Einordnung und Bedeutung des Pietismus
Wer sich noch daran erinnert, was ich ja hoffe: Der Pietismus lässt sich zeitlich ungefähr von Mitte des siebzehnten bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einordnen, also etwa von 1650 bis 1750.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der Pietismus eine Art Gegenbewegung oder Reformbewegung zur bereits etwas traditionalisierten Reformation war. Die Frömmigkeit, die wir im Pietismus finden, gab es zwar auch schon bei früheren Generationen, doch sie hat sich in dieser Zeit ganz besonders ausgeprägt.
Der Pietismus stand etwa drei Generationen lang in voller Blüte. Angefangen bei Philipp Jakob Spener, den wir zuletzt betrachtet haben und der gemeinhin als Gründer des Pietismus gilt, über August Hermann Francke, unter dessen Einfluss sich der Pietismus besonders entfaltete und viele andere Menschen beeinflusste, bis hin zu Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Letzterer gilt als ein individuelles Original, doch zu seiner Zeit geriet der Pietismus bereits in eine gewisse Krise. Das werden wir später noch genauer anschauen.
Jetzt befinden wir uns sozusagen auf dem Höhepunkt des Pietismus. Dieser hat eine besondere Bedeutung, weil er die späteren Freikirchen sowie auch die landeskirchlichen Gemeinschaften stark in Theologie und Geschichte geprägt hat. Deshalb werden uns manche der Ideen, die wir bereits beim letzten Mal gesehen haben, sowie einige neue, bekannt vorkommen. Es ist gut zu erkennen, dass diese nicht von unserer Gemeinde oder Gemeinschaft erfunden wurden, sondern seit Jahrhunderten in christlichen Kreisen praktiziert und vielleicht nur leicht verändert worden sind.
Beim letzten Mal hatte ich zum Beispiel eine Liste an die Wand geworfen, auf der einige Merkmale genannt wurden, die typisch für den Pietismus sind. Besonders hervorzuheben sind dabei die Collegia Pietatis, das heißt heute würden wir Bibelkreise sagen. Diese fanden losgelöst vom Gottesdienst statt. Man könnte sie auch als Bibellesekreise oder Hauskreise bezeichnen.
Das Besondere daran war, dass Frauen erstmals überhaupt daran teilnehmen durften. Nicht nur ausgebildete Theologen, sondern auch Laien konnten mitwirken – und eben auch Frauen. Zudem gewann die Bedeutung der Bekehrung und der Wiedergeburt an Gewicht. Diese wurde nicht mehr nur in der Taufe lokalisiert, sondern als ein Erleben des einzelnen Menschen verstanden. Das war etwas Neues, was bereits Spener betonte.
Die Dreiteilung der Wiedergeburt und die Bedeutung der Heiligung
Ich habe bereits gesagt, dass nach Späna die Wiedergeburt aus drei Teilen besteht. Der erste Teil ist die Kindertaufe, bei der Gott dem Menschen seine Gnade mitteilt. Der zweite Teil ist die bewusste Bekehrung des Menschen. Diese erfolgt, sobald er sich seiner Sündigkeit selbst bewusst wird und diese willentlich annimmt. Die dritte Phase ist die Heiligung, das heißt, dass der Mensch kontinuierlich mit Gott lebt und immer mehr Jesus ähnlich wird.
Diese drei Phasen zusammen bezeichnet Späna als die eigentliche biblische Wiedergeburt. Man könne sie nicht voneinander trennen. Das ist eine Neuerung, die in die evangelische Kirche eingeflossen ist.
Was wir dadurch auch bemerkt haben, ist das außergewöhnliche Betonen der Heiligung, also des christlichen Lebens. Ich habe beim letzten Mal darauf hingewiesen, dass es im Pietismus typische Gemälde gab – und zum Teil bis heute noch gibt – mit den Titeln „Der Weg zum Himmel“ und „Der Weg in die Hölle“. Daraus ergibt sich ein deutlicher ethischer Appell: Lebe entsprechend, wie du als Christ sein solltest. Dieses Leben muss übereinstimmen.
Wenn du also nur einfach Kirchenmitglied bist, dich aber in Tanzhallen vergnügst – damals war das so üblich, heute würde man eher Diskotheken sagen – dann könnte es sein, dass du deinen Glauben nicht ernst nimmst. In diesem Fall bist du möglicherweise auf dem direkten Weg in die Verdammnis.
Das haben wir schon bei Spener gesehen. Er betont noch relativ stark, dass er Mitglied der Kirche ist. Die späteren Pietisten tun das auch, aber nicht mehr ganz so deutlich. Vielleicht liegt das daran, dass sich diese Bewegung erst einmal etablieren und rechtfertigen musste und Angriffen ausgesetzt war.
August Hermann Francke: Biografie und frühe Jahre
Und nun kommen wir zu der zweiten Person, die ich wahrscheinlich am beeindruckendsten im Pietismus finde: August Hermann Francke. Er lebte von 1663 bis 1727, also genau in der Mitte der Pietismus-Bewegung.
Sein Großvater stammte aus der Gegend von Thüringen, wanderte nach Lübeck aus und ließ sich dort als Bäcker nieder. Sein Vater schlug eine juristische Laufbahn ein und wurde nach Gotha berufen, an den Hof von Herzog Ernst dem Frommen. Dieser Herzog hatte bereits einige Reformideen, unter anderem förderte er stark die Volksschule. Gotha gehörte damals zu Sachsen, das in mehrere Gebiete aufgeteilt war. Franckes Vater war Rechtsberater des Herzogs, starb jedoch relativ früh. Deshalb wuchs Francke zunächst bei seiner Mutter auf.
Solange der Vater lebte, erhielt Francke Hausunterricht. Später war das nicht mehr möglich. Einige wohlhabende Bürgerfamilien schlossen sich zusammen und stellten einen gemeinsamen Lehrer ein. Später besuchte Francke das öffentliche Gymnasium in Gotha. Dieses Gymnasium war stark von den Reformplänen Ernst des Frommen geprägt, der auch Ideen von Comenius, einem anderen evangelischen christlichen Pädagogen jener Zeit, übernommen hatte. Einige der Ideen, die später in Franckes eigenen Schulen auftauchen sollten, finden sich schon in der Reformschule von Gotha. Man kann hier also eine gewisse Kontinuität erkennen. Francke baute diese Ideen jedoch noch viel detaillierter aus und brachte zahlreiche weitere Einzelheiten ein. Wahrscheinlich nahm er einige dieser Ansätze aus seiner Kindheit mit.
Schließlich begann er sein Studium in Leipzig, damals eine bedeutende und wichtige Universität. Zunächst absolvierte er ein Grundstudium, das Fächer wie Philosophie, Rhetorik und Geschichte umfasste. Anschließend studierte er Theologie. Wirtschaftlich hatte er keine großen Probleme, da seine Familie, vor allem mütterlicherseits, relativ wohlhabend war. Es gab ein Familienstipendium, das ihm zugesprochen wurde und unter der Verwaltung seines Onkels stand, einem Mann namens Gloxin.
Francke musste seinem Onkel regelmäßig Berichte über den Fortschritt seines Studiums und seine Erfahrungen schreiben. Daraufhin wurde das Studium in den folgenden Semestern weiter finanziert.
Der Glaubenszweifel und die Bekehrung Franckes
Übrigens, ein Bild haben wir schon. Also, das wurde dann immer weiter finanziert. In dieser Zeit setzte er sich mit den damaligen theologischen Einflüssen auseinander. Übrigens geschah das bei ihm zu Hause. Sein Vater war durchaus offen für pietistische Einflüsse und las Erbauungsschriftsteller, die ich das letzte Mal vorgestellt habe, wie Arndt zum Beispiel. Dafür war er offen.
