Wo stehen wir? Jesus und das Alte Testament, Teil zwei.
Beim letzten Mal habe ich euch mitgenommen in eine Spannung, in die wir als Menschen der Postmoderne hineingestellt werden. Diese Spannung nimmt meiner Meinung nach immer mehr zu. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich Lust, zu diesem Thema eine eigene Predigt zu halten.
Die Spannung entsteht dadurch, dass der Zeitgeist den Menschen auf eine bestimmte Weise wahrnimmt. Der postmoderne Mensch definiert sich über sein Innenleben. Er sagt: „Ich bin das, was ich fühle.“
Ein Satz wie „Ich bin eine Frau im Körper eines Mannes“ ist heute völlig normal. Vor einem halben Jahrhundert hätte er nur Kopfschütteln ausgelöst. Vor fünfzig Jahren hätte man den Kopf geschüttelt, heute gibt es Testosteronbehandlungen und Mastektomien auf Krankenschein.
Das hat sich innerhalb eines halben Jahrhunderts geändert. Und warum? Ganz einfach: Weil sich unsere Zeit geändert hat. Mit der Zeit ändert sich auch das Denken darüber, wie ich über mich selbst denke und wie der Mensch sich wahrnimmt.
Deshalb gilt heute: Du bist, was du fühlst. Und wehe, du ignorierst, was du fühlst! Nur wenn wir ausleben, was wir fühlen, sind wir authentisch. Nur dann können wir ein selbstbestimmtes und gesundes Leben führen.
Diese These wird uns durch die Welt vermittelt – über Social Media, Serien, Werbung, aber auch durch das, was wir in der Schule, an der Universität und am Arbeitsplatz erleben. Diese Botschaft prasselt täglich auf uns ein.
Es ist vielleicht das erste Mal in der Kulturgeschichte der Menschheit, dass unser inneres Erleben zum Fixpunkt unseres Seins wird. Was ich in mir wahrnehme, das ist Wahrheit. Mein Wohlbefinden wird zum Lebenssinn und zum Gradmesser für meine Entscheidungen.
Und ich hoffe, dass ihr, die ihr hier sitzt, ein klein wenig den Wahnsinn und die Lüge dahinter versteht. Wahnsinn, weil das, was ich fühle, nicht grundsätzlich wahr und richtig sein muss.
Darf ich ein Beispiel machen? Warst du schon mal auf eine Person grollig? Ich glaube, jeder von euch hat das schon erlebt. Fühlt sich das gut an? Na klar, logisch, für den Moment. War das richtig? Nein. War es hilfreich? Nein. War es im Sinne Gottes? Nein.
Hier merken wir schon: Unsere Gefühle sind ganz oft das, was die Bibel „Fleisch“ nennt – ein Einfallstor für Sünde. Und deswegen muss uns Christen eines klar sein: Wenn wir uns auf unsere Gefühle fixieren, dann wird das mit dem Wandel im Geist nicht funktionieren. Und zwar einfach deshalb nicht, weil geistliches Leben überhaupt nur möglich ist, wenn ich es schaffe, die Impulse, die in mir emotional aufkommen, zu sortieren.
Wenn ich diese Impulse, das, was ich fühle, nicht danach sortiere, was sich gut anfühlt und was nicht, sondern danach, was vom Heiligen Geist kommt und zu ihm passt, und was einfach nur Mumpitz ist, den ich möglichst schnell wieder loswerden muss, dann kann ich nicht mehr geistlich leben. Wandel im Geist ist schlicht und ergreifend praktisch nicht mehr möglich.
Jetzt versteht ihr vielleicht, warum unsere Gesellschaft sich so um Achtsamkeit dreht, warum das so ein Riesenthema geworden ist. Oder warum es heute völlig normal ist, dass Christen sagen: „Ja, ich bin nicht zum Gottesdienst gekommen, ich habe mich nicht danach gefühlt.“ Aha, okay – Wohlbefinden vor Weisheit, Wohlbefinden vor Gehorsam. Und ihr könnt das Spiel weiterspielen.
