
Ihr erinnert euch daran, dass wir uns im Bereich der poetischen Bücher befinden? Die poetischen Bücher in der Bibel umfassen die Bücher Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger und das Hohelied im Alten Testament.
Das Buch Hiob haben wir beim letzten Mal durchgenommen, und heute soll es mit den Psalmen weitergehen. Das Wort „Psalmen“ beziehungsweise das Buch Psalmen hieß natürlich nicht in jeder Sprache so. Im Hebräischen heißt es anders, nämlich „Sefer Tehillim“. Ich würde es so aussprechen. Es bedeutet so viel wie „Buch der Lobpreisungen“. Ich glaube, das wird auch eingängig, wenn man das ein bisschen liest: Buch der Lobpreisungen.
Von diesem hebräischen Begriff leitet sich dann ein griechischer Begriff ab, „Psalmoi“. Davon haben wir den Begriff „Psalmen“. Aus dieser Richtung kommt auch das Wort „Psalter“ als Sammelbegriff für alle Psalmen.
Bei den Psalmen handelt es sich eigentlich um Lieder. Das heißt, es sind Lieder, die man singt. Wir lesen sie normalerweise nur, weil wir die Melodie nicht kennen. Aber wenn ihr sie lest, habt ihr das immer ein Stück weit mit im Blick.
Ursprünglich waren es Musikstücke mit Text, die zu verschiedensten Gelegenheiten eingesetzt wurden. Es sind Dinge, die voller Gefühl sind. Jeder, der bei einem Chor dabei war, hat das erlebt: Man könnte den Text für so ein Lied lesen, aber wenn man es zwei-, drei- oder vierstimmig hört, merkt man, wie die Stimmen versetzt zueinander einsetzen, wie sie unterschiedliche Tonlagen treffen, wie an manchen Stellen eine Betonung sitzt und an anderen Stellen ein sanfter Übergang.
Nur das Lesen hätte mir das nicht vermittelt. Insofern haben wir, wenn wir die Psalmen jetzt nur lesen, das Problem, dass wir die Bewegung, das Gefühl und die Dynamik, die dahinterstecken, im Lied schlecht greifen können. Aber wir dürfen wissen, dass genau das dahintersteckt. Es ist dafür gemacht.
Wir dürfen begreifen, dass das Buch der Psalmen etwas ist, das uns nicht nur auf einer intellektuellen Ebene ansprechen soll, sondern auch auf einer emotionalen. Ich denke, jeder, der das Buch der Psalmen liest, insbesondere in Zeiten der Niedergeschlagenheit, wird merken, dass da eine Seite in ihm angerührt wird, die bei anderen Bibeltexten oft unangetastet bleibt.
Das ist nicht einfach nur Theorie, das ist nicht einfach nur Wissen. Die Bibel bietet sehr viel für den Intellekt, keine Frage. Aber das Buch der Psalmen ist in besonderer Weise geeignet, unsere Gefühle anzusprechen.
Die Leute, die die Psalmen geschrieben haben, haben sie nie so verfasst wie Paulus den Römerbrief. Wenn Paulus den Römerbrief schreibt, denke ich mir: Jetzt schreibe ich eine Abhandlung. Und dann kommt systematische Theologie, mindestens erst mal in den ersten elf Kapiteln.
Wenn jemand einen Psalm geschrieben hat – das werden wir noch genauer bei einzelnen Psalmen betrachten – dann war er mit dem Text in einer bestimmten Situation. Er versucht, diese Situation rüberzubringen. Dabei gibt er uns seine Gedanken, seine Empfindungen, seine Angst zum Teil, seine Hoffnung und seine Zuversicht aus der Situation heraus weiter.
Deswegen sollte man sich an der Stelle, wenn man Psalmen liest, immer auch ein bisschen von der Situation selbst gefangen nehmen lassen. Versucht, euch, wo es möglich ist, hineinzuversetzen: Wie ging es demjenigen?
Das brauchen wir nicht, wenn wir einen Lehrbrief des Neuen Testaments lesen. Dort ist das Emotionale sekundär. Bei den Psalmen müssen wir es ein Stückchen verstehen, sonst werden wir in unserer Auslegung dem Lyrischen, also dem Gefühlvollen, einfach nicht gerecht.
Die Psalmen sind das am häufigsten zitierte Buch im Neuen Testament. Das mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen, doch die meisten Zitate im Neuen Testament stammen aus den Psalmen. Etwa fünfzig Psalmen werden dort entweder wörtlich oder in freier Anspielung zitiert.
Dies zeigt uns, dass die Psalmen einen stark prophetischen Charakter besitzen. Mit „prophetisch“ meine ich, dass ihr Inhalt zu einem späteren Zeitpunkt relevant wird. Darüber hinaus offenbart sich durch den prophetischen Charakter noch eine weitere Eigenschaft: Die Psalmen haben einen sehr persönlichen Charakter.
Sie sind etwas, das zur Zeit der Apostel – also einige Jahrhunderte nach der Abfassung des letzten Psalms – immer noch von großer Bedeutung war. Der älteste Psalm ist wahrscheinlich der Psalm von Mose, während der jüngste Psalm in die Zeit von Esra datiert wird, also etwa ins fünfte Jahrhundert vor Christus.
Selbst zur Zeit der Apostel war das, was in den Psalmen gesagt wurde, unglaublich aktuell. Daraus können wir für uns eine wichtige Lektion ziehen: Prophetie in der Bibel ist niemals abstrakt. Sie will uns persönlich treffen und ansprechen. So zeigen es auch die Psalmen im Leben der neutestamentlichen Gläubigen.