Franke berichtet im Nachhinein, dass er gerade in der Zeit der Universität sehr erfolgreich war. Er war klug, konnte die Sachen schnell lernen und aufnehmen. Insofern träumte er von der Karriere eines großen Wissenschaftlers. Das blieb über lange Zeit so, was nicht heißt, dass er sich nicht als fromm betrachtete. Er war durchaus fromm, gläubig würden wir heute auch sagen, aber das drang bei ihm nicht so ganz durch. Es war mehr eine Art Kirchenfrömmigkeit, so würden wir das vielleicht sagen, aber nicht eine, die ihn persönlich getroffen hat.
In dieser Zeit wurde er von seinem Onkel aufgefordert, nach Lüneburg zu gehen. Dort sollte er sich bei einem Pfarrer stärker der Predigtlehre und der Predigtpraxis widmen. Während dieser Vorbereitung stieß er auf verschiedene Bibeltexte, insbesondere eine Stelle aus dem Johannesevangelium, die ihm deutlich machte, worum es ging.
Es handelt sich um Johannes 20, Vers 31. Dort stellte er sich die Frage: Habe ich überhaupt diesen rettenden Glauben? Es geht um den rettenden Glauben, also um die Gewissheit, in Jesus Christus zu sein. Er fragt sich: Ja, also drücke ich hier drauf? Ja? Und jetzt ist schon das Erste da? Ja, nein, noch nicht? So, gut.
Das ist eben der August Hermann Francke, hier schon im fortgeschrittenen Alter, als Pfarrer später. Er war jetzt als Student in Lüneburg und sollte dort predigen. Über dieser Bibelstelle aus dem Johannesevangelium, wo es um wahren und rettenden Glauben geht, stellt er sich die Frage: Bin ich jetzt überhaupt gläubig oder nicht?
Er berichtet später auch darüber, dass er in ganz prinzipielle Zweifel hineingekommen war. Diese führten ihn zu Fragen wie: Ist die Bibel überhaupt wahr? Oder vielleicht der Koran der Muslime? Über viele andere Religionen wusste man damals in Europa noch nicht Bescheid. Schließlich kam sogar die Frage: Gibt es überhaupt einen Gott? Grundsätzlich geriet sein Glaube stark in Frage. Das ganze akademische Wissen half ihm in dieser Situation nicht mehr weiter.
Es wird berichtet, dass dies über mehrere Tage ging. Einige Freunde, Studienkollegen und auch der Pfarrer, bei dem er war, versuchten, mit ihm Gespräche zu führen. Sie merkten, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Doch er blockte das Ganze ab und wollte damit nichts zu tun haben. Er überlegte sogar, die Predigt abzusagen und sein Studium aufzugeben.
Dann, in der Nacht ein paar Tage bevor er die Predigt halten sollte – das berichtet er – hatte er einen Durchbruch, einen Glaubensdurchbruch. Er beschreibt das so, als wäre es wie eine Hand, die man umwendet. Damit will er sagen, dass es so schnell geschah. So plötzlich bekam er eine innere Gewissheit seines Heils. Er hatte auch die Gewissheit, dass es Gott gibt, dass die Bibel wahr ist und dass er auf dem richtigen Weg ist.
Daraufhin will er hinweisen, dass er diesen Moment eigentlich als eine Bekehrung ansieht. Später wird er sich noch einige Gedanken darüber machen und äußern, dass seiner Meinung nach jeder Christ sich an eine solche Phase der Bekehrung erinnern müsse. Dort müsse ihm ganz deutlich seine Schuldigkeit, seine Sündigkeit und die Entfernung von Gott vor Augen stehen. Und er müsse in einer Hinwendung zu Gott die Gnade und Vergebung Gottes erfahren.
Bei ihm war das auch ein emotionaler Prozess. Dort, wo er sich später darüber äußert, weist er aber auch darauf hin, dass es bei manchen ein länger währender Prozess ist – also nicht von einer Minute auf die andere. Das ist eigentlich sein Ideal. Das führt in manchen pietistischen Kreisen dazu, dass man diese Bekehrung, also die datierbare Bekehrung, am besten für IHS kennt. Man weiß Tag und Stunde. Aber das Minimum, was man wissen sollte, ist zumindest das Jahr.
So sagt Herr Francke, und dass das eine ganz außerordentlich hohe Bedeutung hat. Das ist wahrscheinlich auch in den meisten Gemeinden, die wir besuchen, der Fall. Vorher wurde das nicht ganz so stark betont. Die Leute sind zum Glauben willkommen, manche hätten nie genau gewusst, wann oder wie. Aber sie haben die Vergebung von Jesus Christus in Anspruch genommen.
Diese Stärke ist festlegbar und möglichst auch datierbar. Das ist der Ausgangspunkt des geistlichen Lebens, auf den man sich immer wieder zurückberufen kann.
Wandel und Engagement Franckes in Leipzig und Erfurt
Franke erlebte eine tiefgreifende Veränderung und wurde später auch von anderen dazu aufgefordert und predigte darüber, dass die Menschen dies haben müssten. Nun änderte sich grundsätzlich alles. Bei ihm war wirklich eine Veränderung spürbar. Es lag ihm nicht mehr daran, der große Theologe zu werden. Früher war das sein Traum: ein anerkannter Professor und großer Theologe zu sein. Das war jetzt nicht mehr so stark der Fall.
Er besuchte einen Studienkollegen in Hamburg. Dort ging er auch an die Universität und lernte insbesondere Hebräisch. Einige der bekanntesten Dozenten für Hebräisch lehrten damals in Hamburg, bei denen er lernte. Was er dort aber auch tat, war, an einer Armen Schule zu unterrichten, um den Jugendlichen dort weiterzuhelfen. Das gab es damals relativ wenig, aber er sammelte erste Erfahrungen, die später Einfluss auf seine Schulgründung und seine weitere Arbeit hatten.
Als er dann wieder zurück nach Leipzig kam, gründete er ein Collegium philobiblicum, so nannte er es. Das bedeutet auf Deutsch einfach „Kollegium“, also die Gemeinschaft derer, die die Bibel lieben. Anfangs gehörten nur Theologen dazu. Andere Leute hätten sich dafür wahrscheinlich wenig erwärmen können, denn das sollte insbesondere auch Studienzwecken dienen, aber nicht nur. Man las auf Hebräisch einen Text aus dem Alten Testament und legte ihn vorzugsweise auf Lateinisch aus. Danach las man einen Text aus dem Neuen Testament auf Griechisch und legte ihn ebenfalls auf Lateinisch aus.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass damals an der Universität Latein gesprochen wurde. Die Studenten konnten das fließend. Nun wollte man natürlich auch die Bibel in den Originalsprachen lesen. Dass bei einer solchen Zusammenkunft nicht unbedingt Handwerker von der Straße dabei waren, ist naheliegend, denn sie hätten sowieso kein Wort verstanden.
In dieser Zeit gab es auch eine erste Begegnung mit Spener. Spener hörte von Franke, der Freunde an der Universität in Leipzig hatte, und er erfuhr, dass Franke eine Bekehrung erlebt hatte und nun wirklich versuchte, fromm zu leben. Sie nahmen Kontakt miteinander auf. Das Collegium philobiblicum wurde insofern verändert, dass die Diskussionen nun auf Deutsch stattfanden.
Das führte dazu, dass innerhalb kurzer Zeit wirklich Leute von der Straße kamen, die am Glauben interessiert waren und an diesen Treffen teilnahmen. Das löste eine gewisse Unruhe in Leipzig aus, die man in dieser Zeit immer hatte, wenn Laien sich zu sehr mit dem Glauben beschäftigten. Es stand sofort der Verdacht von Irrlehre im Raum. Man fragte sich, wie die ohne Ausbildung alleine in der Bibel lesen und sie hoffentlich auch richtig verstehen konnten.