Es durchzieht unser ganzes Leben, dass wir viel zu sehr darauf schauen, was in uns vorgeht, uns darüber definieren und danach Entscheidungen treffen. Das ist der Tod im Topf.
Aber ich hatte euch das postmoderne Menschenbild eigentlich nur vorgestellt, um darauf hinzuweisen, dass das Problem an einer anderen Stelle wieder auftaucht – nämlich beim Thema Ablehnung.
Der postmoderne Mensch kommt viel weniger gut mit Ablehnung klar, wenn es darum geht, was wahres Menschsein bedeutet. Dabei geht es nicht mehr darum, wie sehr ich Jesus ähnlich bin, sondern darum, dass wahres Menschsein auf der Ebene innerer Ausgeglichenheit wahrgenommen wird.
Wenn das so ist, fällt es mir natürlich schwer, als Vertreter einer konservativen Bibelauslegung aufzutreten und genau zu wissen, dass eine Gesellschaft daraus entsteht, die mich einfach nur doof finden wird. Diese Gesellschaft wird mich ablehnen, zumindest ein Stück weit.
In dieser Situation werde ich mit einem Menschenbild konfrontiert, das sich, ob ich das will oder nicht, irgendwo doch in meinem Erleben und Verhalten widerspiegelt. Dabei merke ich, dass ich in eine Spannung gerate: Hier steht die Bibel mit ihren Aussagen, dort die Gesellschaft, die sagt, dass sie das, was in der Bibel steht, doof findet. Und wenn ich mich öffentlich auf die Seite der Bibel stelle, werde ich abgelehnt.
In diese Spannung hinein, in das Bedürfnis, mich wohlzufühlen, aber dennoch Ablehnung in der Gesellschaft zu erfahren, bringt die liberale Universitätstheologie einen scheinbaren Ausweg. Dieser Ausweg besteht in der Idee, die wir letzten Sonntag besprochen haben: Ich könnte doch mit Jesus gegen all die Stellen in der Bibel argumentieren, die mir nicht passen.
Wir sind letztes Mal bei der Frage stehen geblieben, ob ich mit Jesus gegen das Alte Testament argumentieren kann, im Sinne von: Da steht etwas in der Bibel, aber jetzt kommt Jesus, und mit ihm gilt das, was dort steht, einfach nicht mehr.
Funktioniert das? Das ist die entscheidende Frage.
Also lasst uns der Frage nähern: Was denkt Jesus über das Alte Testament? Wie geht er mit dem Alten Testament um? Ziel ist es, dass wir selbst in der Lage sind, diesen Fokus im Blick auf die Bibel einzunehmen. Es geht also darum, die Bibel mit den Augen Jesu zu sehen – durch die „Jesusbrille“ die Bibel zu lesen.
Dabei stellen sich Fragen wie: Welchen historischen Wert misst Jesus dem Alten Testament bei? Welche Autorität besitzt das Alte Testament für ihn? Wer ist in seinen Augen der Autor? Das sind die Fragen, die wir beantworten wollen.
Fangen wir ganz langsam an: Welchen historischen Wert misst Jesus dem Alten Testament bei? Diese Frage ist deshalb interessant, weil Jesus nicht nur irgendein Wanderprediger ist, der nicht mehr weiß als seine Zeitgenossen. Das müssen wir gut verstehen.
