Einführung in den Predigttext und thematische Einordnung
Wir lesen in diesen Wochen den Philippabrief. Nach dem Kapitel 1, Verse 1 bis 26, folgen heute die Verse ab Vers 27 bis Kapitel 2, Vers 11.
Wandelt nur würdig des Evangeliums Christi! Ob ich komme und euch sehe oder abwesend von euch höre, ihr steht in einem Geist und kämpft mit uns einmütig für den Glauben des Evangeliums. Lasst euch in keinem Stück von den Widersachern erschrecken! Für sie ist das ein Anzeichen der Verdammnis, euch aber der Seligkeit – und das von Gott.
Denn euch ist die Gnade gegeben, um Christi willen beides zu tun: dass ihr nicht allein an ihn glaubt, sondern auch um seinetwillen leidet. Ihr habt denselben Kampf, den ihr an mir gesehen habt und nun von mir hört.
Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit? So macht meine Freude vollkommen und seid eines Sinnes! Habt gleiche Liebe, seid einmütig und einhellig. Tut nichts aus Zank oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.
Und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was des Anderen ist.
Das Vorbild Jesu als Leitbild für das Leben
Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.
Er, der in göttlicher Gestalt war, nahm es nicht als Raub, Gott gleich zu sein. Stattdessen entäußerte er sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und wurde gleich wie ein anderer Mensch. An Gebärden wurde er als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist.
So sollen sich im Namen Jesu alle Knie beugen: die im Himmel, auf Erden und unter der Erde.
Und alle Zungen sollen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
Die Freude als zentrales Thema des Philippabriefes
Wir sind ausgegangen vom Thema des Philippabriefes, das unser schwäbischer Theologe Johann Albrecht Bengel mit diesen vier kurzen Worten umschrieben hat: Summa epistolae gaudio gaudete.
Die Summe, das Fazit des ganzen Briefes lautet also: „Ich freue mich, freut ihr euch auch.“ Dabei ist uns allen klar, dass es nicht um irgendeinen Spaß geht oder um einen Grund zum Lachen.
Gestern rief mich eine Jugendgruppe aus dem Land an. Sie hätten gern, dass ich bei ihnen spreche. Ich sage grundsätzlich gerne zu, fragte aber, ob ich das Thema wissen könne. Dann sagten sie, sie hätten sich besonnen und möchten eine Reihe über Jesus Christus machen.
Ich dachte, das ist gut, das ist richtig. Wenn man nicht nur einmal über das Waldsterben spricht oder nur über den Frieden, sondern auch einmal wieder über Jesus Christus in einer Jugendgruppe. Ich sagte, ich komme gerne.
Sie hatten eine Reihe aufgebaut: Jesus und die Kranken, Jesus und die Schriftgelehrten. Für mich hatten sie ein Thema vorgesehen, für das sie bisher keinen Referenten gefunden hatten. Ich solle reden über Jesus und Humor.
Ich sagte, das sei wohl ein schlechter Witz und fragte, ob sie das ernst meinen. Doch, sicher hätte Jesus Humor gehabt. Ich dachte, ja, aber darüber steht nichts im Neuen Testament. Von Humor weiß ich im Neuen Testament nichts, ich weiß etwas von Freude.
Diese Anfrage ist doch wohl ein schlechter Witz. Mit der Freude hat das nichts zu tun. Oder heute Morgen, drüben bei der Sitzung in der Sakristei der Schlosskirche: 15 Herren, Architekten, Fachleute, wirklich Leute vom Fach, die sich auskennen.
Es ging um die Heizung, damit man auch im nächsten Winter warme Füße behält in unserer Kirche und nicht kalte Füße bekommt, wenn ich predige. Deshalb muss die Heizung drüben in Ordnung sein.
Man sagte, wenn man schon eine neue Heizung einbaut, könnte man ja gleich auch den ganzen Fußboden erneuern und eine Fußbodenheizung einbauen. Und wenn man schon den Fußboden erneuert, könnte man auch die Decke neu machen.
So lag ein Papier auf dem Tisch mit fünf Renovierungen, deren Kosten zwischen fünf und acht Millionen D-Mark lagen. Ich konnte nur sagen im Namen der Stiftsgemeinde: Das ist wohl ein schlechter Witz, das ist wohl humorig gemeint, aber nicht ernst zu beschließen.
