Das Himmelreich gleicht einem Weinberg. Schauen wir uns diese Geschichte näher an, ent­decken wir, dass es im Himmelreich Arbeit, Zahltag und Krach gibt. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Was es im Tierreich gibt, wissen wir so ungefähr, liebe Gemeinde. Fische im Wasser, Zwei- bis Tausendfüßler auf dem Land, Vögel al­ler Spannweiten in der Luft. Brehms Tierleben kam uns irgendwann einmal in die Hände. Vom Tierreich haben wir eine Ahnung. Und was es im Pflanzenreich gibt, wissen wir auch so der Spur nach. Blumen auf der Wiese, Gemüsesorten auf dem Acker und Bäume aller Höhen im Wald. Naturkundebücher stehen in unserem Regal. Vom Pflanzenreich haben wir eine Ahnung. Und was es im Märchenreich gibt, wissen wir noch in Umrissen seit Kindheitstagen. Zwerge im Wald, Hexen im Lebkuchenhaus und Riesen aller Stärken in den Bergen. Grimms Märchen prägten unsere Fantasiewelt. Vom Märchenreich haben wir eine Ahnung. Auch mit Königreich, Kaiserreich, Herrscherreich können wir etwas anfangen, aber wissen wir noch vom Himmelreich? Einundzwanzigmal steht dieser Begriff in den Evangelien. Immer wieder taucht er in den großen Reden Jesu auf. Himmelreich ist ein Hauptwort des Neuen Testaments. Jesus meint damit kein Sternenreich, das Lichtmillionen Jahre entfernt zwischen Spiralnebeln existiert. Er meint damit kein Engelreich, in dem lichtvolle Ge­stalten eine unbekannte Ecke des Universums bevölkern. Er meint damit kein Seligenreich, wo frei nach Karl Valentin der Münchner im Himmel sein Hallelujah frohlockt.

Das Himmelreich, genauer das Reich des Himmels, noch genauer die Herrschaft des Himmels durchbrach an Weihnachten die Grenze zwischen sichtbarer und un­sichtbarer Wirklichkeit. In Bethlehem wurde ein Brückenkopf ge­bildet, der sich Stück für Stück vergrößerte und ausbreitete. In Jerusalem, Antiochien, Ephesus, Philippi, Rom entstanden Stützpunkte seiner Macht. Heute gibt es rund um die Erde Operations­basen seiner Herrschaft, wo er als Herr anerkannt und angebetet wird. Und einmal werden alle andern Mächte und Gewalten dieser Übermacht weichen müssen. Das Himmelreich ist das Reich Jesu Christi. Was es darin gibt, darüber setzen uns viele Gleichnisse, sprich Bildgeschichten ins Bild, die immer mit dem gleichen Satz be­ginnen: Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, einem Sauerteig, einem Schatz, einem Netz, oder so wie hier in Matth. 20 einem Weinberg. Schauen wir uns diese Geschichte näher an, dann ent­decken wir, dass es im Himmelreich Arbeit, Zahltag und Krach gibt. Aber gehen wir schön der Reihe nach.

1. Arbeit gibt’s im Weinberg. Er war groß, zu groß, als dass eine Handvoll Leute dies packen könnten. Er war reif, zu reif, als dass man sich gemütlich Zeit lassen könnte. Der Weinberg war zur Lese bereit. Deshalb wurden Arbeiter gesucht. Weil dies durch keine Anzeige in der Hebroner Morgenpost oder durch keine Anfrage im Hebroner Arbeitsamt zu bewerkstelligen war, marschierte der Guts­besitzer in aller Frühe auf den Marktplatz. Dort standen sie, alle mit der gleichen Angst vor dem Morgen, mit der gleichen Furcht vor der Zukunft, mit der gleichen Hoffnung auf bessere Zeiten. Übrig waren sie, nicht benötigt, einfach abgeschoben. Und dieser Herr suchte Leute?! Skeptisch erwarteten sie seine Fragen und Antworten. Wie alt? 70? Zu alt! Wie jung? 16? Zu jung! Was gelernt? Buchhalter? Unbrauchbar! Von Beruf? Metzger? Danke! Vorbestraft? Einmal? Abgelehnt! Aber so verhandelte dieser Mann nicht. Keiner wurde ausgemustert. Niemand wurde abqualifiziert. Jeder in der Runde wurde engagiert: Bei mir gibt’s Arbeit. Im Weinberg sind offene Stellen. Mit einem Silbergroschen seid ihr dabei! Schnell schlugen die Männer ein. Da wurde nicht lange gefeilscht und ge­fackelt. Ab ging’s in den Weinberg. Dasselbe wiederholte sich um 9 Uhr, um 12 Uhr, um 15 Uhr, so sogar um 17 Uhr. Kurz vor Schluss trudelten die Letzten ein. Alle bekamen ihr Winzermesser und Traubeneimer, denn Arbeit gab’s im Weinberg des Herrn.