Wie ist der Herr Jesus mit den Psalmen umgegangen?
Ich habe hier ein Zitat von Arno C. Gäbelein, einem Bibellehrer, das ich vorlesen möchte. Er sagt, unser Herr verwendete die Psalmen vielleicht öfter als irgendein anderes Buch des Alten Testaments. Jesus zitierte Psalmen in seinem öffentlichen Dienst. Er brachte den ihn versuchenden Pharisäern mit einer Frage aus dem 110. Psalm den Mund zum Schweigen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit schüttete er vor seinem Gott und Vater sein Herz in den Worten der Psalmen aus, als er ganze Nächte im Gebet verharrte. Als er in Jerusalem einzog, wurde er mit dem Jubelruf „Hosanna dem Sohn Davids“ empfangen. Als seine Feinde murrten, verwies er sie auf die Vorhersage des 8. Psalms.
Die letzten Worte, die er an Jerusalem richtete, waren ein Zitat aus dem Buch der Psalmen: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ Bevor er in den Garten Gethsemane trat, sang er mit seinen Jüngern ein Loblied. Es war das sogenannte Hallel, das noch immer von orthodoxen Juden beim Passa gesungen wird – in den Psalmen 113 bis 118.
In seinem Leiden erfüllte er alle in den Psalmen über ihn gemachten Weissagungen. Das werden wir beim nächsten Mal noch genauer betrachten, denn die Psalmen enthalten sehr viele Vorhersagen auf Jesus. Als er sagte: „Mich dürstet“ (Johannes 19,28), sprach er ein Wort aus Psalm 69, Vers 21.
In den finsteren Stunden am Kreuz kam von seinen Lippen der im Psalm 22 vorhergesagte Schmerzensruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Nahezu das erste Wort nach seiner Auferstehung war demselben Psalm entnommen: „Gehe aber zu meinen Brüdern.“ Denn in Psalm 22, Vers 22, steht geschrieben: „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern.“
Als er als der verherrlichte Mensch in den Himmel auffuhr und in die Gegenwart des Vaters trat, wurde er von Gott begrüßt als hoher Priester in der Ordnung Melchisedeks. Wie im Psalm 110 vorhergesagt, setzte er sich zur Rechten Gottes.
Auch als er aus der Herrlichkeit zu den Überwindenden in Thyatira sprach, verwendete er abermals Worte aus den Psalmen. Wenn wir das Leben Jesu betrachten, merken wir, dass das, was er sagt, eng verwoben ist mit der Bibel, mit dem Alten Testament, aber besonders eng mit den Psalmen.
Jemand hat einmal gesagt: Wenn wir die Taten unseres Herrn lesen wollen, dann lesen wir die Evangelien. Aber wenn wir seine Gefühle und inneren Regungen lesen möchten, dann lesen wir die Psalmen.
Was finden wir in den Psalmen?
In den Psalmen finden wir eine Art kleine Bibel. Das möchte ich nicht übertreiben, aber zum einen ist es das umfangreichste aller biblischen Bücher. Das wird euch auffallen, wenn ihr seht, wie viele Zettel ihr bekommen werdet. Im Moment sind wir, glaube ich, schon bei Nummer sechs angelangt, der gerade verteilt wird, und wir sind noch nicht fertig. Ich glaube, es werden insgesamt etwa zehn Zettel sein. Es dauert wirklich lange. Zweieinhalb Monate liest man sich so durch die Sammlung durch.
Die Entstehungsgeschichte der Psalmen ähnelt der der gesamten Bibel, zumindest was die Zeitspanne betrifft. Sie reicht etwa bis zu Mose zurück und hört ungefähr dort auf, wo auch die Entstehung des Alten Testaments endet, nämlich im fünften Jahrhundert vor Christus.
Es gibt mehrere Verfasser der Psalmen, was eine weitere Parallele zur Bibel darstellt. Von den 150 Psalmen weiß man bei 102, wer sie geschrieben hat. Insgesamt sind es sieben verschiedene Autoren, die ich euch später noch nennen werde. Bei 48 Psalmen ist man sich unsicher, da steht einfach nichts zum Verfasser. Man kann vielleicht Vermutungen anstellen, aber gesichert ist nichts, daher müssen wir nicht spekulieren.
Was besonders interessant ist, sind die Themen der Psalmen. Ich habe euch beim Thema Psalmen immer eine Studienaufgabe gegeben, die so einfach klingt, dass ihr vielleicht schmunzeln werdet. Und wenn ihr schmunzelt, dann macht die Aufgabe trotzdem.
Die Aufgabe lautet: Gebt jedem Psalm einen Titel. Lest ihn einfach durch und versucht, mit einem Satz zusammenzufassen, worum es darin geht. Das klingt ganz leicht, aber dann merkt man schnell: Was mache ich damit? Es zwingt einen zum Nachdenken: Was ist der Kerngedanke in diesem Psalm? Sonst liest man oft nur drüber hinweg und denkt: „Okay, ich habe es nicht verstanden, vielleicht klappt es beim nächsten Mal.“
Wenn man sich aber mal zehn Minuten Zeit nimmt – und das kann schon mal so lange dauern – und überlegt: Wer spricht hier zu wem? Was ist eigentlich das Ziel des Psalms? Wo liegen die Probleme? Dann kommt man darauf.
In dem Buch „Von Adam bis Malachi“ gibt es übrigens zu jedem Psalm eine Lösung, falls jemand nachschlagen möchte. Die haben das gemacht. Man kann sich manchmal fragen: Hätte ich das Gleiche geschrieben? Aber es ist eine gute Hilfe, um die Themenvielfalt der Psalmen zu erkennen.