In der Zwischenzeit hatte Franke auch seinen Studienabschluss als Magister der Theologie hinter sich gebracht. Ab diesem Zeitpunkt war es an der Universität möglich, eigene Kollegien zu halten, also von der Universität anerkannte Lehrveranstaltungen. Das tat Franke dann auch. Sein Spezialgebiet waren insbesondere die orientalischen Sprachen, so nannte man das damals, also Griechisch und Hebräisch, aber auch einige andere wie Arkadisch und Ugaritisch, die es damals gab. Besonders aber Griechisch und Hebräisch.
Er bot Vorlesungen und Seminare an, die sehr praxisbezogen waren und von den Studenten gerne besucht wurden. Hier entstand eine Front gegen Franke und seine Freunde. Er lernte in dieser Zeit auch einige seiner späteren Mitarbeiter kennen, die an diesen Treffen teilnahmen.
Man muss wissen, dass diese Kollegien damals eine wesentliche Gehaltsgrundlage der Professoren waren. Die Universität zahlte den Professoren nur ein relativ geringes Gehalt. Die Studenten zahlten speziell für den Besuch dieser Kollegien. Der Widerstand gegen Franke war somit nicht nur theologischer, sondern auch ökonomischer Natur.
Man stelle sich vor: Ein junger Dozent begeistert die Studenten, die seine Veranstaltungen besuchen. Das bedeutet gleichzeitig finanzielle Einbußen für die etablierten Professoren an der Universität. Das lässt sich kaum trennen.
Zuerst kam Kritik in der Öffentlichkeit. Es wurde gesagt, was Franke lehrte, stehe nicht im Einklang mit der lutherischen Kirche und könne so nicht vertreten werden. Er forderte dann heraus, dass man ihm das belegen solle. Das konnte man nicht. So kam der Vorwurf auf, in Leipzig seien das Pietisten.
Es gab einen Poetikprofessor namens Fella, der ein Gedicht schrieb, in dem der Begriff „Pietismus“ vorkam. Franke fühlte sich dieser Bewegung zugehörig. Hier entstand der Begriff Pietismus als Bezeichnung für eine Gruppe von Menschen, die frömmer sein wollten als die normale Gemeinde, als die normale Kirchgemeinde.
Vor Spener gab es diesen Begriff noch nicht. Es gab diese Frömmigkeit, aber sie war noch nicht so gefasst, weil Spener sehr zurückhaltend und defensiv war. Franke hingegen hatte die Persönlichkeit, Erkenntnisse nach außen zu tragen. Er war kein Diplomat, sondern versuchte, das durchzusetzen, was ihm wichtig wurde. Er predigte offen für diese neue Frömmigkeit, forderte zur Bekehrung auf und verlangte, sich ethisch und moralisch richtig zu verhalten.
Das führte dazu, dass er innerhalb kurzer Zeit aus der Stadt vertrieben wurde. Das war im Jahr 1690. Danach ging er nach Erfurt. Dort wurde er unter anderem durch die Vermittlung von Spener als Pfarrer angestellt.
In Erfurt hatte er relativ viel Erfolg. Schon nach kurzer Zeit kamen mehr Leute zur Gemeinde, sogar aus Nachbargemeinden, um ihn predigen zu hören. Die Kinder waren von ihm so angesprochen, dass sie nach dem Gottesdienst Predigtnachgespräche mit ihm forderten, die er auch abhielt.
Das rief den Argwohn der anderen Prediger hervor. Sie fragten, was er da tue, das sei außerhalb des Gottesdienstes und gehe nicht. Es seien ja nur Kinder, so argumentierten sie. Wieder entstand ein Widerspruch.
Die Gegner holten alle möglichen Gutachten ein, unter anderem wandten sie sich an die Universität Leipzig, die beurteilen sollte, ob Franke rechtgläubig sei. Die Antwort war kritisch. Man wollte mit Franke nichts zu tun haben.
Es kam die Forderung, gegen ihn vorzugehen, ihm Vorschriften zu machen und ihm zu verbieten, die Collegia Pietatis, die Bibelkreise, durchzuführen. Auch sollten ihm Treffen mit den Kindern verboten werden.
Franke war in dieser Situation wenig kompromissbereit. Er wusste, sich nichts vorzuwerfen. Der Rat der Stadt Erfurt ging gegen ihn vor. Es gab verschiedene Petitionen, die sich für ihn einsetzten, etwa von Teilen der Pfarrerschaft. Auch Kinder und manche Gemeindeglieder schrieben an den Rat und baten darum, Franke zu lassen, da er ein guter Pfarrer sei.
Zwischendurch kam es zu weiteren Auseinandersetzungen. Franke forderte die Leute auf, die Bibel zu lesen. Da viele keine Bibel hatten, bestellte er eine ganze Wagenladung Bibeln und verteilte sie.
Nachdem das mehrfach geschah, wurden diese Sendungen von der Zensurbehörde durchsucht, da man befürchtete, zwielichtige Schriften könnten enthalten sein. Man fand natürlich nur Bibeln. Es war schwer zu verbieten, dass ein Pfarrer Bibeln weitergab, also ließ man es geschehen.
Doch es kam, wie es kommen musste: Franke wurde schließlich auch aus Erfurt vertrieben und seines Amtes enthoben. Einige Pfarrer, die eng mit ihm zusammengearbeitet hatten, wie Pfarrer Breithaupt, mussten wenig später ebenfalls gehen. Breithaupt durfte nicht einmal eine Abschiedspredigt halten, weil man ihn für einen gefährlichen Pietisten hielt.
Später trafen sich Franke und Breithaupt wieder, da beide Professoren an der Universität Halle wurden.
Franke hingegen ging zunächst nach Ruota, um seine Mutter zu besuchen, und dann nach Berlin, wo er Spener besuchte, zu dem er inzwischen guten Kontakt hatte. Spener war dort im Konsistorium und Propst und spielte eine wichtige Rolle in der lutherischen Kirche in Brandenburg, damals noch Kurfürstentum Brandenburg.
Spener erkannte Frankes Talent. Er war zwar direkter, als Spener es lieb war, aber er sah seine Begabung und wollte ihm helfen, eine Stelle zu bekommen. Er vermittelte ihm in Berlin Predigtgelegenheiten, wo Franke auch führende Minister der brandenburgischen Regierung kennenlernte.
In dieser Zeit suchte man gerade nach dem Aufbau einer weiteren theologischen Fakultät, die ein Gegengewicht zur Fakultät in Wittenberg bilden sollte. Die Wittenberger Fakultät, wo Luther ursprünglich herkam, vertrat die typische Lehre der lutherischen Orthodoxie.
Diese Lehre war sehr dogmatisch genau, in vielen Dingen durchaus positiv, aber das lebendige Pietismus fehlte. Der damalige brandenburgische Hof tendierte stärker zur reformierten Reformation, also nach Calvin und Zwingli.
Dadurch gab es manchmal Spannungen und Kritik zwischen der lutherischen Kirche und dem reformierten Kurfürsten. Man hoffte, dies durch die Gründung einer neuen Reformuniversität schlichten und die Parteien näher zusammenbringen zu können.
Diese neue Universität sollte die Universität in Halle sein. Auf der Karte betrachtet liegt Halle gar nicht so weit von Leipzig entfernt. Es hätte also nicht unbedingt sein müssen, dass man Franke dorthin schickte, denn es gab damals nicht viele Universitäten. Aber bewusst wollte man diesem Ziel entgegenwirken.
Franke passte gut zu diesem Ansatz, denn er war nicht typisch lutherisch orthodox. Es machte ihm nichts aus, ob man reformiert oder lutherisch war. Hauptsache, man war bekehrt.
So bot man ihm eine Stelle als Professor für altorientalische Sprachen an der neuen Universität Halle an. Das war die erste Professur, die er dort erhielt.
Während dieser Zeit hörte sich der Kurfürst selbst einmal eine Predigt von Franke an und war durchaus zufrieden. Franke wurde berufen und nach Halle geschickt.
Diese Stelle war allerdings nur eine Teilzeitstelle, da die Universität im Aufbau war. Die andere Aufgabe, die er dort erhielt, war eine Pfarrstelle in Glaucha.