Bei anderen Religionsstiftern, wie Mohammed oder Zoroaster, kann man oft sagen: „Na ja, die wussten es halt nicht besser, sie waren Kinder ihrer Zeit.“ Dieses Argument zieht bei Jesus nicht. Und zwar aus folgendem Grund: Jesus ist nicht einfach nur Mensch, sondern Mensch in einer ganz besonderen Beziehung zum Vater. Eine Verbindung, die so eng ist, dass Jesus sagt – hier spricht er mit einem seiner Jünger (Johannes 14, Verse 10 und 24):
„Glaubst du nicht, dass ich in dem Vater bin und der Vater in mir ist?“ Das ist ein Vorwurf: „Hast du nicht verstanden, wie eng meine Beziehung zum Vater ist?“
Er sagt weiter: „Die Worte, die ich zu euch rede, rede ich nicht von mir selbst.“ Und ein bisschen später: „Wer mich nicht liebt, hält meine Worte nicht, und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein, sondern des Vaters, der mich gesandt hat.“
Wir dürfen nie vergessen, dass wir Jesus nicht einfach auf eine Stufe mit anderen Religionsstiftern stellen dürfen. Sein Anspruch ist riesig. Er sagt: „Wenn ich den Mund aufmache, dann spricht Gott der Vater durch mich zu euch.“
Johannes der Täufer hat genau dasselbe formuliert. In Johannes 3, Vers 34 heißt es: „Denn der, den Gott gesandt hat“ – hier redet Johannes der Täufer über Jesus – „der redet die Worte Gottes.“
Jesus redet, und es ist der Vater, der durch ihn redet. Deshalb steckt in den Worten Jesu auch die Autorität des Vaters. Es ist wichtig, dass wir das verstehen, denn das macht Jesus unter allen Religionsstiftern so absolut einzigartig.
Und deswegen noch einmal die Frage: Welchen historischen Wert misst Jesus dem Alten Testament bei?
Ich möchte eine These in den Raum stellen, und zwar lautet sie folgendermaßen: Jesus setzt voraus, dass es sich bei den historischen Erzählungen des Alten Testaments um Tatsachenberichte handelt. Das Alte Testament ist für den Herrn Jesus keine Sammlung von Mythen, erst recht keine Erfindung von Menschen.
Es gibt nirgends bei dem, was er sagt, bei seinen Zitaten oder bei seinen Bezügen auf das Alte Testament irgendeine Form von Einschränkung oder Relativierung. Deshalb habe ich mir gedacht, ich gönne euch etwas, was ihr wahrscheinlich nur einmal in eurem Leben macht. Wir schauen uns einfach einmal an, worauf der Herr Jesus im Alten Testament Bezug nimmt.
Ich gebe euch einfach mal alle Stellen, zumindest alle, die ich gefunden habe. Das dürften etwa 95 sein. Und ich spoilere schon mal das Ergebnis, okay? Ich spoilere mal: Wenn wir einfach durchgehen, was der Herr Jesus eigentlich aus dem Alten Testament zitiert und worauf er Bezug nimmt, dann werden wir feststellen, dass er bestens mit dem Alten Testament vertraut ist.
Seine Zitate stammen aus ganz unterschiedlichen Stellen im Alten Testament. Der Clou ist – und ich muss fast schmunzeln – dass der Heilige Geist im Neuen Testament überliefert hat, der Herr Jesus dürfte ja viel, viel mehr zitiert haben, als in den vier Evangelien aufgeschrieben ist. Aber die Stellen, die der Heilige Geist ausgewählt hat, um sie weiterzugeben, damit man auch in zweitausend Jahren noch darüber schmunzeln kann, sind genau die Texte oder Teile aus dem Alten Testament, die heute am meisten unter Beschuss stehen.
Es sind die Dinge, bei denen Jesus sagt: „Habt ihr nicht gehört?“ Es sind genau die Dinge, die Jesus zitiert. Ich zeige euch mal, was ich meine.
Jetzt nicht erschrecken, zack! Okay, wir gehen das mal durch, damit ihr eine Vorstellung davon habt, wie breit die Flut von Zitaten und Bezügen zum Alten Testament ist – einfach nur in dem, was der Herr Jesus hier so zwischendurch in seine Predigten, in seine Antworten und in seine Gespräche einfliessen lässt.