Denn wenn ich mir manchmal anschaue, worüber wir in der Gemeinde unsere Lieder singen, denke ich mir: Von der Vielfalt her fehlt da noch einiges. Wir haben bei weitem noch nicht alle Themen erschlossen, die in den Psalmen stecken. Amen.
Und wenn Martin Buchholz heute eines seiner selbstgeschriebenen Lieder vorgestellt hat, worüber ich mich unglaublich freue, dann sage ich mir: Hey, da ist noch viel zu tun. Es gibt noch viele Lieder, die man über Themen schreiben könnte, die in der Bibel vorkommen. Nichts gegen die Lieder, die jetzt gesungen werden, aber vielleicht könnten wir mal die 95 Themen angehen, die wir noch nicht haben.
In den Psalmen finden wir zum Beispiel Themen über Gott, über sein Werk in der Schöpfung und in der Erlösung. Ganze Psalmen sind der Schöpfung gewidmet. Andere Psalmen richten sich auf die Erlösung, die Gott uns bringt.
Es wird auch über das Gericht gesprochen – über das ewige Gericht, über alle Menschen und über das zweite Kommen des Messias. Dabei wird beschrieben, wie es dann sein wird. Weitere Themen sind das Leiden, das in den Psalmen sehr häufig vorkommt, sowie die Auferstehung.
Ihr könnt die Pfingstpredigt lesen und euch fragen: Was hat die Pfingstpredigt mit den Psalmen zu tun? Wenn ihr euch etwas intensiver mit der Pfingstpredigt beschäftigt, erkennt ihr, dass Petrus ein Problem hat. An Pfingsten kommt der Heilige Geist, und die Leute fangen an, in fremden Sprachen zu reden. Die Menschen ringsum werden aufmerksam, es bildet sich ein Auflauf, und Petrus wird gefragt: Was ist denn das? Einige sagen sogar, sie seien besoffen. Das, was hier passiert, könne nicht mit normalen Dingen erklärt werden.
Petrus tritt in die Mitte und sagt: Nein, sie sind nicht besoffen. Das, was ihr hier seht, würden wir heute die Ausgießung des Heiligen Geistes nennen. Genau das hat Joel schon prophezeit. Das müsst ihr eigentlich kennen – lest doch mal nach! Nachdem er diese einfachen Erklärungsversuche abgewehrt hat, beginnt er, die Pfingstpredigt aufzubauen.
Er zeigt: Jesus kam auf diese Erde, und er ist hier für jeden Menschen gestorben. Er hat die Sünden der Menschen getragen. Und dann ist er nicht nur gestorben, sondern er ist wieder auferstanden. Er ist in den Himmel aufgefahren und setzt sich zur Rechten Gottes. Das ist das Evangelium.
Aber worauf stützt er sich? Welche Bibelstellen verwendet er, um seinen Mitjuden deutlich zu machen, dass genau diese Punkte – Tod, Auferstehung, Himmelfahrt – im Hinblick auf den Messias erfüllt sein müssen? Wo im Alten Testament steht eigentlich, dass der Messias für die ganze Menschheit sterben wird, auferstehen wird und in den Himmel auffahren wird?
Im Zentrum seiner Argumentation stehen Psalmenstellen. Er nimmt Psalm 16, um zu zeigen, dass der Messias nicht im Grab bleiben kann. Psalm 110 verwendet er, um zu belegen, dass der Messias in den Himmel auffahren musste und sich zur Rechten Gottes setzt, bis er wiederkommt, um seine Feinde zu richten. Es sind also Psalmen, Psalmen, Psalmen.
Als die Menschen das hören – als Petrus die Psalmenstellen zitiert und ihnen zeigt, dass Jesus wirklich der Messias ist, der im Alten Testament verheißene Retter der Welt, und dass man allein durch den Glauben an diesen Messias gerettet werden kann – fragen sie: Was sollen wir tun? Er antwortet: Glaubt und lasst euch taufen, das ist es, was Jesus will.
Die Leute handeln sofort: Dreitausend Menschen lassen sich taufen. Sie sind durch diese Beweislage aus dem Alten Testament so überzeugt, dass sie sagen können: Ja, stimmt, in den Psalmen steht all das drin, was Jesus danach erfüllt hat.
Wir könnten noch weitergehen. Das werden wir beim nächsten Mal machen, wenn wir uns anschauen, wie Psalm 22 zum Beispiel die Kreuzigung beschreibt. Man fragt sich: Wie ist es möglich, dass dort Jahrhunderte vorher fast anderthalb Seiten lang der Tod eines Menschen beschrieben wird, der sich dann bei Jesus ganz genau abbildet?
Das Interessante ist, im Blick auf deinen Tod: Wenn dich jemand umbringt, hast du nicht unbedingt die freie Wahl. Vorher kann man noch ein bisschen tricksen, damit man zum Bild des Messias passt. Aber spätestens bei Tod und Auferstehung wird das ausgesprochen schwierig. Das können wir beim nächsten Mal vertiefen.
In den Psalmen finden wir auch Themen wie den Antichristen, die Wiederherstellung Israels und das tausendjährige Reich. Die Psalmen sind eine Ermunterung zum Glauben – wirklich eine totale Ermunterung. Sie zeigen, wie Menschen über Jahrhunderte hinweg Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Manche von ihnen hatten es viel schwerer als wir es jemals haben werden.
Die Psalmen sind auch eine Aufforderung und Anleitung zur Gottesfurcht. Sie wollen uns davor warnen, ein Leben in Passivität und Ablehnung gegenüber Gott zu führen.