Die Herausforderungen und Reformen in Glaucher
Glaucher war damals ein Vorort außerhalb der Tore Halles, und zwar ein Vorort mit einem relativ schlechten Ruf. Das hing damit zusammen, dass diese Stadt zunächst Eigentum des Bischofs gewesen war in der vorreformatorischen Zeit. Sie wurde mehrfach verpfändet. Um wirtschaftlichen Aufschwung zu erzielen, erhielt man das Recht, Brandwein zu brennen und auszuschenken. Das waren sonst eher Fischer und Bauern, die auf diese Weise ein zusätzliches Einkommen erzielen wollten.
Dies führte dazu, dass sich dieser Industriezweig stark entwickelte. In der Gegend entstanden zahlreiche Kneipen und Schnapsbrennereien. In der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, der unmittelbar bevorstand, starb ein großer Teil der Bevölkerung in Glaucher. Da die Stadt keine Mauern hatte und somit nicht geschützt war, wurden viele Menschen getötet.
Hinzu kam in den 1680er Jahren eine Pestwelle, die einen weiteren großen Teil der Bevölkerung dahinraffte. Die Überlebenden waren nun sehr fatalistisch eingestellt und hatten keine große Perspektive mehr. Manche Häuser verfielen. Franke berichtet, dass, als er dort ankam, in jedem dritten bis vierten Haus entweder eine Schnapsbrennerei oder eine Kneipe war. Schon am Morgen lagen Betrunkene auf der Straße.
Seine Vorgänger im Amt waren entfernt worden: Einer wegen fortgesetzter Trunkenheit, sein direkter Vorgänger wegen unmoralischen Verhaltens im Dienst. Letzterer hatte sich an eine verheiratete Frau herangemacht und wurde deshalb entlassen. Die moralischen und ethischen Voraussetzungen in der Gemeinde waren also nicht gerade die besten.
Viele kamen nicht zum Gottesdienst; das Interesse der Leute war gering. Diejenigen, die in Halle feiern wollten, gingen dann nach Glaucher. Glaucher war sozusagen ein Vergnügungsvorort von Halle. Das zeigt etwas von der Mentalität der Bevölkerung. Es waren keine Gelehrten, keine Reichen oder sonstige Honoratioren.
An diesen Ort wurde Franke versetzt. Er kam dort an, begann zu predigen und versuchte, die Leute zur Umkehr zu bewegen. Er schrieb auch das sogenannte glaucharsche Gedenkbüchlein, das später bekannt wurde. Dieses verfasste er für seine Gemeindeglieder und ließ es dort verteilen. Darin gab er Hinweise, wie der Hausvater als geistliches Vorbild seine Familie anleiten sollte, sich um die Kinder kümmern sollte und Ähnliches.
Er setzte sich außerdem für eine Reform des Armenwesens ein. Die Versorgung der Bettler war damals nicht klar geregelt. Franke führte ein System ein, bei dem es einen festen Tag in der Woche gab, an dem die Bedürftigen zum Pfarrhaus kommen konnten, um dort zu essen und zu trinken oder, wenn nötig, Geld zu erhalten.
Für diese Unterstützung wurde gesammelt, und zwar in solchen Armenbüchsen, wie sie hier abgebildet sind. Diese wurden unter Handwerkern und Bauern herumgereicht, die Geld einlegen konnten. Damit wollte Franke einen Missbrauch des Bettelns einschränken. Denn Bettler konnten überall herumziehen und betteln, aber hier sollte nur denen geholfen werden, die wirklich arm und bedürftig waren.
Zur besseren Kontrolle wurde ein Buch geführt. Für Franke war von Anfang an klar: Wer Mittel zur Unterstützung erhalten wollte, musste sich vorher eine Predigt anhören. Das bedeutete, dass diejenigen, die kamen, um zu betteln oder Essen und Trinken zu bekommen, zunächst ins Pfarrhaus gerufen wurden. Dort wurde eine Predigt gehalten. Danach gab es Essen, Trinken, Übernachtungsmöglichkeiten oder, wenn unbedingt nötig, Geld, Medikamente oder ähnliche Hilfen.
Diese Reform des Armenwesens wurde später auch von der Stadt Halle und einigen anderen Städten übernommen. Sie lief also gut und zeigt, wie sinnvoll es ist, solche Hilfen systematisch zu organisieren.
Die Gründung der Abendschule und des Waisenhauses
Eine andere Sache, die ihm sehr am Herzen lag und durch die er bis heute kirchengeschichtlich am meisten in Erinnerung geblieben ist, war sein Engagement für die Verbesserung des Lebens der Menschen in Glaucha. Er hatte sich Gedanken gemacht, wie man das Leben der Menschen im Glauben grundsätzlich verändern könnte. Bald merkte er, dass dies allein durch Predigten kaum möglich ist. Die meisten Menschen sind schon so festgelegt in ihrem Leben, dass sich wenig verändert. Sie haben sich daran gewöhnt, sich zu betrinken, nicht mehr regelmäßig zu arbeiten und so weiter. Da kann man noch so sehr ermutigen, das bringt nicht viel.
Seine Überlegung war daher, dass man versuchen müsste, die nächste Generation so aufzuziehen, dass sie grundsätzlich anders lebt. Dabei hatte er einen Gedanken: Die nächste Generation in Glaucha hat ihren Lebensweg eigentlich schon vorgezeichnet. Die Eltern haben kein Geld, die Kinder besuchen keine Schule, Arbeit haben sie auch nicht. Was machen selbst die kleinen Kinder? Sie betrinken sich ebenfalls. Und das würde sich im weiteren Leben fortsetzen.
Deshalb sagt er, dass es vor allem Erziehung der Kinder braucht, eine Abendschule. Später nennt sich das auch Waisenhaus. Das hängt besonders damit zusammen, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg und der Pestwelle viele Kinder Waisen sind. Das heißt, sie leben nur noch bei entfernten Verwandten, Onkeln und Tanten, oder sie wohnen auf der Straße. Um diese Kinder will er sich besonders kümmern. Er lädt sie ins Pfarrhaus ein und erteilt ihnen Unterricht. Dafür schafft er auch einige Bücher an.
Bevor ich weiterspreche, muss ich noch etwas vorwegnehmen, was mit einer Büchse zu tun hat. Er überlegt sich, wie er das Ganze finanzieren kann. Dann stellt er in seinem Amtszimmer eine Büchse auf. Diese soll so ähnlich aussehen wie die hier, oben mit einem Schlitz, auf dem „Bibelferst“ steht – eine Aufforderung, den Armen zu helfen. Dort werden kleinere Summen eingelegt. Einmal kommt eine Summe von vier Talern und sechs Groschen zusammen. Das ist der Anfang. Franke sagt, das sei jetzt eine größere Summe Geld, noch nicht wahnsinnig viel, aber immerhin etwas. Damit will er seine Abendschule starten.
Was tut er dann? Er lädt einige Schüler ein, unterrichtet sie und gibt ihnen Schulbücher mit nach Hause zum Lernen. Er wundert sich, dass sie am nächsten Tag nicht mehr wiederkommen. Einige Tage später kommen die Schüler zurück, aber ohne Bücher. Dann stellt er fest, dass die Kinder die Bücher verkauft haben, um sich Schnaps zu kaufen. Danach kommen sie wieder und wollen neue Bücher – aber eben nicht zum Lernen, sondern um ihren Lebensstil weiterzuführen.
Nach diesem Misserfolg kommt er zur Erkenntnis: Wenn man die Kinder prägen will, geht das nicht anders, als wenn man sie bei sich behält und eine Art Internat einrichtet. Ohne das geht es nicht. Denn selbst Kinder, die Eltern haben, und wenn diese auch nur Trinker sind, hilft es nicht, wenn man ihnen ein paar Stunden am Tag etwas Vernünftiges sagt. Sie kommen dann nach Hause, und dort wird das, was man ihnen vermitteln will, wieder zerstört.