Da heißt es hier also, wo fängt das an? Es fängt damit an, dass der Herr Jesus wie selbstverständlich – und ich gehe einfach mal durch – auf Adam und Eva Bezug nimmt. Er nimmt ganz selbstverständlich Bezug auf die Ehe und sagt, das ist das Modell für alles, was du zum Thema Ehe erst mal verstehen musst: ein Mann, eine Frau und hoffentlich ein Leben lang.
Dann geht es weiter: Der Mord an Abel – ja, kommt, das ist der erste Mord, der geschehen ist, sagt er. Die Flut zur Zeit Noas ist ein absolutes Vorbild dafür, wenn du wissen willst, wie sich Leute verhalten werden, kurz bevor der Herr Jesus wiederkommt. Schau dir an, was sie gemacht haben, kurz bevor die Flut kam.
Abraham als Person, na klar, die Einführung der Beschneidung zur Zeit der Väter, also der Patriarchen unter Abraham, Isaak und Jakob – logisch. Mose und das ganze Gesetz – da gibt es unendlich viele Bezüge. Die Zerstörung von Sodom und Gomorra, ja, runtergebrochen bis auf Lot, der da gewohnt hat, und seine Frau. Oder die Existenz von Isaak und Jakob, na klar.
Auch die Geschichte mit dem Wasser – erinnert euch an unsere Predigt über Johannes 6 – ganz klar, da wird etwas erzählt, das war wie damals, aha, spannend. Selbst die Ereignisse rund um die bronzene Schlange, die aufgestellt wird und die zu einem Bild für Jesus am Kreuz wird.
Oder David, der die Schaubrote isst oder der sich als Schreiber der Psalmen hervortut. Dann haben wir hier eine Königin des Südens, die Salomo besucht. Oder wir haben natürlich Salomo als eine Person mit unglaublichem Wohlstand.
Aber auch kleinere Erzählungen wie Elija und die Witwe aus Sarepta, Elisa und die Heilung des Naaman. Ganz generell wird davon gesprochen, dass die Propheten Leute waren, die einfach viel gelitten haben. Selbst auf die falschen Propheten, die es ja auch im Alten Testament gibt, wird einmal Bezug genommen.
Jonah und der große Fisch, ja, denkst du dir, oh, ist da – tut mir leid – und nicht nur da liest er das Zitat durch. Die Buße der Einwohner von Ninive auf die Bußpredigt des Jonah hin ist da, kommt nachher noch mal, werdet ihr sehen, ein ganz interessanter Text.
Jesaja als Prophet, Daniel als Prophet, Punkt, Punkt, Punkt.
Warum gebe ich euch das? Ich gebe euch das, weil es eine Sache zu sagen gibt: Übrigens, Jesus ist einer, der öfter das Alte Testament zitiert. Das nehmt ihr mit, das speichert ihr euch ab. Und weil ihr mich kennt und irgendwie wisst, Jürgen erzählt normalerweise keinen Stuss, nehmt ihr das als Fakt mit, vielleicht auch ungeprüft anderen weiter.
Und ich dachte mir, nee, ich gebe euch mal das komplette Bild, sodass, wenn ihr sagt, ich möchte das nacharbeiten oder ich möchte wirklich verstehen, an welchen Stellen er denn ins Alte Testament hinein greift, dann merkt man: Das sind nicht nur ein oder zwei Stellen, sondern das ist einfach eine Flut, eine Fülle.
Deswegen dieser Spoiler: Das gesamte Alte Testament ist für ihn eine Fundgrube, aus der der Herr Jesus argumentativ schöpft. Und er tut das in der Art und Weise, wie er redet. Er tut das so, dass völlig klar wird: Für ihn sind diese Dinge wirklich passiert.
Ein schönes Zitat möchte ich hier noch mitgeben, und zwar aus Lukas 11, um zu zeigen, wie der Herr Jesus die Historizität, also die historische Glaubwürdigkeit und Geschichtlichkeit des Alten Testaments, in einem großen Bogen betrachtet.
