Im Wartestand

Konrad Eißler
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Wir sind Mensch­en im Wartestand, prall gefüllt mit lauter Erwartungen. Der Apostel Jakobus ist ein Christ im Wartestand. Er bittet herzlich, angesichts des kommenden Herrn auf ein geduldiges und festes und weites Herz zu achten. - Adventspredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Menschen i.R., das sind die, die im Ruhestand leben. Sie haben viele Jahre ihres Lebens gearbeitet. Mit 60 oder 65 wurden sie in den verdienten Ruhestand verabschiedet. Jetzt erfüllen viele von ihnen ihre großelterlichen Pflichten oder gehen ihrem Hobby nach. Menschen im Ruhestand.

Oder Menschen i.K. sind die, die im Krankenstand leben. Sie sind auf einmal krank geword­en. Mit 30 oder 40 sind sie außer Gefecht gesetzt. Jetzt leiden sie an ihren Schmerzen und unter ihren Sorgen. Menschen im Krankenstand.

Oder Menschen i.E. sind die, die im Ehestand leben. Sie setzen auf Liebe und Treue. Mit 10 oder 20 Jahren muss ein Eheschiff nicht auf Grund laufen. Jetzt bilden sie ein warmes Nest für ihre Kinder. Menschen im Ehestand.

Und Menschen i.W.? Das sind die, die im Wartestand leben. Sie warten auf weihnachtliche Freude. Mit 15 oder 50 müssen langgehegte Wünsche endlich in Erfüllung gehen. Jetzt ist dieser Zeitpunkt zum Greifen nahe. Menschen im Wartestand sind wir alle. Jeder wartet auf etwas. Jeder wartet auf etwas Bestimmtes. Jeder wartet auf die Erfüllung von Wünschen. Der Bub wartet auf den Schnee und das Mädchen auf die Schlittschuhe. Der Schüler wartet auf den Computer und die Schülerin auf das Abitur. Der Vater wartet auf den Urlaub und die Mutter auf den Studenten. Der Opa wartet auf Post und die Oma auf Enkel. Wir sind echte Mensch­en im Wartestand, prall gefüllt mit lauter Erwartungen.

Jakobus ist auch einer. Ich meine nicht Jakobus, den Sohn des Zebedäus. Ich meine auch nicht Jakobus, den Sohn des Alphäus. Ich meine Jakobus, den Sohn Marias und Josefs, den Bruder Jesu, den Verfasser dieses Rundbriefes am Schluss der Bibel. Er wartet, wie wir alle warten. Aber seine Erwartungen gehen in eine völlig andere Richtung. Jakobus wartet nicht auf den freien Tag, sondern den letzten Tag. Jakobus wartet nicht auf die Festlichkeit, sondern die Herrlichkeit. Jakobus wartet nicht bis Schnee kommt, sondern bis der Herr kommt. Der Apostel Jakobus ist ein Christ i.W., ein Christ im Wartestand, und das sollen wir auch werden.

Das Christkind, das gleichsam im Jahresabonnement auf die Erde kommt, ist doch zu wenig. Der Weihnachtsmann, der morgen mit seinen Gaben in die Häuser kommt, ist doch zu kitschig. Der holde Knabe, der mit lockigem Haar zur himmlischen Ruhe kommt, ist doch zu süßlich. Christen im Wartestand beten: “Komm, o mein Heiland Jesu Christ.” Der, der damals geheilt hat, wird wiederkommen und alle Wunden heilen. Der, der damals getröstet hat, wird wiederkehren und alle Verzweifelten trösten. Der, der damals gestärkt hat, der wird wieder erscheinen und alle Schwachen stärken. Das Kommen des Herrn ist nahe.

Weil dem so ist, deshalb kommt es nicht auf unsere starken Hände an, ob sie viele Schwielen haben, nicht auf unsere klugen Köpfe, ob sie viel Gescheites sagen, nicht auf unsere schönen Kittel, ob sie viele Titel tragen. Christen im Wartestand brauchen ein gutes Herz. Also Herzgeschichten sind jetzt dran, noch keine Weihnachtsgeschichten. Der Apostel bittet herzlich, angesichts des kommenden Herrn auf ein geduldiges und festes und weites zu achten. Tun wir es der Reihe nach.

1. Ein geduldiges Herz ist nötig, kein klopfendes

Geduldig sind wir nicht. Geduld haben wir keine. Es geht uns alles über die Hutschnur. Unsere Geduld gleicht einer Zündschnur. Wenn einer zerrt, explodieren wir. Immer haben wir es pressant. Morgens beim Frühstück: “Der Bus fährt in 7 Minuten.” Mittags im Auto:”Immer die rote Welle.” Abends am Telefon: “Nur das Besetztzeichen.” Im Gespräch mit der Frau: “In unserer Ehe ist der Wurm drin und nichts mehr zu machen.” In der Diskussion mit dem Sohnemann: “Du schlägst aus der Art und aus dir wird nie etwas.” Auf dem Spaziergang mit der Freundin: “Ich will alles und das sofort.”