So hat er nun den großen Plan: Nicht nur Unterricht zu geben, sondern die Kinder müssen auch aufgenommen werden. Er gewinnt dafür einen Studenten von der Universität, den er schon länger kennt. Der heißt Neubauer, ist sehr tüchtig und bleibt lebenslang bei Franke. Er wird ein wichtiger Mitarbeiter und soll sich um die Kinder kümmern und sie unterrichten. Franke hat ja noch seine Professur und sein Pfarramt, also viel zu tun, und kann das nicht allein machen.
So nimmt man die ersten Kinder auf. Bald melden sich immer mehr, sodass man kaum noch weiß, wie man damit zurechtkommen soll. Franke wendet sich an einige Freunde, unter anderem auch an Bekannte in wichtigen Behörden in Berlin. So gibt es zusätzliche Spenden. Besonders ein reicher Berliner, dessen Name nicht genannt wird – es gibt nur Vermutungen, wer es sein könnte – spendet eine größere Summe Geld, wohl um die 150 Taler. Das war damals viel Geld. Es wurde vereinbart, dass von den Zinsen dieses Geldes ein oder zwei Waisenkinder aufgenommen und verpflegt werden sollen.
Doch es sind nicht nur ein oder zwei, sondern innerhalb weniger Tage kommen fünf Waisenkinder zu Franke. Nun ringt er mit der Frage, welche er aufnehmen soll. Schließlich entscheidet er sich dafür, das ganze Geld und nicht nur die Zinsen zu verwenden. Von diesem Kapital bezahlt er erst einmal die Unterkunft der Kinder. Im Nachbarhaus der Kneipe werden ein paar Räume angeboten, in denen die Kinder wohnen können, da das Pfarrhaus voll ist. Dort werden sie unterrichtet.
Innerhalb kurzer Zeit ist das Geld aufgebraucht. Hier entsteht etwas Neues, was es bis dahin so nicht gegeben hat. Die Stiftungen, die es bis dahin gab – ob katholisch oder evangelisch – basieren nämlich auf einem anderen System. Man hat festes Kapital, das feste Einkünfte bringt, auf die man rechnen kann. Dadurch kommt Geld hinein, mit dem man arbeiten kann.
Das, was Franke beginnt, ist der Anfang der sogenannten Glaubensmission. Diese hat bis heute weite Teile des evangelischen Sozialwesens mitbestimmt. Wer in der Nähe ist, sieht die Gründung der Bethel-Anstalten, die genau so entstanden sind. Dort gab es kein festes Kapital, sondern immer nur die Bitte um Spenden. Wenn keine Spenden kamen, war Schluss. So ist es heute bei vielen Organisationen: Es gibt keine Stiftung im Hintergrund, die das Geld bereitstellt. Die Bibelschule Brake zum Beispiel ist eine Glaubenseinrichtung. Sie lebt von Spenden. Wenn keine mehr da sind, geht es nicht weiter.
Der Erste, der so etwas im evangelischen Bereich durchgesetzt und praktiziert hat, war Franke. Das ist sein Ausdruck des Vertrauens auf Gott. Gott wird für das sorgen, was wir brauchen – nicht für die ganze Zukunft, sondern für das, was wir heute brauchen. Dieses Vertrauen zieht sich immer wieder durch, gerade bei der Gründung seines Werkes.
Übrigens waren die ersten Anfänge nicht 1698, wie hier steht, sondern 1695. Dort begann schon eine fortgeschrittene Stufe dieser Sammlung. Bald führt das dazu, dass Franke den mutigen Schritt macht, das Nachbarhaus, eben die Kneipe, zu kaufen. Die Kneipe zieht aus, und man richtet dort Schülerzimmer und Unterrichtsräume ein.
Das Ganze wächst im Laufe der Zeit radikal. Man kauft noch eine zweite Kneipe dazu. Irgendwann kommt die Überlegung, es wäre besser, nicht nur vorhandene Räume zu nutzen, sondern einen ganzen Neubau zu errichten. Franke hat befreundete Leute, die ihm dabei helfen, das Projekt zu entwickeln. Der Neubau wird im Stil der damaligen Zeit errichtet, dem beginnenden Barock. Es ist ein großes Gebäude.
Während des Baus stellt sich immer wieder die Frage, wie das finanziert werden soll. Kritiker fehlen nicht. Manche sagen, man gebe für die weißen Kinder so viel Geld aus und baue sogar ein neues Gebäude. Das könne nicht sein. Die Kinder sollten doch zufrieden sein mit dem, was sie haben. Man wirft vor, das alles sei zu luxuriös. Manche warten nur darauf, dass das Geld ausgeht und Franke reumütig aufhören muss. Aber das passiert nicht.
Das Gebäude, das gebaut wird, wirkt auf viele damals wie ein Palast. Selbst für heutige Maßstäbe ist das Haus relativ großzügig. Damals war der Wohnstandard wesentlich schlechter. Allerdings gab es im ganzen Haus keinen überflüssigen Luxus. Was damals als überflüssiger Luxus galt, ist heute sowieso nicht mehr so zu sehen.
Viele Räume sind zum Beispiel relativ hoch. Das wurde damals häufiger gemacht, um bessere Luft zu gewährleisten. In den stickigen kleinen Kammern verbreiten sich Krankheiten leichter. Franke hatte zuvor Informationen eingeholt, was bautechnisch das Beste für Kinder ist, wie man ihnen am besten helfen kann und in welcher Umgebung sie am besten leben. Danach wurde gebaut.
Während der Bauphase gab es zahlreiche Gebetserhörungen. Franke veröffentlichte später das Büchlein „Segenvollen Fußstapfen“. Es wurde zahlreich nachgedruckt und in viele europäische Sprachen übersetzt. Das Buch ist sehr inspirierend zu lesen, denn es zeigt, wie Gott über Jahre hinweg immer wieder eingegriffen hat. Er gab zum richtigen Zeitpunkt das Geld, das gebraucht wurde.
Es lohnt sich, das Buch zu lesen. Dort sind Berichte enthalten, wie zum Beispiel beim Bau, als der Vorarbeiter die Arbeiter bezahlen muss, aber kein Geld da ist. Er wird gebeten, am Abend wiederzukommen. Franke und einige Mitarbeiter ziehen sich zum Gebet zurück. Am Abend kommt der Vorarbeiter wieder, noch immer ohne Geld. Gerade als Franke ihm sagen will, dass kein Geld da ist, kommt ein Bote mit einem Brief. Genau die Summe, die benötigt wird, ist darin enthalten.
Solche Begebenheiten passierten häufiger. Auch der brandenburgische Kurfürst besuchte das Projekt, war beeindruckt und spendete spontan einige Zehntausend Backsteine. So wurden von der königlichen Ziegelei karrenweise Backsteine geliefert, um den Bau voranzutreiben. Das ist sehr beeindruckend zu lesen.
Manche Berichte, gerade im Zusammenhang mit dem Waisenhaus, sind vielleicht bekannt, vor allem denen, die eine Biografie von Georg Müller gelesen haben. Kennt man die Geschichte von Georg Müller? Es sind viele Bücher über ihn erschienen. Das ist kein Zufall, warum er hier erwähnt wird. Nicht nur, weil es ähnliche Erfahrungen gibt, sondern weil Georg Müller Schüler von Franke war – wenn auch nicht direkt, sondern indirekt.
Er lebte deutlich später, besuchte die frankischen Anstalten, machte dort seine Schulausbildung und wollte nach dem Vorbild August Hermann Frankes in England Waisenhäuser gründen. Das hat er auch getan. Die Waisenhäuser von Georg Müller in Bristol sind nach dem Vorbild Frankes aus Halle gestaltet worden.