In den Psalmen werden zwei Menschen gegenübergestellt. Schauen wir uns dazu Psalm 1 an. Es gibt eine bewährte Regel, dass der Anfang eines Buches oft entscheidend ist, wenn man etwas verstehen will. Deshalb betrachten wir kurz den Anfang von Psalm 1, um einen Eindruck von einem wichtigen roten Faden zu bekommen, der sich durch das ganze Buch der Psalmen zieht.
In Psalm 1 wird ein Gegensatz vorgestellt: der Unterschied zwischen dem Menschen, der mit Gott lebt, und dem Menschen, der es nicht tut. Es heißt dort: „Glücklich ist der Mann“ – und das gilt auch für jede Frau –, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen, der nicht den Weg der Sünder geht und nicht im Kreis der Spötter sitzt. Stattdessen hat er seine Freude am Gesetz des Herrn und über sein Gesetz sinnt er Tag und Nacht nach.
Es folgt ein Bild: Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht zu seiner Zeit bringt und dessen Laub nicht verwelkt. Alles, was er tut, gelingt ihm. Damit beginnen die Psalmen mit einem wunderschönen Bild.
Im Zentrum des Psalms steht letztlich das Glück des Menschen. Die Frage lautet: Wie sieht der Weg zum Glück aus? Die poetische Literatur der Psalmen richtet sich an den einzelnen Gläubigen. Sie spricht nicht mehr die Nation oder die Volksgemeinschaft an, sondern stellt jeden persönlich vor Gott. Ich stehe allein vor Gott, lebe mein Leben und trage die volle Verantwortung dafür. Diese Verantwortung kann mir niemand abnehmen.
Welchen Weg soll ich gehen? Hiob hat uns die Frage des Leids gezeigt und Hoffnung im Leid vermittelt. Jetzt kommen wir in den Psalmen an den Punkt, an dem wir sehen, wie einzelne Menschen unterschiedlichste Erfahrungen in ihrem Glaubensleben machen und wie sie darauf reagieren.
Worum geht es dabei? Es geht darum, dass ein Mensch Glück erfährt. Das irdische Glück ist nicht alles. Die Psalmen zeigen uns den Weg zum Glück. Und wie sieht dieser Weg aus? Der Weg zum Glück besteht darin, dass ein Mensch sein Leben an Gott hängt – ein Motiv, das sich durch die gesamten Psalmen zieht.
Psalm 1 ist der einzige Psalm, der fast ein wenig anders klingt, aber nur fast. Darauf werden wir noch eingehen. Ein Mensch hängt sein Leben an Gott, hier ausgedrückt als seine Freude am Gesetz des Herrn und seinem Nachsinnen über dieses Gesetz Tag und Nacht, in Vers 2.
Ich kümmere mich um Gott, ich lebe mit Gott, ich will ihn verstehen und mir Gedanken über ihn machen. Für diesen Menschen gilt, dass er wie ein Baum gepflanzt an Wasserbächen ist. Er hat immer genügend Wasser. Auch wenn es mal trocken wird, ist das nicht schlimm. Das Wasser ist direkt und greifbar. Er muss nicht verdursten. Wie bei der Frau am Jakobsbrunnen wird sein Lebensdurst gestillt.
Dem gegenüber steht der zweite Mensch, der in Vers 4 beschrieben wird: die Gottlosen. Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. Sie leben, doch es ist wie Spreu – ein kurzer Moment, dann kommt der Wind und verweht sie. Das ist nicht das, was man sich wünscht. Es ist das Überbleibsel, das man am Ende hinterfragt: Warum habe ich das eigentlich gelebt?
Noch schlimmer ist Vers 5: Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht. Es wird ein Gericht kommen, und die Psalmen sind sich darüber einig. Der Gottlose hat im Gericht keine Chance. Warum? Weil ihm die Beziehung zu Gott fehlt.
Vers 6 sagt: „Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten.“ Das ist eine große Zuversicht. Beim Lesen der Psalmen werdet ihr das noch öfter merken. Da ist einer, der von allen Seiten bedrängt wird – von Feinden links und rechts. Er beschreibt die Situation, die Zerrissenheit seiner Seele und seine Angst. Doch meist am Ende eines Psalms richtet sich der Blick nach oben. Er wird ruhig und sagt: Gott kennt meinen Weg. Ich weiß nicht, warum rings um mich herum all das passiert, aber ich weiß eines: Gott hat mich nicht vergessen. Gott geht den Weg mit mir, und ich bin genau am richtigen Platz.
Diese Zweiteilung – der Gerechte, der Gott folgt und dessen Wege Gott kennt, und der Gottlose, der seinen eigenen Weg geht und mit Gott nichts zu tun haben will – zieht sich wie ein roter Faden durch die Psalmen. Oft stellen die Gottlosen sich Gott so dar, als ob er nichts hören oder richten würde. Das müssen sie so erklären, weil sie spüren, dass es mehr gibt.
Am Ende aber, wie hier gesagt wird, vergeht der Weg der Gottlosen. Diese große Linie durch die Psalmen könnt ihr mitverfolgen, wenn ihr möchtet.
In dieser Hinsicht sind die Psalmen eine Aufforderung und Anleitung zur Gottesfurcht. Darüber hinaus sind sie Hilfen für das persönliche Gebet. Wer hat nicht schon Psalm 23 gesungen oder innerlich mitgesungen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“? Dann geht man den Psalm weiter durch: „Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unglück.“ Warum? „Er ist bei mir.“
Das ist gut, besonders wenn man Angst hat – vor allem dann, wenn es stimmt. Die Psalmen sind Vorbilder zum Gebet und zur Anbetung.