Kurzatmig, aufbrausend, hektisch, immer mit klopfendem Herzen jagen wir durch die Tage, so wie der Bauer in China, von dem die Parabel erzählt. Wie ein Wilder rast er durchs Gehöft. Kaum hat er das Saatgut auf seinem Feld ausgestreut, da steht er am Ackerrand und sucht nach, dem aufgehenden Grün. Als er die ersten Spitzen ausmacht, hilft er dem Korn wachsen, indem er ein Halm nach dem andern zupft und ein Stückchen aus der Erde zeiht. Diese Nachhilfeaktion zerstört die ganze Pflanzung von Bauer Sung: “Das Korn fiel um, der Mann war dumm, in jedem Haus, lacht man ihn aus”, so wird über ihn im Dorf gespottet.

Auch wir haben keinen langen Atem. Kaum haben wir geheiratet, da mäkeln wir dauernd am Ehepartner herum. Auch wir wollen dem Wachsen nachhelfen. Kaum haben wir Kinder, da zupfen wir dauernd an ihren zu langen Haaren oder an ihrer unmöglichen Aufmachung. Auch wir wollen Früchte erzwingen. Kaum sind wir in einem Hauskreis, da soll es schnell nach unserem Gusto gehen. Auch wir gleichen dem Bauern in China, aber wir sollen dem Bauern im Brief gleichen:

Nachdem er seine Arbeit getan hat, wartet er in großer Geduld. Nachdem er seinen Teil geschafft hat, überlässt er Gott den andern Part. Nachdem er seine Aufgaben erledigt hat, gibt er die Lösung in andere Hände. Das Wachstum braucht sein Zutun nicht. Dieser Bauer hat ein großes Vertrauen zu dem Herrn, der alle Geduldsproben bestanden hat. Als ihm nämlich der Hotelier die Tür wies und der König Herodes vor die Tür setzte, machte er keinen großen Auftritt, sondern machte sich davon. Als er zum adventlichen Empfang in Jerusalem zog, benutzte der König aller Könige keine pompöse Staatskarosse, sondern einen beschlagnahmten, geduldig­en Esel. Als sie schließlich mit ihm kurzen Prozess machten und an ein Holzkreuz festnagelten, da rissen ihm Sehnen und Muskeln, aber nicht der Geduldsfaden: “Vater, vergib ihnen!”

Jesus hat schon eine Eselsgeduld, auch mit uns. Er kann uns die Hetze nehmen, wenn uns der Terminkalender jagen will. Er kann uns die Gelassenheit schenken, wenn die Dinge anders laufen als wir denken. Er kann uns wieder zur Ruhe und Stille bringen. Jagen bringt’s nicht. Rennen schafft’s nicht. Ziehen taugt nicht. Das Wachsen in unseren Ehen, Familien, Beziehungen bis zur Reife am Tage seines Kommens ist sein Ressort. Sein Tun braucht unser Zutun nicht. Was wir brauchen, ist allein die enge Verbindung zu diesem Jesus, der an unser klopfendes Herz klopft und ein geduldiges Herz schenken will. Ein geduldiges Herz ist nötig.

2. Ein festes Herz ist nötig, kein zitterndes

Fest sind wir auch nicht. Festigkeit haben wir keine. Es geht uns alles an die Nerven. Unsere Festigkeit gleicht keinem dicken Eichbaum, sondern einem dünnen Ästchen, das bei jedem Wind zittert. Immer haben wir Angst. Wenn der Lehrer die nächste Arbeit ansagt, dann fahren wir zusammen und befürchten im Voraus die Katastrophe. Was machen wir, wenn wir das Klassenziel nicht erreichen? Wenn der Nachrichtensprecher von weltweiten Spannungen redet, dann fährt es uns unter die Haut und wir befürchten eine neue Krise. Wie kommen wir heil durch das Jahr? Wenn der Arzt Geschwüre diagnostiziert, dann schlägt es uns aufs Herz und wir befürchten das Schlimmste. Welche Therapie hat jetzt noch Aussicht auf Heilung?

Mit zitterndem Herzen durchleben wir unsere Zeit, so wie der Bauer in Lima, von dem die Zeitschrift berichtet. Ein dürres Jahr hat er gerade noch überstanden. Als sich aber im darauf folgenden Frühjahr wieder nur der blaue Himmel zeigte, zeigte er Nerven. Zitternd fuhr er zur nächsten Bank, machte riesige Schulden, grub tiefe Brunnen, zog lange Gräben, installierte eine teure Bewässerungsanlage und half dem Regen nach. Aber kaum arbeiteten die Pumpen, da zog ein Unwetter auf und setzte die ganze Gegend unter Wasser. Die teure Anlage versank in den Fluten. So ist es, wenn wir Gott Nachhilfeunterricht erteilen wollen. So geht es, wenn wir den Morgen selbst in die Hand nehmen wollen. So schafft ein zitterndes Herz.