Das sind nicht die einzigen. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden zahlreiche Schulen nach diesem Konzept. Allein zu Frankes Lebzeiten gab es Schulen nach seinem Muster in verschiedenen Teilen Deutschlands, in Skandinavien, in Russland und sogar in der Türkei.
Das hatte also durchaus Erfolg. Man könnte sagen, Franke hat eine Schule gegründet, die sich verbreitet hat. Das Haus wird fertiggestellt, man zieht ein, aber bald ist es zu eng. Oben auf dem Gebäude gibt es eine Art Sternwarte. Die Schüler sollten diese nutzen, um mit eigenen Augen zu sehen. Die Schule und der Unterricht sollten stark anschaulich und visuell sein – etwas ganz Neues für die damalige Zeit.
Ich komme später noch auf die Pädagogik zu sprechen. Auf jeden Fall reicht das Gebäude nicht aus, und man baut mit der Zeit aus. Nach einigen Jahren sieht das Ganze so aus: Das erste Haus mit der Freitreppe und dem Giebel vorne, dann ein hinterer Flügel, dazwischen Pausenplätze, ein langes Gebäude, weitere Anbauten und so weiter.
Mit der Zeit entstehen viele zusätzliche Gebäude. Man kauft auch einen eigenen Bauernhof, auf dem Schüler neben dem Unterricht mitarbeiten. Schließlich erreicht man, dass ein großer Teil des Bedarfs durch eigene Betriebe gedeckt wird.
Eine Nebensache, die ich nur kurz erwähnen möchte: Es war gerade die Zeit, als die Kartoffel überhaupt nach Europa gebracht wurde. Sie kam aus Amerika und war den Bauern zunächst unbekannt. In der Reformzeit in Deutschland baute niemand Kartoffeln an. Franke beteiligte sich daran, der Kartoffel zum Durchbruch zu verhelfen, da sie nahrhaft ist und gut angebaut werden kann. Er war sozusagen ein Pionier.
Außerdem kaufte er einen Steinbruch in Gibichenheim, um Steine für den Bau günstig brechen zu lassen. Darüber hinaus besaß man einen eigenen Wald. Die meisten Gebäude waren Fachwerkbauten, da diese viel billiger zu errichten waren als Steingebäude.
Übrigens gilt das lange Gebäude hinten als das größte Fachwerkgebäude Europas. Das war eine technische Meisterleistung. Manche Gegner sagten damals, das halte nicht, es werde zusammenbrechen. Für das lange Gebäude war nicht einmal ein Keller vorgesehen, weil der zu teuer gewesen wäre. Man sagte, das Haus werde wegsacken, da der Boden weich sei.
Erstaunlicherweise sind inzwischen 300 Jahre vergangen, und die Häuser stehen immer noch. Hier steckt entweder der Segen Gottes oder überragende architektonische Fähigkeiten dahinter. Auf jeden Fall hat es gehalten.
Natürlich gab es zwischendurch auch Misserfolge. In dem hinteren Gebäude wurde ein Teil doch aus Stein gebaut, weil dort die Bibliothek eingerichtet werden sollte. Eine Bibliothek ist immer feuergefährlich, und man wollte nicht mit Fachwerk bauen, sondern mit Stein, damit man im Brandfall schnell löschen und die Bücher schützen kann. Bücher waren damals viel wertvoller als heute.
Das Ganze wächst jedenfalls weiter. Franke hat viele Ideen, von denen sich manche umsetzen ließen, andere nicht. Er will, dass in den Anstalten bis zu seinem Lebensende etwa 1500 Schüler parallel unterrichtet werden. Dazu kommen einige Mitarbeiter und Studenten, sodass insgesamt über 2000 Menschen in diesem „Dorf“ leben und arbeiten.
Er möchte das auf möglichst sichere Beine stellen, sodass die Anstalten viel selbst finanzieren können. Er vertraut auf Gott, vor allem in der Anfangszeit, da es kaum andere Quellen gibt. Aber er will auch, dass die Anstalten eigene Betriebe haben, durch die sie ihren Unterhalt selbst verdienen können.
Gegen Ende seines Lebens ist es so, dass der Großteil des Bedarfs durch eigene Betriebe gedeckt wird. Ein Beispiel ist die Landwirtschaft. Er hat originelle Ideen. Er merkt zum Beispiel, dass viel Fleisch gebraucht wird und kauft erst einmal Vieh in der Umgebung. Das ist teuer, also nimmt er Verbindungen nach Schlesien auf. Dort ist es viel günstiger.
Er schickt Mitarbeiter nach Schlesien, die dort eine ganze Herde kaufen und nach Halle treiben. Einen Teil brauchen sie selbst, einen Teil verkaufen sie gewinnbringend. Dadurch ist das Fleisch, das die Anstalten brauchen, quasi kostenlos. Der Gewinn aus dem Verkauf entspricht dem Wert des selbst behaltenen Viehs.
So entstehen zahlreiche Ideen, die zeigen, dass Franke nicht nur ein interessanter Theologe und begabter Pädagoge ist, sondern auch wirtschaftliche Aspekte im Blick hat.
Ein anderes Beispiel: Er bemüht sich um eine Schifffahrtslinie auf der Saale und kauft ein Schiff. Damals mussten Schiffer im Winter über drei Monate lang arbeitslos sein. Sie mussten ihr Geld vorfinanzieren und sparen.
Franke schafft einen wirtschaftlichen Vorteil, indem die Schiffer, die er anstellt, im Winter in den Anstalten arbeiten. Wenn das Wetter es zulässt, fahren sie mit den Schiffen. Dadurch sind sie finanziell günstiger.
Das brachte die Schifffahrtsgewerkschaft auf, die damals existierte. Sie protestierte beim Kurfürsten gegen Frankes Schifffahrtslinie, sodass er sie einstellen musste. Dennoch zeigt das, wie Franke immer wieder neue Ideen hatte und versuchte, verschiedene Bereiche miteinander zu verbinden.
Die Waisenhaus-Apotheke und der Buchdruck
Besonders einflussreich war die Gründung der Waisenhaus-Apotheke. Zunächst ging es darum, dass Doktor Richter, der ebenfalls fromm war, als Arzt im Waisenhaus tätig war. Gerade wegen mehrerer Infektionswellen bemerkte man, dass die Medikamente, die die Apotheken in Halle anboten, nicht mehr ausreichten. Deshalb fragte man beim Kurfürsten an, ob man eine eigene Apotheke gründen könne. Diese wurde schließlich genehmigt.
Man stellte eigene Medikamente her, und Franke erhielt durch Freunde Rezepte für mehrere neue Medikamente, die Chemiker an der Universität entwickelt hatten. Diese Freunde gaben ihm die Rezepte, sodass in Halle neue Medikamente entstanden. Unter anderem wurde eine Goldmedizin entwickelt, die geringe Spuren von Gold enthielt. Man wusste damals noch nicht genau über die therapeutische Wirkung Bescheid, doch in einigen Krankheitsfällen wirkte sie erstaunlich gut.
Mit der Zeit genoss die Apotheke einen sehr guten Ruf in Deutschland. Zahlreiche Apotheker im ganzen Land wollten die Medikamente haben, die sich reißend verkauften. Deshalb musste die Apotheke mehrfach erweitert werden. Darüber hinaus entstanden Verbindungen nach Italien, Skandinavien, England und Russland, wohin Medikamente verschickt wurden.
Die Gewinne dieser Apotheke stellten sie dem Waisenhaus zur Verfügung. Zudem versorgten sie alle Armen und Menschen in der Mission kostenlos mit Medikamenten. Franke engagierte sich auch für die Mission und stellte Medikamente kostenlos bereit. Es ging ihnen also nicht nur ums Geldverdienen, sondern auch darum, Bedürftigen zu helfen.
