Die Episode ereignete sich in einem Spital, liebe Gemeinde. Der Krankenhauspfarrer Walter Lüthi ging durch die Reihen, grüßte, tröstete, ermunterte und verteilte ein kleines Schriftchen. An dem Bett eines jungen Patienten aber blieb er länger stehen. Er las dort auf der Fiebertabelle den Namen Feld. "Feld?", buchstabierte der Geistliche, "Feld? Habe ich richtig gelesen? Den Namen habe ich noch gar nie gehört. Heißen Sie Feld?” Der Kranke zuckte zusammen und drehte sich auf die andere Seite. "Entschuldigung", sagte der Pfarrer und legte seine Hand auf den Arm des Patienten. "Es war nur Neugier. Ich wollte sie nicht verletzen." Dann brach es aus dem Bettlägrigen heraus, so laut, dass es der ganze Saal mithören konnte: "Doch, ich heiße Feld, wirklich Feld, nur Feld! Man hat mich nämlich damals auf dem Feld gefunden. Direkt neben der Autobahn wurde ich als Wickelkind ausgesetzt. Die Mähmaschine ratterte knapp an mir vorüber. Dann wurde ich von einem Lastwagenfahrer entdeckt, der mit den Namen des Fundorts gab. Schauen Sie mich an! Ich bin nicht erwünscht. Ich bin nicht gewollt. Ich bin nicht geliebt. lch bin ein Findelkind. Ich heiße Feld, wirklich Feld, nur Feld!"
Liebe Freunde, die Welt ist zum Spital geworden. Das Leben ist wie ein Leiden. Jeder trägt seine Last. Heinrich Heine sagt es in seinen Reisebildern so: "Das Leben ist eine Krankheit, die ganze Welt ein Lazarett, der Tod ist unser Arzt." Und immer mehr meinen, neben ihrer Fieberkurve stünde der Namen Feld. Ein herzloser Vater habe sie auf dieser Erde ausgesetzt. Dann sei er mit leisen Sohlen für immer verschwunden. Nun läge es offen zutage, dass sie nicht gewollt, nicht erwünscht, nicht geliebt sind. Findelkinder müsse man sie nennen mit Namen Feld, wirklich Feld, nur Feld. Gott sei’s geklagt!
Und Paulus sagt: "Gott sei gelobt! Auf dem Feld wurde niemand ausgesetzt, sondern über dem Feld von Bethlehem setzte der Lobpreis ein: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!" Als Wickelkind kam Jesus auf diese Welt. Auch der Kleinste und Ärmste und Schwächste sollte es merken, wie ihn dieser Vater liebhat. Jeder ist gewollt, selbst wenn ihn seine Eltern nicht gewollt haben. Jeder ist erwünscht, selbst wenn ihn seine Nächsten verwünschen. Jeder ist geliebt, selbst wenn ihn seine Umgebung hasst. Keiner, aber auch gar keiner ist bei diesem Gott übrig. Der Mensch ist kein Findelkind, sondern Gottes Lieblingskind, Sorgenkind und Herrenkind. Ich bin Kind, wirklich Kind, nur Kind!
Verstehen Sie jetzt, warum dieser Apostel seinen Brief an die ephesinische Gemeinde mit einem Lobpreis beginnt, der in seiner Wucht jede Grammatik sprengt´. Subjekt, Objekt, Prädikat, Satzgegenstand, Satzaussage, Punkt, Komma, Ausrufezeichen, alles ist in diesem längsten griechischen Satz des ganzen Neuen Testaments durcheinandergewirbelt. Sprachwissenschaftler bekommen bei diesem Satzungeheuer eine Gänsehaut und Theologen bekommen bei der Exegese graue Haare, sofern sie noch welche besitzen. Sicher, wer mit dem Seziermesser seiner Vernunft hantiert, wer mit der Ätzsäure der Kritik alles übergießt, wer mit der Kühle seines Verstandes analysiert, wird nichts erkennen. Wer aber betend hineinhorcht, der wird mit einstimmen in den Jubel: Gelobt sei Gott, der Vater, unseres Herrn Jesus Christus, der uns als Lieblingskinder erwählt, der uns als Sorgenkinder erlöst und der uns als Herrenkinder ernannt hat.
1. Erwählte Lieblingskinder
Das sind wir, denn "er hat uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war." Gott hat also ein ganz eigenes und einzigartiges Auswahlprinzip.
Er wählt anders als zum Beispiel Gideon. Dieser altisraelitische Haudegen plante einen Überraschungscoup gegen die Grenznachbarn. Dazu benötigte er einen schlagfertigen Stoßtrupp, aber 33000 Mann meldeten sich freiwillig. Er jedoch musterte die bleichen Gesichter aus und schickte fast zweimal die Hälfte wieder nach Hause. Nur 300 harte Männer behielt er bei sich. Gideons Auswahlprinzip war der Mut.