Kommen wir zum nächsten Punkt. Oder soll ich jetzt erst noch etwas Theorie einschieben? Ja, jetzt machen wir ein bisschen Theorie. Ich möchte noch etwas Theorie einfügen, weil ich euch bereits in zwei Vorträgen Theorie vermitteln musste.
Ich habe euch gesagt, dass die Psalmen ursprünglich nicht nur gelesen, sondern auch gesungen wurden. Sie bringen Gedanken und Gefühle zum Ausdruck. Lyrik ist eine unglaublich persönliche und subjektive Form. Wenn ihr manchmal sagt, ein Psalm sagt euch gar nichts, kann das daran liegen, dass eure Stimmung einfach nicht mit der des Psalmisten übereinstimmt.
Es kann aber auch Situationen in eurem Leben geben, in denen ein Psalm genau passt, weil er genau das ausdrückt, was ihr empfindet. Das ist bei Liedern immer so, oder? Ihr schaltet durch euer Radio – ich mache das zum Beispiel beim Autofahren. Mein Radio hat sechs Stationstasten auf drei Ebenen, also insgesamt achtzehn Stationen. Man schaltet durch, bis man sagt: „Das stimmt, das passt jetzt, das ist genau das Richtige.“
Ähnlich verhält es sich mit den Psalmen. Natürlich möchte ich das nicht nur auf die Ebene der Musik reduzieren, aber so können wir verstehen, warum uns manchmal bestimmte Psalmen ganz besonders nahegehen. Wir hängen förmlich daran und sagen: „Jetzt kommt meine innere Seite zum Klingen.“ Bei anderen Psalmen passiert das nicht.
Ein letzter Punkt zum Thema Lyrik: Lyrik ist kurz. Das wollte ich noch einmal betonen. Ein Lied ist immer kürzer als eine Geschichte, das wird euch aufgefallen sein.
Wie funktioniert Reim bei den Israeliten? Wenn wir von Metrik sprechen, meinen wir oft, dass Endungen stimmen müssen, damit man singen kann. Darauf wird eine Melodie gelegt, und daraus entsteht ein Lied. Bei den Hebräern gibt es das so nicht. Sie haben keine Endreime, sondern Gedankenreime.
Ein Gedankenreim hat einen Namen, den ihr euch vielleicht merken solltet: Parallelismus, wie eine Parallele. Das bedeutet, dass ich zwei Zeilen in einem Lied habe, die irgendwie parallel sind, also zusammengehören. Sie gehören nicht zusammen, weil sie dieselbe Endung haben, wie im Deutschen: „Mein Hund ist klein und ich finde ihn fein.“ Das reimt sich zwar, hat aber keine inhaltliche Bedeutung.
Die Hebräer verwenden stattdessen den Gedankenreim. Das heißt, die erste Zeile eines Verses findet in der zweiten Zeile eine Entsprechung. Das kann eine Ergänzung sein, manchmal auch das Gegenteil. Aber die beiden Zeilen gehören inhaltlich zusammen.
Das hat einen großen Vorteil, eigentlich sogar zwei. Der erste Vorteil ist, dass man solche Gedanken übersetzen kann, ohne dass die Schönheit stark verloren geht. Das ist oft ein Problem, wenn man englische Gedichte ins Deutsche übersetzt.
Zum Beispiel gibt es Bücher von Bill Macdonald, der auf jeder Seite ein kleines Stück englische Lyrik anfügt. Da hat man ein Problem: Versucht man, den Endreim ins Deutsche zu retten, ohne den Inhalt zu verändern, ist das unglaublich schwer – fast unmöglich.
Beim Gedankenreim funktioniert das besser, weil es nicht darauf ankommt, dass sich die Zeilen reimen. Der zweite Vorteil ist, und den finde ich fast noch schöner: Der Gedankenreim zwingt zum Denken.
Ich weiß nicht, ob euch das auch so geht, wenn ihr Goethe, Schiller und andere lest. Man kann einfach darüber hinweglesen. Es ist wie Musik hören mit englischem Text – wenn man nicht hinhört, versteht man nichts. Anne macht da eine Ausnahme, aber mir geht das so, und Fritz auch.
Der Gedankenreim zwingt zum Nachdenken. Man liest etwas und fragt sich: „Was will er denn jetzt?“ Da ist der Gedanke in der ersten Zeile, und in der zweiten Zeile steht ein weiterer Gedanke. Man überlegt, wie sie zusammengehören.
Ich habe euch ein paar Beispiele aufgeschrieben, wie solche Gedanken zusammengehören können, und möchte das mit euch durchgehen.
Dieser Parallelismus hat auch einen Nachnamen: Parallelismus membrorum. Ich habe mir den Namen nicht ausgedacht. Der Parallelismus membrorum kann in unterschiedlichen Arten auftreten.
Wie gesagt, die Idee hinter einem Parallelismus ist, dass ich einen ersten Satzteil, also Zeile eins, habe und einen zweiten Satzteil, Zeile zwei, die in einer Beziehung zueinander stehen. Das müsst ihr verstehen: Parallelismus bedeutet Teil A und Teil B, die irgendwie miteinander verbunden sind.
Die drei Hauptarten des Parallelismus sind der synonyme, der antithetische und der synthetische Parallelismus.
Jetzt schnappt eure Bibeln und lasst uns die Beispiele, die ich draußen aufgeschrieben habe, kurz gemeinsam durchgehen. Dann bekommt ihr eine Vorstellung davon, was alles möglich ist beim Parallelismus.