In manchen Jahren wurde sogar kein Gewinn erzielt, da alle Einnahmen für die Verteilung von Gratis-Medizin verwendet wurden. Natürlich wollte man dies überprüfen, denn auch damals gab es Menschen, die Medikamente nahmen, weil sie arm waren, und diese dann im Nachbarort verkauften. Solche Missbräuche gab es also auch damals. Man versuchte dem entgegenzuwirken, indem man die Bedürftigen genau untersuchte, um sicherzustellen, dass sie wirklich krank waren. Ganz verhindern konnte man den Missbrauch jedoch nicht.
Dieser Erwerbszweig lief jedenfalls sehr gut. Ein weiterer wichtiger Zweig war von Ehlers. Ehlers war Student in Halle, begeistert von Francke, wollte mitarbeiten und war sehr an Büchern interessiert. Er schrieb einige Predigten Frankes auf, ließ sie drucken und verkaufte sie auf der Leipziger Buchmesse. Anfangs wurde er ausgelacht, doch mit der Zeit fanden die Predigten guten Absatz, denn die Leute wollten sie lesen. Francke war ein begabter Prediger.
So entstand schließlich eine eigene Druckerei. Dort wurden zahlreiche pädagogische Schriften sowie Werke Frankes und seiner Mitarbeiter verlegt und in ganz Deutschland verkauft. Man hatte Verträge mit Kolporteuren, die durch Deutschland zogen und diese Predigten und andere Schriften anboten.
Das Ganze wurde durch den Baron von Kahnstein erweitert, einen Adligen aus Berlin, den Franke kennenlernte. Nach einer schweren Krankheit wollte dieser sein Leben Gott widmen. Von Ehlers überzeugte ihn davon, eine möglichst billige Bibel herzustellen. Damals konnten die Leute zwar theoretisch Bibeln besitzen, doch diese waren viel zu teuer für den Normalbürger.
Ich habe hier eine Ausgabe der Predigten von August Hermann Francke, erster Band. Darauf ist der Baron von Kahnstein noch etwas jünger und adliger abgebildet. Er wurde von Ehlers dafür gewonnen, günstige Bibeln herzustellen. Man plante, das Neue Testament für zwei Groschen und die ganze Bibel für fünf Groschen herauszugeben. Das war jedoch nur möglich, wenn man eine technische Innovation vorantrieb.
Zum ersten Mal in Deutschland wurden Bibeln mit festem Blocksatz gedruckt. Vor der Zeit von Computern und Offsetdruck setzte man Bleilettern einzeln auf eine große Tafel. Jeder Buchstabe wurde einzeln gesetzt – daher der Begriff „Satz“ als „Draufsetzen“. Die Bleilettern waren teuer. Man druckte eine Seite, nahm die Lettern wieder heraus, setzte die nächste Seite und druckte erneut. Das war sehr zeitaufwendig, besonders bei einer Bibel mit hunderten Seiten.
Der neue Gedanke war, den gesamten Satz der Bibel fest vorzuhalten. Das bedeutete, viele Lettern zu besitzen, um alle Satzvorlagen zu haben. Man brauchte Lagerplatz, konnte aber bei Neuauflagen viel günstiger drucken. Die große Anfangsinvestition ermöglichte also günstigere Nachdrucke.
Der Baron von Kahnstein spendete ein Drittel der Summe, weitere adlige Freunde, darunter auch die Königin, ein weiteres Drittel. So kam die gesamte Summe zusammen, um genügend Lettern für den festen Drucksatz zu kaufen. Tatsächlich konnte man die Bibel so günstig anbieten, wie es in Deutschland zuvor nicht möglich gewesen war.
Es gab mehrere Auflagen, die in den folgenden Jahren verkauft und weitergegeben wurden. Francke engagierte sich auch für Übersetzungen der Bibel in einige baltische Sprachen, gab eine russische Bibel heraus und druckte eine neugriechische Bibel. So wurden auch Bibeln in anderen Sprachen hergestellt, was Pionierarbeit war.
Die Druckerei spielte auch eine große Rolle bei der Herstellung zahlreicher Schriften für die Mission. Die von Kahnsteinsche Bibelgesellschaft entstand, allerdings erst nach dem Tod von Kahnstein. Er wollte zu seinen Lebzeiten nicht, dass die Gesellschaft seinen Namen trug, sondern sie in die Frankeschen Anstalten integriert sehen. Nach seinem Tod wurde sie jedoch ehrenhalber nach ihm benannt.
Die von Kahnsteinsche Bibelgesellschaft war die erste deutsche Bibelgesellschaft. Francke machte sich jedoch nicht nur Freunde. Er wagte es, bei der Bibelausgabe Verbesserungen an der Lutherübersetzung vorzunehmen. Das war Wasser auf die Mühlen der lutherischen orthodoxen Theologen, die meinten, Luther sei heilig und die Übersetzung inspiriert. Da dürfe man nichts ändern.
Ironischerweise konnte Francke nachweisen, dass ein Professor aus Wittenberg, selbst ein orthodoxer Lutheraner, in seinem Buch mehrere Verbesserungsvorschläge zur Lutherübersetzung gemacht hatte. Francke argumentierte, dass die orthodoxen Theologen selbst Verbesserungen an der Übersetzung anregten, und arbeitete diese Vorschläge ein.
Nebenbei führte dies zur Gründung der ersten theologischen Fachzeitschrift in Deutschland. Francke kam auf die Idee, nachdem ihm ein Freund geschrieben hatte, dass er durch unvorhergesehene Krankheitsfälle verarmt sei und keine Mittel mehr zum Leben habe. Francke selbst hatte kein Geld, doch er wollte seinen Freund unterstützen.
So gab er eine Zeitschrift heraus, deren Gewinn er seinem Freund geben wollte. Die erste Ausgabe beschäftigte sich mit exegetischen und sprachlichen Verbesserungsvorschlägen zu einzelnen Bibeltexten. Die Zeitschrift wurde verbreitet und existierte über lange Zeit. Das Geld aus den Verkäufen verwendete Francke, um Menschen in Not zu helfen.
Er gründete auch die Halleschen Nachrichten, die erste Tageszeitung der Region. Die Zeitung erschien dreimal pro Woche. Man hatte eigene Korrespondenten, die in verschiedene Teile Deutschlands reisten, um Nachrichten zu sammeln. Außerdem unterhielt Francke einen Briefwechsel mit vielen Adligen und Frommen aus ganz Europa, die ebenfalls Nachrichten einsandten.
Diese Nachrichten wurden gesammelt, gedruckt und verbreitet. So entstand die erste Hallesche Tageszeitung. Interessanterweise gibt es die Halleschen Nachrichten bis heute noch als Tageszeitung. Eine Sondernummer listet die Gründung in dieser Zeit als eine der ältesten deutschen Tageszeitungen überhaupt auf, die von August Hermann Francke gegründet wurde. Dabei wurde auch immer die fromme Perspektive mit einbezogen.
Einige Ideen wurden nicht vollständig umgesetzt. So verhandelte Francke beispielsweise mit einem Berliner Unternehmer über die Einrichtung einer Weberei. Die Kinder sollten dort mitarbeiten, um für ihre Unterkunft und ihren eigenen Unterhalt beizutragen. Allerdings konnten die Kinder die Arbeit nicht so fein und gut ausführen.
Die Weberei wurde zwar eingerichtet, produzierte aber nur für den eigenen Bedarf, nicht für den Verkauf. Die Qualität war nicht gut genug. Die hergestellten Leinenwaren wie Decken und Tücher wurden ausschließlich selbst genutzt. So entstanden einige Einrichtungen am Rande der halleschen Anstalten, in denen auch die Kinder mitarbeiteten.
Francke war es wichtig, dass praktische Arbeit Teil seiner Pädagogik war. Die Kinder sollten mitwirken und gleichzeitig zum Unterhalt der Schule beitragen.
Die hallesche Mission und internationale Verbreitung des Pietismus
Das, was später noch kommt, ist jetzt seine Pädagogik. Darauf komme ich gleich noch einmal zurück. Ah ja, das ist dieses Bild. Vielleicht komme ich dazu. Dieses Bild sieht ein bisschen seltsam aus – es zeigt nicht Franke, sondern Ziegenbalg.