In Lukas 11, Vers 47 heißt es: „Wehe euch! Denn ihr baut die Grabmäler der Propheten, eure Väter aber haben sie getötet. So seid ihr Zeugen und stimmt den Werken eurer Väter bei, denn sie haben sie getötet, ihr aber baut ihre Grabmäler. Darum hat auch die Weisheit Gottes gesagt: Ich werde Propheten und Apostel zu ihnen senden, und einige von ihnen werden sie töten und verfolgen, damit das Blut aller Propheten, das von Grundlegung der Welt an vergossen worden ist, von diesem Geschlecht gefordert wird.“
Jetzt kommt der Vers, auf den es mir ankommt. Es geht darum, wie geschichtlich der Herr Jesus das Alte Testament nimmt. Er sagt hier einfach, es geht um das Blut der Propheten, um Märtyrer in der Bibel, und er sagt: „Von dem Blut Abels an bis zu dem Blut des Zecharia, der zwischen dem Altar und dem Haus umkam. Ja, sage ich euch, es wird von diesem Geschlecht gefordert werden.“
Merkt ihr, hier kommt ein Argument: Ihr seid die Bösen, ihr bringt ständig die Leute um, die Gott euch schickt, weil ihr nicht hören wollt. Und ihr macht das nicht erst jetzt, wo ich da bin, sondern eigentlich von Abel bis Zecharia.
Jetzt muss man verstehen: Abel ist der erste Tote in der Bibel. Du liest vier Seiten Bibel, und einer ist tot. Zecharia ist ein Prophet, den treffen wir in 2. Chronik 24. Dort heißt es in den Versen 20 und 21: „Und der Geist Gottes kam über Zecharia, den Sohn des Priesters Jojada, und er trat vor das Volk und sagte zu ihnen: So spricht Gott, warum übertretet ihr die Gebote des Herrn? So wird es euch nicht gelingen, weil ihr den Herrn verlassen habt, so hat auch er euch verlassen.“
Und sie machten eine Verschwörung gegen ihn und steinigten ihn auf Befehl des Königs im Vorhof des Hauses des Herrn. Darauf nimmt der Herr Jesus Bezug. Du hast den Tempel, da gibt es den eigentlichen Tempel, es gibt einen Vorhof, und dort wird er gesteinigt.
Jetzt merkt ihr schon: Wenn der Herr Jesus hier formuliert „von dem Blut Abels“, dem ersten Märtyrer in der Bibel, „bis zu dem Blut Zecharias“, dann muss man eines wissen: Die hebräische Bibel ist anders sortiert als die deutsche. Die hebräische Bibel, also das Alte Testament, hat eine andere Reihenfolge. Das zweite Buch Chronik, das bei uns als erstes und zweites Buch getrennt ist, ist in der hebräischen Bibel ein einziges Buch. Außerdem ist das Buch Chronik das letzte Buch der hebräischen Bibel, dort, wo bei uns das Buch Maleachi steht.
Das bedeutet: Abel ist der erste Märtyrer, der erste, der in der Bibel stirbt. Von seinem Blut bis zum Blut des letzten Opfers – wenn man eine hebräische Bibel durchliest, findet man diese Reihenfolge vom ersten bis zum letzten Buch. Von Abel bis Zecharia bedeutet so viel wie: Vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel kann ich mir aussuchen, wer da umgebracht wird. Das sind alles reale Tote, das ist alles Geschichte. Das ist etwas, wofür in diesem Fall die Gesetzesgelehrten verantwortlich sind.
Und es ist genau dieser geschichtliche Blick auf das Alte Testament, den wir wahrnehmen müssen. Deswegen startet der Herr Jesus hier auch mit der Formulierung „von Grundlegung der Welt an“. Er will bewusst geschichtlich formulieren.
Die Frage, die ich beantworten möchte, lautet: Welchen historischen Wert misst Jesus dem Alten Testament bei?