Das erste Beispiel für die erste Art synonymer Parallelismus findet sich in Psalm 19, Vers 2. Dort heißt es: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes.“ Das ist die erste Zeile. Die zweite Zeile lautet: „Und das Himmelsgewölbe verkündet seiner Hände Werk.“
Hier wird derselbe Sachverhalt zweimal ausgedrückt. Wenn man noch einmal kurz darüber nachdenkt, erkennt man, dass die zweite Zeile eine Wiederholung der ersten ist – nur mit anderen Worten. Es wird kein neuer Sinn hinzugefügt, sondern einfach dasselbe noch einmal gesagt. Deshalb nennt man das synonymer Parallelismus.
Synonyme sind sinnverwandte oder sogar gleichbedeutende Wörter. Zum Beispiel sind „Frau“, „Weib“ oder „Dirndl“ Synonyme. Bei diesem Parallelismus kann es kleine Veränderungen geben, etwa eine Umgestaltung oder eine etwas andere Perspektive. Aber im Grunde sagt die zweite Zeile fast dasselbe wie die erste.
Es gibt aber nicht nur den synonymer Parallelismus, bei dem dasselbe gesagt wird. Eine zweite Hauptform ist der antithetische Parallelismus. Hier drückt die zweite Zeile das Gegenteil der ersten aus.
Ein Beispiel dafür findet sich in Psalm 1, Vers 6. Dort heißt es: „Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten.“ Würde man das synonyme Prinzip fortsetzen, könnte man sagen: „Denn der Herr kennt den Weg der Gottlosen.“ Aber tatsächlich steht dort: „Der gottlose Weg vergeht.“
Die zweite Zeile bringt also das Gegenteil zum Ausdruck: Es geht nicht mehr um den Gerechten, sondern um den Gottlosen. Nicht mehr darum, dass Gott den Weg kennt, sondern dass der Weg des Gottlosen vergeht. Damit wird das Thema genau umgekehrt dargestellt.
Trotzdem gehören beide Zeilen zusammen, denn das Oberthema bleibt dasselbe: Es geht um das Verhältnis des Menschen zu Gott. Die beiden Seiten – der Gerechte und der Gottlose – werden hier knapp und scharf gegeneinander abgegrenzt. Das ist sprachliche Kunst.
Nachdem wir den synonymen und den antithetischen Parallelismus besprochen haben, folgt als dritte häufige Form der synthetische Parallelismus. Hier ergänzt oder vervollständigt die zweite Zeile die erste.
Das kann auf drei Arten geschehen: Die zweite Zeile kann eine einfache Ergänzung sein, einen Vergleich enthalten oder eine Begründung liefern. Wir betrachten hier nur das Thema Ergänzung, zum Beispiel in Psalm 19, Vers 8.
Wer möchte, kann zu den anderen Formen zu Hause Psalm 118, Vers 9 (Vergleich) oder Psalm 2, Vers 12 (Begründung) nachlesen.
Psalm 19, Vers 8 lautet: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele.“ Das ist aber noch nicht alles, was der Psalmist sagen möchte. Er betont, dass das Gesetz des Herrn – also die Bibel, das Wort Gottes – vollkommen ist.
Dann ergänzt er: „Das Zeugnis des Herrn ist zuverlässig und macht die einfältigen Weise.“ Das ist kein synonymes Wiederholen, sondern eine Weiterführung des Gedankens. Es folgen weitere Punkte, die sich um dasselbe Thema drehen, nämlich die Vollkommenheit des Wortes Gottes.
Zum Beispiel: „Die Vorschriften des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz.“ Hier könnte man überlegen, ob „erquickt die Seele“ und „erfreuen das Herz“ synonym sind, denn sie drücken Ähnliches aus. Auch „Das Gebot des Herrn ist lauter und erleuchtet die Augen“ gehört dazu.
So entsteht eine Idee der Ergänzung.
Es gibt noch weitere Formen des Parallelismus. Eine davon ist der analytische Parallelismus. Dabei ist die zweite Zeile eine Folgerung aus der ersten, aber bleibt beim selben Thema.
Ein bekanntes Beispiel ist Psalm 23, Vers 1: „Der Herr ist mein Hirte.“ Die Folgerung in Vers 2 lautet: „Mir wird nichts mangeln.“ Man hat den richtigen Hirten, also wird man auch das richtige Futter haben.
Dann gibt es den klimaktischen Parallelismus. Wisst ihr, was eine Klimax ist? Ein Höhepunkt. Beim klimaktischen Parallelismus führt die zweite Zeile die erste zum Abschluss. Die erste Zeile kann nicht allein stehen, sie ist unvollständig.
Psalm 29, Vers 1 zeigt das: „Gebt dem Herrn, ihr Göttersöhne.“ Da fehlt noch etwas. Die zweite Zeile ergänzt: „Gebt dem Herrn Herrlichkeit und Kraft.“ Erst zusammen ergeben die beiden Zeilen einen vollständigen Gedanken.
Man kann sich das vorstellen wie eine Rakete mit zwei Stufen: Die erste Zeile ist der Start, die zweite bringt den Höhepunkt. Erst dann ist der Gedanke klar.
Ein weiterer seltenerer Parallelismus ist der emblematische Parallelismus. Hier führt die zweite Zeile den Vergleich aus, der in der ersten Zeile angedeutet wird.