Ziegenbalg und Plüschau waren nämlich die ersten Missionare, die von Halle aus nach Tranquebar in Indien geschickt wurden. In Deutschland gab es bis zu diesem Zeitpunkt seitens der lutherischen Kirche eigentlich keine weltmissionarischen Ambitionen. Weltmissionen standen nicht im Fokus. Man war vielmehr damit beschäftigt, die eigene Kirche erst einmal zu organisieren.
Die Katholiken hatten zu diesem Zeitpunkt schon lange Weltmissionen betrieben. Auch in England hatte man sich aufgrund des anbrechenden Kolonialreiches stärker damit beschäftigt, aber in Deutschland war das anders. Einige seiner Schüler, gerade jene beiden Missionare, hatten Kontakt zum dänischen König aufgenommen. Dieser war ebenfalls pietistisch geprägt und fromm. Er entschied sich, eine Missionsgesellschaft zu gründen.
Interessant ist, dass die Gründung dieser Missionsgesellschaft zwar durch den dänischen König Christian initiiert wurde, die Missionare aber fast ausschließlich Deutsche waren. Die ersten beiden kamen aus Halle. Schon bald überzeugten sie auch Franke davon, dass Mission eine wichtige Sache sei. Franke war zunächst skeptisch, ließ sich dann aber überzeugen.
Franke wurde schließlich die Person, die die Mission überhaupt am Leben erhielt. Denn die Ideen zogen sich bald zurück, es gab Kritik, und viele standen nicht mehr dahinter. Nach kurzer Zeit war Franke derjenige, der eine eigene Zeitschrift herausgab – die erste missionswissenschaftliche Zeitung in Deutschland. Darin wurde über die Missionsarbeit berichtet, mit aktuellen Berichten aus Indien, wohin die Missionare geschickt wurden.
Es entstand sogar ein Plan zusammen mit Leibniz. Ich weiß nicht, ob ihr den Philosophen Leibniz kennt – damals ein sehr bekannter Philosoph. Franke nahm Kontakt zu ihm auf, und Leibniz sagte: „Man müsse doch die Chinesen missionieren und für den christlichen Glauben gewinnen.“ Das nahm Franke auf und plante, wie man die Chinesen für den Glauben gewinnen könne.
Da zwischen China und Deutschland Russland liegt, müssten zunächst die Russen evangelisiert werden. So nahm Franke Kontakt nach Russland auf. Es entstand unter anderem in Moskau ein christliches Gymnasium, ein Privatgymnasium nach dem Vorbild Hermann Frankes in Halle, wo auch deutsche Lehrer unterrichteten.
Über dieses Gymnasium kamen zahlreiche deutsche Privatlehrer aus Halle an die russischen Fürstenhöfe, weil sie als vorbildlich und zuverlässig galten. Darüber hinaus entstand in Sibirien eine Schule nach Frankes Muster. Das klingt zunächst ungewöhnlich, aber das geschah im Zusammenhang mit dem damaligen Nordischen Krieg, also dem Konflikt zwischen Finnland und Schweden.
Schwedische Offiziere gerieten in russische Gefangenschaft und wurden nach Sibirien deportiert. Sie erinnerten sich an Franke, dessen Schriften sie gelesen hatten, und nahmen brieflich Kontakt zu ihm auf. Franke schickte ihnen finanzielle Mittel und Schulbücher. In der Kriegsgefangenschaft gründeten sie schließlich eine Schule, die nach dem Muster Halles funktionierte und dort über mehrere Jahrzehnte existierte.
Als sie aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurden und zurückkehrten, verbreiteten sie den Pietismus in Skandinavien, also in Dänemark, Schweden und Norwegen. Die norwegisch-schwedische Kirche war zunächst sehr skeptisch und wollte keine Veränderungen. Trotzdem wurden Schriften Frankes ohne Autorenangabe übersetzt. So war nicht leicht nachvollziehbar, wer dahintersteckte oder wer die Drucke veranlasste.
Mit der Zeit ergriff diese Bewegung die Kirche relativ stark, besonders in Dänemark und Norwegen. Dort kam es zu einer starken Erweckung durch den Pietismus, die zum großen Teil durch deutsche Hauslehrer und durch die schwedischen Kriegsgefangenen ausgelöst wurde, die nach Schweden zurückkehrten und die pietistische Erweckung mitbrachten.
In dieser Zeit entstand die Idee, Missionen auch darüber hinaus zu betreiben. So wurden die ersten beiden Missionare nach Tranquebar geschickt, um dort zu missionieren. Die Dänen kümmerten sich jedoch nicht besonders darum. Die dänischen Handelsgesellschaften legten den Missionaren sogar Steine in den Weg, weil sie befürchteten, dass die Menschen nicht mehr so gut ausgebeutet werden könnten, wenn sie missioniert und Christen würden. Die Haltung war also eher kritisch.
Die ersten Berichte über die Mission ließ Franke ins Englische übersetzen. Einige seiner Schüler waren in England unterwegs und hatten dort in London eine christliche Schule gegründet. In England gewannen sie zahlreiche Freunde, und die englische Ostindische Kompanie setzte sich stark für die Mission ein.
England war zu dieser Zeit der aufstrebende Wirtschaftsstern auf dem indischen Subkontinent, und es entstand eine enge Zusammenarbeit. Hier zeigt sich auch die grenzüberschreitende Aktivität, die Franke entwickelte.
Das hier ist ein Bild aus Tranquebar heute. Was ich schon gezeigt habe, ist der Giebel der Kirche, die damals von den ersten Missionaren gebaut wurde. Ihr seht das Jahr 1718. In diesem Jahr wurde diese Kirche gebaut – die Neue Jerusalems Kirche, wie sie sich nennt.
Ich habe hier einen Ausschnitt aus einem Buchstabenschild gewählt, weil man hier das Wappen und die Jahreszahl sehen kann. Die Kirche ist natürlich größer und wurde für die Menschen gebaut, die sich dort bekehrt hatten.
Übrigens wurde in Indien auch eine eigene Schule eingerichtet. Das war die erste Schule in Indien, die Mädchen eine Schulausbildung ermöglichte. Neben einer Jungenschule war dies die erste Mädchenschule in Indien, gegründet im Rahmen der fränkischen Missionsarbeit in Tranquebar.
Man schuf ein eigenes Wörterbuch für die heimischen Dialekte und ließ eine eigene Bibel drucken. Um das nicht in Europa machen zu müssen, sammelte Franke Geld unter Freunden und rüstete eine ganze Druckerei aus. Diese wurde per Schiff nach Indien verfrachtet, um dort Bibeln und Schriften drucken zu können.
Diese Kirche wurde von den Dänen unterstützt, die eigentlich hinter der Missionsgesellschaft standen. Doch sie meinten, man könne auch in bescheidenen Verhältnissen wohnen, das müsse nicht so prächtig sein. Daraufhin kündigten sie jegliche Unterstützung, sodass die weitere Missionsarbeit nur noch an Halle und den französischen Anstalten hing und von dort finanziert wurde.
Diese Missionsarbeit existiert bis heute. Es gibt noch einige Kirchen und Ausbildungsstätten aus dieser Zeit in Indien. Indien war nur der erste Schritt. Mit der Zeit wurden weitere Missionare ausgesandt, zum Beispiel ein Zeissberger zu den Indianern. Es gab aber auch andere Orte, an die Missionare gesendet wurden.
Später werden wir noch sehen, dass gerade von dieser Missionsidee letztlich Zinzendorf motiviert wurde. Zinzendorf trieb das Ganze noch weiter voran. Das war ein ganz wichtiges Anliegen für ihn. Er übernahm seine Ideen eigentlich von Halle, von Franke, denn dort machte er auch seine schulische Ausbildung.
Das werden wir uns beim nächsten Mal noch genauer anschauen.