Seine Kinder
Wer bin ich? Wenn ich in den Spiegel schaue, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Wer bin ich eigentlich? Wenn ich auf die Leute höre, bin ich mir im Unklaren, ob Hochmut oder Schwermut die angemessene Reaktion ist. Wer bin ich wirklich, liebe Gemeinde?
Der Zeitgeist sagt: Du bist ein Herr, befreit von allen Ketten. Dein Elternhaus presst dich nur in eine familiäre Zwangsjacke, die dir keine eigene Bewegung erlaubt; der Vater soll endlich Zahlmeister werden, nicht Zuchtmeister bleiben. Deine Schule zwingt dich nur in eine gesellschaftliches Prokrustesbett, das dir die notwendige Ichwerdung verunmöglicht; mache kaputt, was dich kaputtmacht. Deine Ehe sperrt dich nur in einen goldenen Käfig, der dir die große Liebe verweigert; einander treu bleiben, bis der Tod euch scheidet - ach wie rückständig; der Vorschlag jenes Theologen ist richtig: einander treu bleiben, solange es euch gefällt. Der Zeitgeist sagt: Du bist ein Herr, befreit von allen Ketten. Und der Ungeist sagt: Du bist ein Sklave, gefangen in aller Furcht. Dein Beruf stellt dich vor immer größere und schwierigere Aufgaben; der junge Kollege brennt nur darauf, deinen Platz einzunehmen. Deine Krankheit hindert dich an einer sinnvollen und nutzbringenden Tätigkeit; an morgen ist schon gar nicht mehr zu denken. Dein Alter macht dich zu einem übrigen und entbehrlichen Lebewesen; wie schnell ist man auf dem Abstellgleis. Der Ungeist sagt: Du bist ein Sklave, gefangen in aller Furcht. Und der Schwarmgeist sagt: Du bist ein Zigeuner, nur ein Zigeuner am Rande des Weltalls, namenlos, bedeutungslos, hoffnungslos.
Wer bin ich, fragte schon Bonhoeffer im Gefängnis: "Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich heute dieser oder morgen ein anderer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlicher, wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor dem gewonnenen Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott."
Trotzdem muss es nicht bei dieser fast geisterhaften Verwirrung der Geister bleiben. Hier im Text wird der Zeitgeist, der sagt: "Du bist ein Herr!", hier wird der Ungeist, der sagt "Du bist ein Sklave!", hier wird der Schwarmgeist, der sagt "Du bist ein Zigeuner!", hier wird jeder andere Geist übertönt vom Heiligen Geist, der sagt: "Du bist ein Kind, nicht bedrängt, sondern befreit. Du bist ein Kind Gottes, nicht gepresst, sondern geliebt. Du bist ein Gotteskind."
Und wen diese Aussage skeptisch stimmen und zur Bemerkung veranlassen will, "Dieser Petrus ist doch von allen guten Geistern verlassen!", der erinnere sich an den Satz Martin Luthers, den er im Jahre 1525 an Erasmus nach Rotterdam gerichtet hat: "Der Heilige Geist schreibt Gewissheiten, lauter Bejahungen ins Herz." Er stellt also keine These auf, die zu diskutieren wäre. Er legt auch keine Prognose vor, die einiges für sich haben könnte. Er gibt erst recht keine Vermutung weiter, die nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung der Wirklichkeit entspricht. "Der Heilige Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind." Nun haben wir's schriftlich, schwarz auf weiß, mit Brief und Siegel: nicht Herren, nicht Sklaven, nicht Zigeuner, sondern Gotteskinder.
Schauen wir uns diese Geschöpfe näher an! Das Erste, was uns dabei auffällt, ist dies, dass es sich um Adoptivkinder handelt:
1. Seine Gotteskinder sind Adoptivkinder
Den Adel der Gotteskindschaft hat niemand von Haus aus. Wer in Londons Buckingham-Palast geboren wird, der gehört zum Geschlecht der Mountbatten-Windsors, ob ihm das angenehm ist oder nicht. Und wer in Monacos Fürstenhaus zur Welt kommt, der gehört zum Geschlecht der Grimaldis, ob ihm das im Strumpf ist oder nicht. Und wer im Waldenburger Stammschloss das Licht der Welt erblickt, der gehört zum Geschlecht der Hohenlohe-Langenburger, ob ihm das Juckreiz verursacht oder nicht.