Aber wir sollen dem Bauern im Brief gleichen. Er weiß, dieser Gott gibt Frühregen und Spätregen. Er weiß, diesem Gott brauche ich nicht ins Handwerk zu pfuschen. Er weiß, dieser Gott setzt mich nicht aufs Trockene und lässt mich nicht im Regen stehen. Er vertraut diesem Herrn, der gleich am Anfang der Bibel gesagt hat: “Es soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.” Durch den Propheten hat er es dick unterstreichen lassen: “Freut euch und seid fröhlich im Herrn, eurem Gott, der euch gnädig Regen gibt und euch herab­ sendet Frühregen und Spätregen.” Dann kam Jesus. In immer neuen Formulierungen sagte er: “Sorget nicht für den andern Morgen.” Die Verheißung auf den letzten Seiten der Bibel heißt: “Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers.”

Liebe Freunde, Ihr Morgen will er gestalten. Ihre Zukunft gehört in seine Zuständigkeit. Ihre Tage münden ein in seinen Tag. Fürstin Reuß hat ihre Bitte an die richtige Adresse gerichtet, als sie es uns vorgebetet hat, damit wir es in unserem Zittern und Zagen nachbeten können: “Hilf uns durch die Zeiten und mache fest das Herz, geh selber uns zur Seiten und führ uns heimatwärts”. Ein festes Herz ist nötig, und …

3. Ein weites Herz, kein böses

Weit sind wir erst recht nicht. Großzügigkeit haben wir keine. Uns geht alles gegen den Strich. Immer haben wir etwas am andern auszusetzen. Die Eltern könnten großzügiger sein und einen Hausschlüssel herausrücken. Die Kinder könnten dankbarer sein und nicht mit neuen Forderungen kommen. Der Meister könnte freundlicher sein und auch einmal ein gutes Wort sagen. Die Nachbarn könnten anständiger sein und auch einmal grüßen. Die Hausleute könnten, die Verwandten könnten, die Kollegen könnten.

Mit einer bösen Wurzel im Herzen begegnen wir den andern, so wie der Bauer in Russland, von dem Leo Tolstoi schreibt. Dieser Iwan Schtocherbakow hatte alles, nur keinen Frieden mit seinem Nachbarn, dem lahmen Gawrila. Mit einer lächerlichen Kleinigkeit hatte alles angefangen, mit einer Glucke, die ihr Ei in Nachbars Garten verlegte. Dann schaukelte sich der Streit hoch und man fluchte über den Zaun. Man ging vor den Kadi. Man hörte nicht die mahnenden Worte des Vaters: “Versäumst du den Funken zu löschen, wirst du der Flamme nicht Herr.” Schließlich legte Gawrilo Feuer und brannte das halbe Dorf nieder.

Ein böses Herz ist ein gefährlicher Brandherd. Deshalb: “Seufzet nicht wider einander.” Wir brauchen den Herzton jenes Bauern, der gesagt hat: Vor mir sehe ich alle Familien im Dorf; wenn es auf mich ankäme, wollte ich alle mit in den Himmel nehmen.” Die untreue Frau - mit in den Himmel nehmen. Den aufmüpfigen Sohn - mit in den Himmel nehmen. Den lästigen Zeitgenossen - mit in den Himmel nehmen.

Spüren Sie diesen Herzton? Wir brauchen die Herzenswärme jener Leute, die andere von Herzen lieben und anderen von Herzen alles gönnen. Dem Kollegen sein Haus gönnen. Dem Chef sein Geld gönnen. Dem Paar sein Glück gönnen. Spüren Sie diese Herzenswärme? Wir brauchen die Herzerweiterung unseres Herrn, der ein so weites Herz hatte, dass neben dem Jünger Johannes der Schieber Zachäus, neben der Mutter Maria die Dirne am Jakobsbrunnen, neben dem Arzt Lukas der Doktor Nikodemus Platz hatte.

Und wenn wir kommen, dann bleibt er nicht kühl bis ans Herz hinan, sondern wird sich von Herzen freuen und uns aufnehmen. Mehr: Er wird die Verheißung wahr machen: “Ich will euch ein neues Herz geben”, ein weites und festes und geduldiges Herz, “das richtig ist und folget Gottes Leiten, das kann sich recht bereiten, zu dem kommt Jesus Christ.” So singen Christen i.W., nicht Christen im Weihnachtsstress, sondern Christen im Wartestand. Sie könnten auch einer werden.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]