Aber Gott wählt anders, auch anders als zum Beispiel David. Auf der Flucht vor dem tobenden Saul tauchte er als Guerillakämpfer im Feindesland unter, um von dort aus seine militärischen Operationen fortzusetzen. Nur 600 Vasallen nahm er mit sich, auf die absoluten Verlass war und die mit ihm durch dick und dünn gingen. Davids Auswahlprinzip war die Treue.
Aber Gott wählt anders, auch anders als Salomo. In Jerusalem baute er einen Tempel, eine prächtige Tempelanlage mit Innenhof und Vorhöfen. Menschen pilgerten von weit her, um sich diese architektonische Glanzleistung zu begucken. Aber nur Juden konnten die Tore passieren, die Heiden blieben ausgesperrt. Salomos Auswahlprinzip war die Religion.
Aber Gott wählt anders, ganz anders. Sein Auswahlprinzip ist die Liebe. Er mustert nicht die Mutigen aus. Er siebt nicht die Treuen aus. Er wählt nicht die Religiösen aus. Er liest nicht eine bestimmte Klasse aus. "Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, und das Unedle vor der Welt und das Verachtete, das hat Gott erwählt."
Wir haben einen Gott, der vor Gründung der Welt an uns gedacht hat. Wir haben einen Vater, der seit aller Ewigkeit seine Augen auf uns gerichtet hat. Wir haben einen Herrn, der von Anfang an sein Herz uns zugewandt und geöffnet hat. Seine Kinder sind keine namenlosen Ameisen in einem großen Haufen. Sie sind keine seelenlosen Gartenzwerge in einem schönen Paradies. Sie sind keine unpersönlichen Inventarstücke in einer bunten Welt. Seine Kinder sind Lieblingskinder.
Und wenn uns Zweifel plagen, weil es im Abitur nicht so geklappt hat, weil der Ausbildungsplatz nicht sicher ist, weil die Berufsaussichten alles andere als rosig sind, dann müssen wir hören: Er hat uns erwählt. Und wenn uns Gedanken durch den Kopf gehen, weil andere vorne sind, weil andere Sieger werden, weil andere zu den Auserwählten gehören, dann müssen wir es hören: Er hat uns erwählt. Und wenn uns Depressionen zu schaffen machen, weil wir allein sind, weil wir einsam zuhause sitzen, weil uns niemand zum Freund gewählt hat, dann müssen wir es hören: Er hat uns erwählt. Erwählte Lieblingskinder, das sind wir.
Trotzdem hat er seine liebe Not mit uns. Immer wieder entscheiden wir uns gegen ihn. Immer wieder laufen wir ihm aus den Fingern. Immer wieder wollen wir ohne ihn leben. Ohne Gott leben wollen aber, das ist Sünde. Ohne Gott denken wollen, das ist Sünde. Ohne Gott handeln wollen, das ist Sünde. Sünde ist, und so hat es Paul Schütz gesagt, Sünde ist die Kunst des Lebens ohne Gott. Solche Lebenskünstler aber sind die Sorgenkinder des Vaters. Wenn er sich dennoch nicht verbittert zurückzieht und uns links liegen lässt, so deshalb, weil das Zweite gilt:
2. Erlöste Sorgenkinder
Das sind wir, denn "er hat uns erlöst durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade." Gott hat also ein ganz eigenes und einzigartiges Erlösungsprinzip.
Er löst anders als zum Beispiel Goethe. Dieser große Denker sieht in uns genug Kräfte, um uns aus dem Sumpf der Sünde erheben zu können. "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Goethes Erlösungsprinzip ist das Streben.
Aber Gott löst anders, auch anders als Jean-Paul Sartre. Für ihn sind alle Sünden nur lästige Fliegen, die man verjagen könne. Niemand müsse sich von ihnen plagen lassen. Sartres Erlösungsprinzip ist das Verjagen.
Aber Gott löst anders, auch anders als Marc Twain. In einem Reisebericht schreibt er von einer Fahrt mit der Bergbahn über die schwache Holzbrücke: "Man gedenkt aller seiner Sünden, während der Zug darüberkriecht und bereut sie auch. Aber sobald man die andere Seite erreicht hat, sieht man, dass man sie wirklich vergessen kann." Twains Erlösungsprinzip ist das Vergessen.
Aber Gott löst anders, ganz anders. Seine Erlösungsprinzip ist wieder die Liebe. Mit Streben, Verjagen, Vergessen ist nämlich der Sünde nicht beizukommen, sondern nur mit Blut. Blut ist das Fleckenwasser, das reinwäscht, Blut ist das Säurebad, das wegätzt. Nur Blut tilgt Sünde. Genau das aber hat Gott fließen lassen, so, dass er sich seinen einzigen Sohn vom Herzen riss.