Meine These ist, dass Jesus voraussetzt, dass es sich bei den historischen Erzählungen des Alten Testaments um Tatsachenberichte handelt. Er vermittelt nirgends – und ich sage das, weil ich das Neue Testament wirklich gut kenne – an keiner Stelle den Eindruck, dass er an der historischen Wahrheit des Alten Testaments zweifeln würde.
Das betrifft gerade solche Erzählungen, bei denen man zunächst denkt: Adam und Eva, Noah und die Flut, Mose und der Auszug sowie die Gesetzgebung. Ich schmunzle fast, wenn ich an Jona und den Fisch denke, versteht ihr?
Nun zum Einwand, der auf der Hand liegt: Kann es nicht sein, dass der Herr Jesus diese Erzählungen aus dem Alten Testament verwendet, selbst natürlich weiß, dass sie nie so passiert sind, aber trotzdem so tut, als ob? Weil er weiß, dass seine Zuhörer daran glauben, und weil ihm die Vermittlung von Theologie wichtiger ist, als hier aufzuklären, dass das alles nur Legenden sind. Versteht ihr, was ich meine?
Das ist ein toller Einwand. Es ist deshalb ein toller Einwand, weil ich natürlich eine Legende oder auch eine Fiktion verwenden kann, um Theologie zu vermitteln. Natürlich kann ich das.
Beispiel gefällig? Ich weiß nicht, wer von euch den Herrn der Ringe kennt. Das ist ein Roman. Ich hoffe, ich überrasche niemanden: Nichts darin ist wahr, nichts darin ist Geschichte.
Ich nehme einen Roman, und wenn ich keinen Text hätte, könnte ich aus dem Stand eine Predigt halten. Anhand des Buches Herr der Ringe könnte ich zeigen, dass das Böse in der Welt nur von einer Gemeinschaft überwunden werden kann. Es braucht die Gruppe der Gefährten, um das Böse in die Knie zu zwingen. Und das wissen wir alle, die wir den Herrn der Ringe gelesen haben.
Es wäre ein Leichtes, eine Übertragung zu machen und zu sagen: Es braucht Gemeinde, Gemeinde, in der du deinen Platz einnimmst. Egal, ob im Hinterland oder an der Spitze, egal, ob als Ringträger oder als eine Schildmaid – das spielt überhaupt keine Rolle. Du musst deinen Platz in der Gemeinde einnehmen, damit wir in Spandau und Falkensee das Böse niederringen.
Du wirst merken: Ja, stimmt, was ich gemacht habe, ich habe eine Fiktion benutzt, um ein theologisches Konzept zu vermitteln. Das theologische Konzept lautet: Nur eine Gruppe überwindet das Böse. Wir sind einzeln dazu nicht in der Lage, weder im persönlichen Leben noch in einem gesellschaftlichen Umfeld. Auf der anderen Seite steht das Bild der Gefährten.
Ich kann das machen. Ich will noch einmal betonen: Der Herr Jesus vermittelt nirgends den Eindruck, er würde das Alte Testament nicht für völlig historisch halten.
Wenn ich jetzt hierherkomme und die Frage stelle, ob die Geschichten und Personen des Alten Testaments vielleicht Legenden sind, dann tue ich das nicht, weil mir das Neue Testament irgendeinen Hinweis darauf gibt.
Ich stelle diese Frage allein deshalb, weil die liberale Theologie unserer Zeit mit Mitteln wissenschaftlicher Bibelarbeit – also Bibelwissenschaft – behauptet, dass das, was im Alten Testament steht, nicht stimmen könne. Sie sagen, man müsse mit Jesus gegen das Alte Testament argumentieren. Das Alte Testament sei nur eine Sammlung von Legenden und Mythen.
Ich schaue mir an, was Jesus wirklich gedacht hat und wie er mit dem Alten Testament umgegangen ist. Dabei stelle ich fest: Nein, ich habe nicht den Eindruck, dass er diese Position einnimmt.