Sie haben ihre Papiere wieder eingepackt. Es war ernst gemeint, aber vernünftige Leute, darunter auch der Stiftspfarrer, legten sich quer. Das alles hat mit Freude überhaupt nichts zu tun.
Freude hat es im Neuen Testament mit keiner Sache zu tun, sondern eben mit einer Person. Freude in der Bibel ist immer Personalsache.
Man sieht das an den Hirten auf dem Felde von Bethlehem. Sie freuten sich nicht, weil Weihnachten geworden ist und sie Geschenke bekommen haben, sondern weil Jesus Christus geboren war.
Wir sehen es am Ostermontag, bei den Jüngern von Emmaus. Sie freuten sich nicht, weil sie so gut zur Nacht gespeist hatten in jenem Lokal oder Haus, sondern weil sie in diesem einsamen Wanderer den Herrn Jesus Christus erkannten.
In den verschiedenen Gemeinden Kleinasiens freuten sich die Leute nicht, weil vielleicht die Preise gefallen oder die Gehälter gestiegen waren, sondern weil ihnen die Gestalt Jesu groß geworden ist.
Wer Jesus Christus in sein Leben aufnimmt und erkennt, wer Jesus Christus in seinem Leben ist, wird etwas spüren von jener Freude, die auch unter oder über dem Leid liegt, das einen bewegt.
Freude auch im Leid, Freude trotz Leid. „Freude einfach, weil Jesus Christus da ist“ – das ist die Freude, von der Paulus spricht und die Johann Albrecht Bengel gemeint hat.
Fortsetzung des Briefes: Leben ist möglich trotz Schwierigkeiten
So hatten wir ja auch dieses erste Kapitel überschrieben: Es geht weiter. Es geht weiter in Philippi, es geht weiter in Rom, obwohl Paulus gefangen saß und man nicht wusste, ob es denn überhaupt noch weitergeht. Trotz seiner Fesseln verkündigt er: Es geht weiter, weil Jesus weitergeht. Und das ist der Grund seiner Freude. Es gibt gar keine Sackgasse dort, wo Jesus mit auf dem Weg ist. Es geht weiter.
Nun zu den nächsten Versen, die wir überschrieben haben mit: Leben ist möglich, Leben ist möglich. Auffallend ist die befehlsartige Sprache. Es tauchen Begriffe auf wie wandelt, kämpft, steht, glauben – kurz und zackig. Ein Ausleger sagt: Es ist Metall in der Sprache, so klingt es, so wie Metall.
Warum? Paulus stellt sich nämlich auf die Hörer ein. Wir haben letztes Mal gehört, dass Rom und Philippi römische Provinzstädte waren. In dieser Stadt wohnten alte Legionäre, ausgemusterte Zwölfender, die dort ihren Lebensabend verbrachten. Sie hatten ein Leben lang nur metallische Sprache gekannt. Um diese Menschen zu erreichen, spricht Paulus nun in der Sprache der römischen Lanzer. Aufgrund seines Grundsatzes: Den Juden bin ich geworden wie ein Jude, den Griechen wie ein Grieche, und den römischen Legionären bin ich geworden wie ein römischer Legionär.
Es gibt Bücher, die mit peinlicher Akribie nachweisen, dass zwischen Vers 26 und Vers 27 ein tiefer Bruch sei. Das heißt, dass hier eine andere Sprache beginne, ja, dass hier ein anderer spreche, nicht Paulus. Hier sei wahrscheinlich ein anderer Autor verborgen, dem man auf die Spur kommen müsse. So sagen sie auch, dass der Kolosserbrief nicht von Paulus sei und der Epheserbrief nicht von Paulus. Die Sprache sei eine andere.
Ich glaube, dass nur oberflächliche Sprachwissenschaftler zu diesem Urteil kommen können. Wie ist es denn, wenn schon ich einem kleinen Patensohn zum Geburtstag schreibe? Dann schreibe ich ja auch nicht in der Sprache, wie wenn ich meiner Frau schreibe. Und wenn ich einem Konfirmanten zur Konfirmation schreibe, dann schreibt man wieder anders. Und wenn man den Gemeindebrief schreibt, dann schreibt man keinen Brief an ein Kind.