Das blaue Blut der Königs- und Fürstenkinder ist angeboren, das aber der Gotteskinder nicht. Da mag man im christlichen Abendland geboren werden, da mag man in kirchlichen Kreisen zur Welt kommen, da mag man sogar in einem Pfarrhaus das Licht der Welt erblicken, keinem ist der Adel Gottes in die Wiege gelegt. Der Psalmist war Realist, wenn er sagte: "Siehe, ich bin in Sünden geboren". In uns fließt das rote Blut Kains, das vor Neid und Wut kocht. In uns schlägt das böse Herz Lamechs, das nach Rache und Vergeltung schreit. In uns wächst der unbändige Wille Nimrods, der immer mehr Macht auf Erden gewinnen will. Von Natur aus gehören wir alle miteinander zum ganz gemeinen Geschlecht der Menschenkinder, das so wenig zu Gott passt wie das Findelkind zu den Windsors oder der Straßenjunge zu den Grimaldis.
Trotzdem, und das ist das Wunder aller Wunder, hat sich dieser Gott nicht in seinen himmlischen Engelspalast zurückgezogen, um sich diese Sorte Mensch vom Leibe zu halten. An Weihnachten ist er herausgekommen und uns in Jesus ganz nahe auf den Leib gerückt. Ohne irgendwelche Berührungsängste legte er seine Hand auf und sagt: "Ich mag dich!", mehr: "Ich akzeptiere dich!", mehr: "Ich adoptiere dich. Du sollst mein Kind sein. Ja du fehlst mir noch in meiner Familie. Gerade du gehörst zum göttlichen Geschlecht." Dann geht er nach Golgatha, um diesen Adelsbrief mit seinem Blut zu unterschreiben. Das Kreuz ist nicht die Kapitulation des Sohnes, sondern die Adoption seiner Kinder. Wer also dieses Kreuz sieht, und wie ein Graf Zinzendorf davor niederfällt und mit ihm bittet: "Herr, reiß mich in deine Gemeinschaft mit Gewalt hinein", der kann sich "von" heißen, nicht nur von Windsor, Grimaldi oder Hohenlohe, sondern "von Gott".
Manche leiden daran, dass sie im Schatten stehen und nie geehrt werden, aber "von Gott" ist Ehre genug. Manche fürchten sich davor, dass sie dem Morgen schutzlos ausgeliefert sind, aber "von Gott" ist Schutz genug. Manche hoffen darauf, dass sie einmal groß herauskommen, aber "von Gott" ist Größe genug.
Manche hoffen darauf, dass sie einmal groß herauskommen, aber "von Gott" zu heißen ist Größe genug.
Seine Kinder sind Adoptivkinder.
Damit aber nicht der geringste Verdacht aufkommt, es könnte sich dabei im Gegensatz zu leiblichen Kindern um Kinder zweiter Klasse handeln, wird schnell das Zweite hinzugefügt:
2. Seine Adoptivkinder sind Lieblingskinder
Sie leben im persönlichen Kontakt mit dem Vater. Von einem jungen Prinzen las ich, dass ihm eine ganze Schar von Dienstleuten zur Verfügung steht. Ein Kammerdiener besorgt die reiche Garderobe. Ein Hauslehrer hält den notwendigen Unterricht. Ein Privatkoch serviert die leckeren Speisen. Ein Hofnarr füllt die leeren Stunden. Leute gerade genug, die ihm zur Seite stehen, außer dem Vater, der König ist und wahrlich Wichtigeres zu tun hat, als sich auch noch um die Problemchen seines Sprösslings zu kümmern.
Gott ist König, sogar "König aller Könige und Herr aller Herren"(1.Tim.6,15). Himmel und Erde ist ihm untertan. Mit gewaltiger Hand regiert er die Völker. Aber ihm ist nichts wichtiger, als auf das Rufen seiner Kinder zu hören. Jedes hat einen ganz kurzen und einen ganz heißen Draht zum Vater. Einfach "Abba" dürfen sie sagen, das ist das aramäische Papa, das alles unbefangene Vertrauen und alle kindliche Zärtlichkeit in sich birgt. Wenn also die Nacht meines Gemüts verdunkelt und kein Funke diese Finsternis erhellt, dann darf ich zuerst es ihm selber klagen: "Abba, lieber Vater, du kennst meine Schwermut." Und wenn der Schmerz durch die Glieder rast und von keinem Medikament zu stoppen ist, dann darf ich es zuerst ihm selber sagen: "Abba, lieber Vater, du kennt meine Krankheit." Und wenn die Sorge auf dem Herz lastet und von Tag zu Tag schwerer wird, dann darf ich es zuerst ihm sagen: "Abba, lieber Vater, du kennst meine Situation." Und wenn das Heimweh in die Seele kommt und den Heimgegangenen nicht loslassen will, dann darf ich es zuerst ihm selber anvertrauen: "Abba, lieber Vater, du kennst mein Leid." Das ist nicht in den Wind gesprochen. Noch gilt: "Da dieser Elende rief, hörte der Herr."
