – so selbstbezogen, ichbezogen und parteilich. Wenn Sie genau nachgehen, bei so vielen Spannungen in Familien und Ehen – na sicher nicht in einer Diakonissenweggemeinschaft, die sind schon halb im Himmel –, aber sonst bei uns normalen Leuten gibt es sehr viel Tyrannei des Ich.
Das darf ich mir eigentlich nicht gefallen lassen. Ich hätte mir das ganz anders vorgestellt, sogar in unserer schönen Gemeinde in Korntal. Ich danke Gott, dass ich im Alter noch einmal in einer solchen Gemeinde zu Hause sein darf. Aber wie viel der Spannungen hängen damit zusammen, dass der eine sagt, ich hätte jetzt ein Modernslied singen lassen sollen, der andere sagt, ich hätte lieber noch einmal einen Choral singen lassen sollen. Oder ich hätte gedacht, dass die Predigt nach 25 Minuten aufhört, der andere hätte gedacht, dass es noch 20 Minuten weitergeht.
Ich, ich, ich! Die Not beginnt nicht erst dort, wo Geld veruntreut wird oder wo Ehen zerbrechen, sondern dort, wo Jesus gesagt hat, dass die Not unseres Selbst so viel Gemeinschaft zerstört. Diese giftige Wurzel, aus der Streit herauswächst.
Das Gebet um Befreiung von der Eigenliebe
Ich habe plötzlich verstanden, warum der Liederdichter Allendorf in seinem großen Lied „Herr, habe Acht auf mich und zieh mich mächtig von allen Dingen“ in einer seiner Strophen so gedichtet hat: „Herr, habe Acht auf mich, töt in mir mächtig!“
Und jetzt, wie geht es weiter? Die Gier! „Töt in mir die schlechte Fantasie, töte in mir den Neid.“
„Er habe Acht auf mich, töt in mir mächtig!“ Und was dann? Die Eigenliebe! „Er habe Acht auf mich, töt in mir mächtig die Eigenliebe!“
Nicht die Wurstigkeit, die Trägheit oder die Unwahrhaftigkeit! Er hat ja nur nachbuchstabiert, was der Herr Jesus gemeint hat: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst.“
Leben in einer Ich-zentrierten Welt und die Hoffnung auf Jesus
Wir können nicht verhindern, dass wir in einer Welt leben, in der das Ich immer mehr götzendienerisch verehrt wird. Im Grunde genommen ist der Geist unserer Zeit ein Fremdwort. Man nennt ihn Pluralismus. Jeder darf leben und denken, wie er will.
Ja, es ist ein Zunder dafür, dass jeder sagt: „Ich sehe es so an.“ Dabei nimmt man kaum noch Rücksicht auf den anderen und darauf, was er denkt. Man hört kaum noch auf den anderen, sondern nur noch auf sich selbst – auf das eigene Ich.
In einer solchen Welt, die sich gegenseitig mit ihrem Ich-Denken kaputtmacht, sollen einige wenige Menschen leben, die unter dem Schatten seiner Flügel geborgen sind. Sie sind bei Jesus wie die Küchlein unter den Flügeln der Glucke. Sie müssen nicht mehr so oft „Ich“ sagen.
Und wenn es über sie kommt – und das geschieht schneller, als wir denken – dann summen sie vor sich hin: „Hm, ich will anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken. Ich will, anstatt an mich zu denken, auch ein Ich sein, das nicht ich sagt, sondern er.“
Ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken. Dass es in dieser Welt ein Ferment gibt, eine kleine Gruppe von Leuten, die eine Ausstrahlung haben: nicht ich, sondern er.
Herr Jesus, hab vielen Dank, dass du das in uns wirken kannst. Du kannst es wirken, auch wenn unser Ich so übermächtig ist. Du bist doch gekommen, um die Mächte der Finsternis zu zerstören und uns in dein Reich hineinzusetzen.
Du kannst auch all das, was wir an Gutem für uns erwarten, von anderen Menschen umkanalisieren, sodass wir es ihnen zuwenden können. So bekommen wir eine ganz neue Einstellung.
Aber vor allem lass es damit anfangen, Herr Jesus: Ich bin dein. Ich möchte wirklich dein Eigen sein – nicht bloß in ein paar Augenblicken, sondern dass das unser Lebenszustand wird.
Ein jeder sei gesinnt, wie es der Gemeinschaft mit dir entspricht. Amen.