Man stellt sich doch auch auf den Hörer ein und benutzt eine andere Sprache. Im Jugendgottesdienst wird doch anders gepredigt als etwa in einer Bibelstunde am Dienstagabend. Und wenn wir das schon mit unseren sehr begrenzten Möglichkeiten machen, wie viel mehr dieser weitgereiste und weitblickende Völkerapostel! Er konnte sich auf die Leute einstellen. Er sieht, wen er anreden will, und er weiß: Jeder muss merken, ich bin gemeint.
Wir sind ja schlechte Übersetzer, wir sind schlechte Sprecher, wir sind schlechte Brückenbauer vom Wort zu ihnen selbst. Von Paulus sollte man viel mehr haben, von dessen großer Gabe: Wenn er gesprochen hat und er geschrien hat, merkten die Leute: Ich bin gemeint, auch an diesem Abend. Auch wenn es uns nicht so gelingt, diese Brücke zu schlagen, so müssen sie es trotzdem wissen: Hier bin ich angesprochen. Dieses Wort meint mich. Es meint nicht nur die römischen Legionäre, es meint auch meine Welt, es meint auch meine Existenz, auch meine Person.
Das ganze Evangelium ist zugespitzt für mich, für mich geschrieben. Ich muss es merken.
Der Aufruf zum würdigen Wandel als Bürger des Himmels
Der Ausgangspunkt lautet: Wandelt würdig des Evangeliums. Der übliche griechische Begriff für „wandeln“ ist peripatien, was so viel bedeutet wie umhergehen, spazierengehen oder herumgehen. Doch hier wird ein anderer, seltenerer Begriff verwendet, nämlich politeuesthai. Dieser bedeutet eigentlich „Bürger sein“. Der Polites ist der Bürger.
Man sollte dabei nicht an die „Politesse“ denken, die mit großer Noblesse einen blauen Zettel an den Autohalter klebt, damit es nicht zu auffällig aussieht. Hier ist das nicht gemeint, sondern das Bürgersein im eigentlichen Sinn.
Was meint Paulus damit? Er spricht die Leser seines Briefes auf ihr römisches Bürgersein an – so wie er selbst. Paulus war römischer Bürger. Deshalb wurde er nicht einfach verurteilt, sondern per Schiff nach Italien gebracht. Nur weil er römischer Bürger war, konnte er in Haft sitzen und gleichzeitig seine Briefe schreiben.
Er sagt: Ihr seid weit weg von Rom, ihr seid in Philippi. Trotzdem wandelt ihr dort als römische Bürger mit allen Rechten und Pflichten. Auch wenn Tausende Kilometer euch von eurer Heimat trennen, bleibt ihr Bürger Roms.
Diesen Begriff überträgt Paulus und sagt: So ist es auch mit denen, die diesem Gott gehören. Auch wenn ihr nicht im Himmel lebt, auch wenn ihr meilenweit, himmelweit vom Himmel entfernt seid, ihr seid Bürger des Himmels. Auch wenn ihr keine Beziehung mehr dazu habt, selbst wenn ihr euch schon lange festgesessen und festgefressen habt – ihr habt die Rechte und Pflichten der Kinder Gottes.
Das gilt auch für die Leser. Sie mögen weit, weit weg vom Himmel sein. Sie mögen schon gar nicht mehr daran denken, dass sie eigentlich Kinder Gottes sind, weil sie schon zu lange hier leben und mit ihren Problemen beschäftigt sind. Unabhängig davon sind sie Bürger des Himmels, sie sind Kinder Gottes. Darauf werden sie an diesem Abend angesprochen.
Das bedeutet auch, dass der, der oben ist, euch hier unten nicht vergessen hat. Wandelt also als solche, die ihm gehören, als Bürger des Himmels. Wandelt dessen würdig.
Unser Verhalten muss diesem Tatbestand entsprechen. Unser Christsein muss darauf abgestimmt sein. Christsein ist alles andere als ein nettes Hobby, das man eben auch macht. Es ist alles andere als eine Lieblingsbeschäftigung oder ein Zeitvertreib, so wie man Querflöte spielt – abends und morgens oder auch mittags, aber dazwischen etwas völlig anderes tut.
Nein, es ist etwas anderes, als ob man Rosen züchtet oder Briefmarken sammelt. Bürger Gottes zu sein bedeutet, in allem zu denken, zu tun und zu dichten – in allem.