Adoptivkinder sind eben keine Waisenkinder, sondern Lieblingskinder, die der Fürsorge des Vaters gewiss sind. Paulus sagt: "Der Geist Gottes treibt", genauer: der Geist Gottes begleitet durch die Schwermut, der Geist Gottes führt durch die Krankheit, der Geist Gottes leitet durch jedes Dunkel.
Als Luther und Melanchthon auf einer Visitationsreise die Elbe überqueren wollten, war sie durch heftige Regenfälle angeschwollen. Melanchthon zögerte und sprach sogar vom ungünstigen Stand der Sterne. Luther jedoch sprang jedoch mit einem Satz in das Boot und rief: "Domini sumus", wir sind des Herren, wir gehören dem Herrn, wir vertrauen dem Herrn.
Viele Flüsse sind heute angeschwollen. Eine Flut geht um die Welt. Gefährlich schlagen die Wellen. Trägt unser Boot? Kommen wir durch die Wogen? Erreichen wir das andere Ufer? "Domini sumus", wir sind des Herrn. Das ist die souveräne Überlegenheit seiner Lieblingskinder.
Und noch eins:
3. Seine Lieblingskinder sind Erbkinder
Ein Preis in der Schule ist etwas Schönes, ganz gewiss; eine Nachbesserung des Taschengeldes ist damit in greifbare Nähe gerückt. Oder das Verdienstkreuz im Beruf ist etwas Großes, ganz bestimmt; eine Beförderung wird damit nicht mehr auf sich warten lassen. Eine Goldmedaille bei den Europameisterschaften ist etwas Gewaltiges, ohne Zweifel; ein lukrativer Werbevertrag folgt dem Hochgefühl auf den Fuß.
Aber Christen sehnen sich noch einmal nach etwas ganz anderem. Sie wissen, wie schnell menschlicher Preis, Ehre und Ruhm verwelkt. Weil alle Auszeichnungen der Sterblichkeit unterworfen sind, deshalb wollen sie Herrlichkeit, göttliche Herrlichkeit. Das ist eine Stadt, in der keine Nacht mehr sein wird, weil Gott der Herr sie erleuchtet. Das ist ein Land, in dem keine Träne mehr fließen wird, weil Gott der Herr sie alle abwischt. Das ist ein Reich, in dem kein Tod mehr gestorben wird, weil Gott der Herr diesen letzten Feind endgültig vernichtet hat.
Man versteht den alten Ausleger Johann Albrecht Bengel, wenn er an dieser Stelle innehält, die Feder niederlegt, die Hände faltet und nur noch stammeln kann: "Herrlichkeit, o Gott, was machst du aus uns!" Denn diese herrliche Zukunft ist nicht nur dem Sohn Jesus Christus vorbehalten, sondern auch seinen Kindern in Aussicht gestellt. Paulus unterstreicht es extra: "Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben Gottes und Miterben Christi."
Am Schluss sind wir nicht die Dummen. Am Ende gehen wir nicht leer aus. Am Grab beraubt uns nicht der Tod. Wenn wir seine Lieblingskinder sind, und wir können es jetzt durch ein Ja zu ihm werden, dann sind wir auch Erbkinder, die sich heute schon trotz allem Leiden der zukünftigen Herrlichkeit rühmen, denn, und so sagt es der Apostel im anschließenden Vers: "Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll."
Liebe Gemeinde, immer wieder erreichen uns Briefe oder Telefonanrufe, dieses oder jenes Wort sei im Gottesdienst nicht richtig oder gar nicht verstanden worden. Offenbar gibt es in unserer Stiftskirche Plätze, Ecken oder Nischen, die die Predigt verschlucken. Aber wenn heute nur dies eine Wort verstanden wird, dass wir Gottes Kinder sein können, Adoptivkinder, Lieblingskinder, Erbkinder, dann haben wir genug verstanden, genug zum Leben und genug zum Sterben.
Amen.
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]