Aber ich finde es fair, wenn wir für zwei Minuten, ohne zu zweifeln, die Rolle von Zweiflern einnehmen. Kann es sein, dass das Alte Testament vielleicht nur eine Sammlung von Legenden und Mythen ist?
An dieser Stelle würde ich zwei Dinge formulieren. Erstens: Es gibt natürlich Bezüge zum Alten Testament, die auch dann noch funktionieren, wenn die Erzählungen des Alten Testaments frei erfunden wären. Ich habe euch das ja eben vorgemacht.
Das Konzept der Gruppe der Gefährten kann zum Beispiel immer noch jemanden motivieren, sonntags in die Gemeinde zu kommen. Also ja, das kann sein. Es gibt Bezüge, die funktionieren auch dann, wenn das Alte Testament aus Legenden bestehen würde.
Das bedeutet: Die Wahrhaftigkeit und auch die Authentizität von Ereignissen sind keine zwingenden Voraussetzungen dafür, dass man aus ihnen gute Theologie ableiten kann. So weit geht ihr mit, oder?
Es ist ein klein bisschen kompliziert, aber ich sage es noch einmal: Dass etwas wahrhaftig ist und wirklich passiert, ist keine Voraussetzung, um es nicht doch zu benutzen und anhand von etwas Ausgedachtem, wie einem Roman, gute Theologie zu vermitteln. Das funktioniert.
Wenn der Herr Jesus zum Beispiel sagt: Salomo, ja, er vergleicht die Schönheit der Lilien mit der Herrlichkeit des Salomo – selbst wenn Salomo nur Legende wäre und sich das alle nur ausgedacht hätten, würde dieser Vergleich noch funktionieren.
Ich könnte die Schönheit der Lilien mit einer fiktiven, bekannten Figur vergleichen. Das würde meinem Argument etwas Lebendigkeit nehmen, logisch. Es würde ihm auch ein bisschen Greifbarkeit nehmen, aber es würde noch funktionieren.
Es würde funktionieren, weil Wahrhaftigkeit und Authentizität von Ereignissen keine Voraussetzungen sind, um aus ihnen gute Theologie abzuleiten. Das ist der erste Punkt.
Und jetzt kommt ein zweiter Punkt. Das ist wahr. Aber es gibt noch etwas, das ebenfalls wahr und viel interessanter für unsere Frage ist.
Zweitens gilt: Das, was ich eben sagte, trifft für einige theologische Aussagen zu. Es gibt jedoch theologische Aussagen, die einfach voraussetzen, dass der Bezug zum Alten Testament echt ist. Dass also etwas Historisches dahintersteckt. Sonst funktionieren diese Aussagen nicht.
Zu sagen, Jesus habe gewusst, dass das alles Legenden sind, und habe nur so getan, ist in manchen Fällen vorstellbar. Es gibt einige Bezüge und Zitate aus dem Alten Testament, bei denen ich mir das noch vorstellen kann. Ich muss es nicht denken, aber ich könnte es mir vorstellen.
Ganz schwierig wird es jedoch, wenn ich Bezüge zum Alten Testament habe, bei denen ich sagen muss: „Sorry, die funktionieren eigentlich nicht mehr.“ Das ganze Zitat wird absurd und geht völlig ins Leere, wenn nicht wirklich eine geschichtliche Realität dahintersteckt.
Historizität ist also nicht immer wichtig, aber manchmal eben doch. Manche Aussagen von Jesus machen keinen Sinn und verlieren komplett ihre Überzeugungskraft, wenn das Ereignis, auf das sie sich beziehen, nie stattgefunden hat.
Matthäus 12,41 ist so eine Stelle. Dort spricht Jesus seine Gerichtsbotschaft aus. Er warnt die Zuhörer, dass sie gerade dabei sind, den größten Fehler zu machen, den man machen kann. Es sind Leute, die seine Predigten hören und sich nicht bekehren.