Immer gibt es dort Arbeit. Die Erde ist groß, zu groß, als dass eine Handvoll Pfarrer und Missionare dies packen könnten. Die Welt ist reif, zu reif, als dass man’s gemütlich angehen lassen könnte. Gottes Wein­berg ist zur Lese bereit. Deshalb werden Arbeiter gesucht. Weil dies durch Zeitungsannoncen und Schaukastenaushänge nicht zu bewerkstelligen ist, kommt dieser Herr persönlich auf den Markt unseres Lebens. Und dort stehen wir doch, alle mit der gleichen Angst vor dem Morgen, mit der gleichen Furcht vor der Zukunft, mit der gleichen blassen Hoffnung auf bessere Zeiten. Viele sind übrig, die Alten unter uns; viele sind nicht benötigt, die mit einer 3 im Abitur; viele sind einfach abgeschoben. Und dieser Gott sucht Leute. Das Alter spielt keine Rolle. Er kennt keine Volljährig­keit und keine Pensionsgrenze. Der Konfirmand ist genauso erwünscht wie der Rentner. Gott sucht Leute. Die Ausbildung ist ohne Bedeut­ung. Er kennt kein Diplom und keinen Doktorgrad. Der Handlanger ist genauso gebraucht wie der Chefarzt. Gott sucht Leute. Das Vor­leben muss einen nicht ewig brandmarken. Er kennt keine Registerauszüge und keine Führungszeugnisse. Vergangenheit kann er be­reinigen. Der Straffällige ist genauso gerufen wie der Gestrauchelte. Gott sucht Leute. Er tut dies in der Frühe des Lebens, wenn Beruf, Heirat und Kinder noch vor einem liegen wie der herauf­ziehende Tag. Er tut dies im Mittag des Lebens, wenn Hitze, Last und Stress einem das Atmen immer schwerer machen. Er tut dies am Abend des Lebens, wenn die Schatten länger werden und die Nacht hereinbricht. Bei ihm ist es nie zu früh, um seine ganze Lebens­kraft ihm zur Verfügung zu stellen. Und bei ihm ist es nie zu spät, um noch einen Dienst für ihn zu übernehmen. Gott sucht Vollzeitarbeiter, Teilzeitarbeiter, Kurzarbeiter, einfach Mitarbeiter, weil’s Arbeit gibt.

Und das Zweite:

2. Zahltag gibt’s im Weinberg. Punkt 18 Uhr schallt es über die Hänge: Feierabend! Messer wurden weggesteckt. Eimer wurden ausgeleert. Butten donnerten auf den Boden. Alles drängte sich Richtung Ausgang. Dort waren schon Tische aufgebaut. Ein Verwalter hatte bereits Geldrollen bereitgelegt. Jeder sollte seinen Silbergrosch­en bekommen. Der Gutsbesitzer war also kein Geizkragen, der seine Leute für ein Butterbrot arbeiten lässt. Er war auch kein Ausbeuter, der sich auf Kosten anderer bereichert. Er war erst recht kein Menschenschinder, der die miese Arbeitslage für sich ausnützte. Ein gerechter und nobler Herr war er, der nie einen Zweifel daran ließ: Geld gibt’s, Lohn gibt’s, Zahltag gibt’s im Weinberg.

“Kurz­arbeiter nach vorn!” rief jemand in der Schlange. Dann drängelte sich eine Gestalt an den Kassentisch, die immer noch den Schrei seiner Kinder in den Ohren hatte: Papa Hunger! Mama Hunger! Was sollte er noch tun? Pflastersteine konnte er doch nicht nach Haus bringen. Überall hatte er nach einem Job gesucht, bis er nach trostlosen Stunden schließlich im Weinberg gelandet war. Und jetzt wurde ihm eine ganze Silbermünze in die Hand gedrückt, die ihm beinahe die Sinne nahm. Er flog die Straße hinunter, rannte in den Bazar hinein, kaufte bei den Straßenhändlern, stürzte nach Hause und kippte alles in die Stube: Brot und Butter, Eier und Käse, Zitronen und Melonen. War das ein Bild! Die Kinder hüpften bis an die Kalkdecke und die Mutter wurde kreidebleich: “Aber Mann, du hast doch nicht…?” “Nein, Frau, alles ehrlich erworben, wenn man so sagen kann. Der Mann, bei dem ich noch jobbte, hat mich so reich belohnt. Bei dem schafft keiner umsonst. Er gibt mehr, als man verdient.” Das ist doch hier ausgedrückt. Gott lässt sich nicht lumpen. In seinem Arbeitsbereich wird nicht für ein Dankeschön gearbeitet. In seinem Arbeitsfeld wird nicht um ein Butterbrot ge­schuftet. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Zahltag gibt’s im Weinberg des Herrn. Uns wird nämlich nicht nur ein Silberstück in die Hand gedrückt, sondern viele Wertstücke in das Herz ge­geben: Liebe, die bei allem Hass um uns herum bleibt, Freude, die uns auch im Leide nicht genommen werden kann, Friede, die unseren Urkonflikt mit Gott bereinigt, Geduld, die uns mit langem Atem für unsere Probleme ausrüstet, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit.