Ein Beispiel findet sich in Psalm 103, Vers 11: „Denn so hoch die Himmel über der Erde sind.“ Das ist der Vergleich. Die zweite Zeile ergänzt: „So übermächtig ist seine Gnade über denen, die ihn fürchten.“
Der Psalmist will zeigen, dass Gottes Gnade so hoch ist wie der Himmel über der Erde. Das ist der emblematische Parallelismus.
Zuletzt noch der chiasmatische Parallelismus, auch Chiasmus genannt. Das ist eine wichtige Strukturform, die man oft in alten Texten findet.
Der Begriff kommt vom griechischen Buchstaben Chi, der wie ein X aussieht. Ein Chiasmus beschreibt die Anordnung von Textteilen, die zusammengehören, in einer spiegelbildlichen Struktur: A B B A.
Ein Beispiel findet sich in Psalm 51, Vers 3. Dort heißt es: „Sei mir gnädig, o Gott, nach deiner Gnade; tilge meine Vergehen nach der Größe deiner Barmherzigkeit.“
Im Originaltext steht der zweite Teil nicht in der Reihenfolge, wie wir es gewohnt sind. Wörtlich übersetzt lautet es: „Sei mir gnädig, o Gott, nach deiner Gnade; nach der Größe deiner Barmherzigkeit tilge meine Vergehen.“
Man sieht, dass „Sei mir gnädig“ mit „tilge meine Vergehen“ zusammengehört, und „O Gott, nach deiner Gnade“ mit „nach der Größe deiner Barmherzigkeit“. Verbindet man diese Paare, ergibt sich ein X – das ist der Chiasmus.
Diese Struktur zeigt, dass zusammengehörende Textteile spiegelbildlich angeordnet sind. Man findet solche Muster oft in alten Texten.
Es lohnt sich, den Begriff Chiasmus zu merken. Er beschreibt eine Struktur, die im Kleinen, wie in diesem Vers, aber auch im Großen, zum Beispiel im Buch Hiob, vorkommt.
Im Buch Hiob ist die gesamte Struktur chiastisch aufgebaut. Man findet Teile, die zusammengehören, und oft einen Höhepunkt in der Mitte.
Heute sollt ihr vor allem den Begriff Chiasmus verstehen – eine besondere Anordnung von Texten, die zusammengehören und spiegelbildlich angeordnet sind.
Johannes Calvin sagt über die Psalmen: Dieses Buch pflege ich als eine Anatomie all der verschiedenen Teile der Seele zu bezeichnen, denn niemand wird in sich eine einzige Gefühlsregung finden, die nicht in diesem Spiegel reflektiert würde. Ja, alle Kümmernisse, Sorgen, Ängste, Zweifel, Hoffnungen, Befürchtungen – kurz, alle jene tumultösen Regungen, die den menschlichen Geist umtreiben. Der Heilige Geist hat sie hier alle dem Leben nachgebildet.
Was Johannes Calvin zum Ausdruck bringen möchte, ist auch meine eigene Erfahrung im Leben. Ich finde in irgendeiner Form eine Entsprechung in den Psalmen. Wenn du das größte, das schönste Erlebnis deines Lebens hast, wirst du eine Entsprechung im Psalm empfinden. Und wenn du am Boden bist, nicht mehr weiterweißt und kein Licht mehr am Ende des Tunnels siehst, dann hat der Heilige Geist in den Psalmen dir zumindest einen Psalm übriggelassen: Psalm 88.
Die Hauptnote in den Psalmen ist Dank, Lobpreis und Bewunderung. In fast jedem Psalm werdet ihr, egal wie düster er anfängt, am Ende Lob Gottes lesen. Das gehört eigentlich als grundsätzliche Note immer dazu. Fast jeder Psalm endet positiv. Es gibt, wie gesagt, nur eine Ausnahme: Psalm 88. Er ist wirklich düster. In diesem Psalm gibt es am Ende keine Hoffnung.
Trotzdem gibt es ein bisschen Licht in diesem Psalm. Schlagen wir mal Psalm 88 auf und schauen uns nur die letzten Verse an, ja? Ab Vers 16 heißt es: „Elend bin ich und todkrank von meiner Jugend auf, ich trage deine Schrecken, bin verwirrt, deine Zorngluten sind über mich hingegangen, deine Schrecknisse haben mich vernichtet, sie umgeben mich wie Wasser den ganzen Tag, sie umringen mich allesamt, du hast mich entfremdet, Freund und Nachbarn, meine Bekannten sind Finsternis.“
Und hiermit hört das Kirchenlied auf. Das ist ja interessant, oder? Da ist keine Hoffnung. Normalerweise würde jetzt ein „Aber“ kommen, und der Psalmist würde wirklich noch einmal den Blick nach oben erheben. Das passiert hier nicht. Es ist der dunkelste aller Psalmen, aber er ist nicht stockdunkel. Und es ist auch wichtig, dass wir das verstehen.
Es mag Situationen geben – es ist persönlich, es ist Lyrik, es ist gefühlvoll. Hier ist einer, der sagt: Ich sehe kein Licht mehr. Ich weiß nicht, wie Markus empfindet, wenn er durch die nächste Prüfung fällt und denkt: „Es ist game over.“ Du sagst dir: „Okay, ich weiß nicht, wie viele Jahre in den Sand gesetzt sind.“ Du gehst nach Hause und fragst dich: „Warum?“
Ich habe das mal erlebt. Man hat mir im Beruf einen bestimmten Schritt zugesagt, dass ich eine bestimmte Stelle bekomme. Am Tag, an dem ich sie bekommen sollte, hat man mir abgesagt. Wow, dachte ich. Da gehst du nach Hause und denkst: „Oh, was machst du jetzt? Das war nicht fair.“ Und es trifft einen ganz schön. Du gehst zwei, drei Stunden spazieren und denkst dir: „Vater im Himmel, das habe ich mir anders vorgestellt.“
Alles bricht nicht unbedingt zusammen, das ist jetzt nicht furchtbar, aber es ist doch so, dass du sagst: Hach! Psalm 88, Vers 2: „Das ist die Hoffnung, die bleibt.“ Also wenn ihr mal ganz unten seid, vergesst nicht: Herr, Gott meines Heils.