Wir können uns dieses Vater-Sohn-Verhältnis nicht eng genug vorstellen. Wenn wir unseren Buben lieben, der das Haus mit Freude erfüllt und den wir um keinen Goldschatz dieser Erde eintauschen würden, so ist das mir ein schwaches Abbild für den innigen Kontakt zwischen Gott Vater und Gott Sohn. Nicht umsonst pflegten die Kirchenväter diesen Sachverhalt in die unlogische Formel zu pressen "zwei in eins und eins in zwei". Gott ist ohne Jesus nicht vorstellbar und Jesus ohne Gott nicht denkbar. Trotzdem wurde Jesus aus Liebe dahingegeben, geschändet, gepeitscht, genagelt, bis Blut geflossen ist. In diesem Strom ist das große Reinemachen möglich. Nur in diesem Strom können wir gewaschen werden. Allein in diesem Strom gibt es Erlösung von Schuld. "Dass Jesus Christus am Kreuz für die Sünde verblutet ist", erklärt Martin Luther, "dies wissen auch die Teufel und zittern. Dass er aber für meine Sünde verblutet ist, damit beginnt der Glaube."
Und wenn uns Zweifel plagen: ob denn das auch uns gelte, dann müssen wir es hören: "Er hat uns erlöst." Und wenn uns Gedanken durch den Kopf gehen, ob unsere schlimme Rechnung auch noch beglichen werden kann, dann müssen wir es hören: "Er hat uns erlöst." Und wenn uns Depressionen zu schaffen machen, ob denn meine Schuld, die ich keinem Menschen anvertrauen kann und in jeder schlaflosen Nachtstunde wie ein Berg vor mir steht, nicht doch zu groß sei, dann müssen wir es hören: "Er hat uns erlöst." Erlöste Sorgenkinder, das sind wir.
Wer aber nun die Christen mit verwöhnten Hätschelkindern verwechselt, die nur noch den Schoß des Vaters belagern, der höre auch noch das Letzte:
3. Ernannte Herrenkinder
Das sind wir, "denn er hat uns ernannt, dass wir etwas seien zum Lob seiner Herrlichkeit." Schauen wir auch noch auf Gottes eigenes und einzigartiges Ernennungsprinzip.
Er ernennt anders als zum Beispiel der Bundespräsident. Der kann nur dem Kanzler eine Ernennungsurkunde aushändigen, der von dem Parlament gewählt worden ist. Sein Ernennungsprinzip ist die Wahl.
Aber Gott ernannt anders, auch anders als zum Beispiel das Nobelpreiskomitee. Das macht den zum Preisträger, der am meisten geleistet hat. Sein Ernennungsprinzip ist die Leistung.
Aber Gott ernennt anders, auch anders als der Rektor. Er bestimmt den zum Vertrauenslehrer, der das meiste Vertrauen an der Schule genießt. Sein Ernennungsprinzip ist das Vertrauen.
Aber Gott wählt anders ganz anders. Sein Ernennungsprinzip ist noch einmal die Liebe. Ohne Wahl, ohne Leistung, ohne Vertrauen adelt er uns zur Sohnschaft. Er sagt es nicht nur mündlich. Er gibt es auch schriftlich. Er macht es mit dem Siegel des Heiligen Geistes sogar amtlich: zum Herrenkind ernannt.
Und weil noblesse oblige, weil Adel verpflichtet, sollen wir uns auch diesem Stand würdig erweisen. Geldverdienen kann doch nicht mehr das Erste sein: "dass wir etwas seien zum Lob seiner Herrlichkeit". Karrieremachen kann noch nicht mehr das Wichtigste sein: "dass wir etwas seien zum Lob". Spitzenreiter sein kann doch nicht mehr das Ziel sein: "dass wir etwas seien zum Lob". Ob als Stift oder Chef, ob als Angestellter oder Beamter, ob als halbe Kraft oder Vollkraft, wenn wir nur etwas sind zum Lob seiner Herrlichkeit!
Und wenn uns Zweifel plagen, ob uns dieser Anzug nicht drei Nummern zu groß ist, müssen wir es hören: "Er hat uns ernannt." Und wenn uns Gedanken durch den Kopf gehen, oh wir solcher Lebensaufgabe je gewachsen sind, müssen wir es hören: "Er hat uns ernannt." Und wenn uns Depressionen zu schaffen machen, ob denn meine Kleinkariertheit und Engstirnigkeit und Widerborstigkeit ihm doch nicht nur Schande bereitet, müssen wir es hören: "Er hat uns ernannt."
Ernannte Herrenkinder, das sind wir. Deshalb: "Gelobt sei Gott der Vater unseres Herrn Jesu Christi!" Wer kann sich jetzt noch diesem Lob entziehen? Wer?
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]