Was für ein Lohn! Wer von uns hat das er­ arbeitet? Wer von uns hat das erwirtschaftet? Wer von uns hat das verdient? Gott sei Dank geht es bei ihm nicht nach der Tariford­nung, sondern nach der Gnadenordnung. Wer nämlich ganz genau hinsieht, der merkt: Das ist ja gar nicht mein Verdienst. Das ist der Stundenlohn Jesu. Die Lohntüten wurden getauscht. Was er unter der Last und Hitze des Karfreitags verdient hat, wird mir gegeben. Ich verstehe Johann Jakob Hambach, wenn er nach dieser Erkenntnis nur noch singen konnte: “Der Herr ist gut und sieht in Gnaden an, den armen Dienst der Knechte, die ihn lieben. Er gibt mehr Lohn, als man erwarten kann, kein kühler Trunk ist unvergolten blieben. Er gibt dafür die ganze Segensflut. Der Herr ist gut.” Zahltag gibt’s - und:

3. Krach gibt’s im Weinberg. Als dem Kurzarbeiter vorne an der Kasse ein Silberstück ausgehändigt wurde, riss hinten ein Ganztags­arbeiter die Arme hoch. Er tanzte wie ein Sieger, klopfte seinen Kumpels auf die Schultern und schrie: “Bravo! Wenn dieser Spät­zünder für eine Stunde ein Silber kriegt, dann kriegen wir 10!” “Aber es war doch nur einer ausgemacht?!” meinte ein Übervorsicht­iger bemerken zu müssen. “Quatsch”, überfuhr ihn der Jubelnde, “wir kriegen bestimmt 10! Die Hälfte liefern wir daheim ab. Mit dem Rest gehen wir einen trinken. So ein Tag, so wunderschön wie heute.” Und dann kam die Bescherung. Jeder bekam ein Silberstück, egal wie lange einer im Weinberg war. Das darf doch nicht wahr sein! Das sind doch keine Methoden! Das ist doch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! “Ruben, du kannst lesen und schreiben. Du musst mit dem alten Herrn Fraktur reden. Du musst ihm unter die Hase reiben, was recht und gerecht ist.” Dann stellen sie sich auf. Der Protestmarsch geht mitten durch den Flecken. Eine handfeste Demo läuft vor dem Gutshof ab. Und dieser Herr antwortet nicht mit Polizeieinsatz, Aussperrung, Arbeitsgerichtsverfahren. Er greift sich den größten Schreier heraus, packt ihn am Rockaufschlag und sagt: “Mein Freund, das ist Gerechtigkeit: Ich habe euch ein Silb­erstück versprochen und das habt ihr. Das ist Freundlichkeit; ich habe euch einen Lohn zugesagt, und den bekamt ihr auch. Das ist Barm­herzigkeit; ich rechne nicht nach Tag und Stunden, sondern immer nach Treue und Hingabe. Warum fangt ihr das Rechnen an? Warum fangt ihr das Messen an? Warum fangt ihr das Vergleichen an? Durch Schielen wird alles schief.”

An diesem Augenleiden krebsen wir alle. Solange das Geld in meine Tasche fließt, ist alles in Ord­nung. Solange der Stundenlohn auf mein Konto überwiesen wird, gibt es keinerlei Schwierigkeiten. Solange die Prämie mir gutgeschrieb­en wird, habe ich nicht die geringsten Bedenken. Ich bin stark im Nehmen und ein paar Zentner Segen sind mir nicht zu viel. Aber wenn mein Kommilitone begabter ist als ich, wenn mein Kamerad ein Glück genießt, von dem ich nur träumen kann, wenn mein Konkurrent große Gewinne einstreicht, die mich vor Neid erblassen lassen, dann versaure ich, dann plagen mich Komplexe, dann wird in jenes alte Lied eingestimmt: Die Güte Gottes hat den Falschen erwischt, weil sie mich nicht erwischt hat. Deshalb werden wir Schieler freundlichst ermahnt: Rechnet nicht! Wer trotzdem rechnen will, rechne seine Sünden zusammen. Messt nicht! Wer trotzdem messen will, der messe seine Verfehlungen und Versäumnisse auf. Vergleicht nicht! Wer trotzdem vergleichen will, der vergleiche seine Taten mit Jesu Wohltaten. Schau doch auf diesen guten Herrn. Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Glaube, dass er dir all deine Sünde vergibt und heilet all deine Gebrechen. Wisse, dass er dein Leben vom Verderben erlöst und doch krönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Denke daran, dass er deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler. Keiner kommt zu kurz. Keiner geht leer aus. Keiner muss mit leeren Händen davonschleichen. Arbeit und Lohn gibt’s im Weinberg, aber Krach muss es nicht mehr geben.

Amen