Der Psalmist kann die Rettung noch nicht sehen, er kann sie nicht einmal erahnen, er kann sie überhaupt nicht fühlen. Und er betet und ringt. Am Ende seines Gebets und Ringens kommt dieses Gefühl nicht. Aber der Startpunkt stimmt. Er wendet sich an den Gott seines Heils und weiß, es gibt diesen Gott. Ich kann ihn im Moment nicht fühlen.
Wir haben das Lied im Gottesdienst gesungen: Ja, auch wenn ich dich nicht spüre. Es gibt solche Momente, in denen wir meinen, Gott sei ganz weit weg. Dann lasst uns an Psalm 88 denken. Das ist in Ordnung. Wir dürfen das fühlen, denke ich. Wir müssen nur wissen: Unsere Gebete gehen an den Gott unseres Heils. Und dann werden wir auch die andere Seite wieder kennenlernen.
Oder wie es im Psalm 73, Vers 26 heißt: „So weiß er, wenngleich sein Herz vergeht, dass der Herr sein Fels und seines Herzens Teil bleibt.“ Der Herr bleibt unser Teil, er ist der Fels, auf dem wir stehen. Das dürfen wir einfach nicht vergessen.
Warum ist es so, dass in den meisten Psalmen – oder eigentlich auch in Psalm 88, wo Gott nur in der allerschwächsten Form als Retter dargestellt wird, auf den der Psalmist vertraut – der Psalmist trotz Zweifel, Angst und Erschütterung immer wieder bei Gott landet? Es liegt daran, dass in den Psalmen thematisch alles in Beziehung zu Gott gesetzt wird.
Das ist auch der „Trick“ im Leben, wenn man so sagen darf: Wir sollen alles in Beziehung zu Gott setzen. Sobald man etwas von Gott loslöst, entsteht Verwirrung im Leben. Die Dinge passen nicht mehr zusammen. Wenn wir sie hingegen auf Gott hin beziehen, passt es wieder. Das zeigen uns die Psalmen. Wenn man sich die unterschiedlichen Ausgangspunkte anschaut, merkt man, dass sie alle im Blick nach oben landen. Und das ist auch richtig so.
Denn wenn wir wieder lernen, den Blick nach oben zu wenden, zu dem, der alles gemacht hat und der alles retten will, dann passt es einfach. Deshalb finden wir in den Psalmen immer wieder zwei große Grundtatsachen:
Die eine ist, dass Gott der Gott der Schöpfung ist. Er hat alles gemacht. Die zweite ist, dass Gott der Gott der Erlösung ist.
Psalm für Psalm wird Gott als Schöpfergott gepriesen. Wem sollte ich mehr vertrauen als dem, der mich gemacht hat? Zum Beispiel lesen wir in Psalm 139, Vers 13: „Denn du hast meine Nieren gebildet, du hast mich gewoben in meiner Mutter Leib. Ich preise dich dafür, dass ich wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke, und meine Seele erkennt das wohl.“
Ist es nicht leicht, den Schöpfergott zu finden? Ich muss nur einmal nachdenken, woher ich komme. Ich muss nur nachdenken, warum ich in der Lage bin, diese Worte zu lesen, wer meine Augen gemacht hat, wer mir den Verstand gegeben hat zu denken, wer mich befähigt hat, ein Auto zu fahren. Das habe ich mir doch nicht selbst beigebracht. Das wurde mir nicht in die Wiege gelegt.
Die zweite Seite ist, dass Gott der Gott der Erlösung ist. Er konfrontiert uns mit der Tatsache, dass der Mensch eine gefallene Schöpfung ist. Aber er konfrontiert uns nicht einfach nur damit, um zu sagen: „Okay, damit müsst ihr jetzt leben. Tut mir leid, ich habe mir das anders vorgestellt, aber euch hat es halt erwischt. Macht das Beste daraus. Wir werden uns in der Ewigkeit nicht wiedersehen. Viel Spaß. Ich lasse noch ein bisschen Sonne und Mond aufgehen, damit es nicht ganz so kalt wird. Aber sonst müsst ihr euren eigenen Weg gehen.“
Das wäre furchtbar – und so hätte es sein können. Aber es ist anders.
Gott wird als der Gott der Erlösung vorgestellt, der Verheißungen gibt. Verheißungen, die so lange bestehen werden, wie diese Schöpfung besteht. An einer Stelle heißt es: „Wenn auch die Berge ins Meer wanken mögen, seine Verheißungen bleiben bestehen.“ An anderer Stelle: „Wenn alle Feinde der Welt dagegen aufstehen, seine Verheißungen bleiben bestehen.“
Bis hierhin für heute. Beim nächsten Mal werden wir uns noch ein bisschen Gedanken über die Verfasser der Psalmen machen. Ich möchte euch noch einige Stilmittel zeigen. Außerdem werden wir einzelne Psalmen betrachten, die Einteilung der Psalmen besprechen, ein wenig über Christus in den Psalmen sprechen und die fünf Bücher Mose in den Zeilen entdecken.
Bis dahin.
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