Dann sagt er: „Männer von Ninive werden im Gericht mit diesem Geschlecht aufstehen und es verdammen, denn sie taten Buße auf die Predigt Jonas, und siehe, mehr als Jonah ist hier.“
Das ist eine ganz ernste Warnung an seine Kritiker, die Schriftgelehrten und Pharisäer, und mit ihnen das ganze Gefolge. Hier spricht der zukünftige Richter. Er beschreibt, was im Endgericht geschehen wird. Er beschreibt eine reale historische Situation, die noch vor ihnen liegt.
Die ganze Wucht des Arguments hängt daran: Es funktioniert nur, wenn Jonah und seine Bußpredigt bei den Leuten in Ninive, wenn es sie überhaupt gegeben hat.
Hier prophezeit Jesus, was im Gericht passieren wird, und er nimmt Bezug auf die Vergangenheit. Wenn Jonah und seine Bußpredigt nur Legenden wären, wenn nichts davon real ist, wer wird dann im Gericht aufstehen und diese Leute verdammen?
Genauso im nächsten Vers: „Eine Königin des Südens wird auftreten im Gericht mit diesem Geschlecht und wird es verdammen, denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören, und siehe, mehr als Salomo ist hier.“
Es sind solche Stellen – und davon gibt es mehr. Im Skript habe ich euch eine Fußnote beigefügt, in der ihr einen Link zu einem Buch findet, wo ihr ein bisschen nachlesen könnt.
Diese Stellen machen deutlich, dass Jesus das Alte Testament als wörtliche Geschichte versteht und mit dem, was im Alten Testament passiert, argumentiert.
Wer ist das größte Vorbild im Glauben, nicht zurückzublicken und nach vorne zu schauen? Lots Frau. Warum? Sie hat vorgemacht, was passiert, wenn man zurückschaut. Das ist ganz einfach.
Dieses Argument kommt genau so in Lukas 17 vor.
Jesus setzt voraus, dass es sich bei den historischen Erzählungen des Alten Testaments um Tatsachenberichte handelt. Nichts in seinem Gebrauch des Alten Testaments deutet darauf hin, dass er die Texte einfach nur für eine Sammlung von Legenden und Mythen hält. Für ihn ist das Alte Testament ein Geschichtsbuch – mit realen Menschen, realen Ereignissen und realer Geschichte.
Er zitiert aus vierzehn Büchern des Alten Testaments, und kein einziges dieser Zitate gibt einen Hinweis darauf, dass er das, was er zitiert, für frei erfunden oder nicht geschehen hält. Es ist wichtig, dass wir das verstehen. Mir geht es darum, dass wir lernen, die Bibel so zu lesen, wie Jesus sie gelesen hat.
Die Kritiker sagen, man könne mit Jesus gegen die Bibel argumentieren – in dem Fall gegen das Alte Testament und gegen das, was einem darin nicht passt. Doch nun merken wir, dass Jesus keineswegs ein Kritiker des Alten Testaments ist. Vielmehr benutzt er das gesamte Spektrum an Erzählungen des Alten Testaments, um einzelne Geschichten in seine Predigten einzubauen.
Er zeigt damit, dass das, was dort steht, nicht nur irgendwie wahr und geschehen ist, sondern auch einen Bezug zum Leben seiner Zuhörer hat. Sie tun gut daran, diese Geschichten nicht einfach nur zu lesen und als Legenden abzuhaken, sondern die geistlichen Lektionen zu lernen, die in diesen alten Geschichten und Erzählungen verborgen sind.
Deshalb mein Fazit: Wenn wir die Bibel so lesen wollen, wie Jesus sie gesehen hat, dann tun wir gut daran, das Alte Testament als ein Geschichtswerk zu begreifen, dem wir vertrauen können – genau so, wie Jesus ihm vertraut hat. Amen!
Nächste Woche folgen zwei weitere kleine Punkte.
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