Herausforderungen in der Gemeinde: Stehen, Kämpfen und Einheit
Dazu gehört vor allem dieses Stehen, dieses Kämpfen und dieses Eines Sinnessein – dieses A, B, C: Kämpfen, Stehen, Kämpfen, eines Sinnessein.
Obwohl Paulus diese drei Punkte hier extra nennt und auch als rühmenswert hervorhebt, wissen wir, dass es gerade in Philippi an genau diesen Stellen haperte. Sie standen nicht alle fest, sondern traten den Rückzug an. Das heißt, sie schwiegen und verschwiegen, dass sie Christen sind. Sie fielen um oder zogen sich ins Schneckenhaus der Innerlichkeit zurück und legten sich einfach eine Tarnkappe zu. Sie sind zwar Christen, aber eben versteckt.
Als Grund dafür kommen Widersacher in Frage. Widersacher sind sicher jene Männer, die Paulus damals hinter Schloss und Riegel gebracht und ihn im Kerker festgeschraubt haben. Das können Widersacher sein. Widersacher sind auch diejenigen, die den Christen das Leben schwer machen – im Ural, in Russland, in Afrika oder in Teilen Südamerikas. Wenn die Beobachter Recht behalten – und sie werden Recht behalten – wächst die Zahl der Widersacher.
Aber wir können ja nicht direkt behaupten, dass wir hier in Stuttgart heute und jetzt Widersacher hätten. Trotzdem meint der Begriff Widersacher nicht nur den anderen, der außerhalb der Gemeinde Christen angreift und ihnen das Leben schwer macht. Widersacher tauchen oft auch innerhalb der Gemeinde auf, innerhalb der Kirche. Dort bringen sie Christen in Not, Verwirrung und Schwierigkeiten, sodass diese schließlich den Rückzug antreten oder sich nicht mehr richtig als Christen zeigen.
Woran denke ich? Wo hätten wir unsere Widersacher? Ich denke an jene Leute, die uns in der Kirche immer deutlicher klarmachen wollen, dass es eigentlich gar nicht so sehr darum gehe, Christ zu werden, sondern ums Menschwerden. Darum gehe es heute auch in der Kirche. Wir müssten zum rechten Menschsein und Menschwerden weiterhelfen. Es gehe nicht darum, dass man immer mehr abnehme, sondern dass das eigene Ego, das eigene Ich gestärkt werde – weit entfernt von dem, was ein Apostel Johannes einmal gemeint hat.
Ich halte das für echte Widersacher. Im Reich Gottes geht es zuerst ums Christwerden, und der Christ wird dort auch Mensch. Wer Mensch wird, wird nicht Christ, sondern meistens Unmensch – so zeigen es die Linien der Bibel.
Oder das andere Thema, das heute stark diskutiert wird: Widersacher in der Gemeinde sind die, die sagen, es gehe nicht um die Ausbreitung des Reiches Gottes.
Wissen Sie, im August 1855, genau während der Weltausstellung in Paris, trafen sich einige junge, hochbegabte Männer in Paris. Unter ihnen war auch Henri Dunant, der später das Rote Kreuz gründete. Sie setzten sich zusammen und legten ein Dokument nieder, das sie unterzeichneten und für das sie sich einsetzten. Darin steht: „Wir müssen dafür sorgen, dass das Reich Gottes unter jungen Männern ausgebreitet wird.“
Das war die Gründung des CVJM in der Welt – die Ausbreitung des Reiches Gottes unter jungen Männern. Die Ausbreitung des Reiches Gottes in der Welt ist eigentlich das Hauptthema des Neuen Testaments. So hat sich Jesus verabschiedet, als er wegging, und sagte: „Geht hin, breitet dieses Reich aus.“
Heute geht es um die Ausbreitung des Reiches Gottes, um die Ausbreitung des Friedensreiches, um ein Reich, in dem die Waffen geächtet werden. Aber „Reich Gottes“ ist wohl die Sprache des 19. Jahrhunderts.
Freunde, auch heute geht es um die Ausbreitung des Reiches Gottes. Alles andere sind Dinge Nummer drei, Nummer vier und Nummer fünf. Und eben auch dort, wo nicht mehr von Mission gesprochen wird, sondern nur noch vom Dialog mit anderen, von der großen Weltgesellschaft: Juden, Christen und Nichtchristen, alle glauben an einen Gott. Das ist nicht das Ziel des Neuen Testaments.
Widersacher von innen stehen nicht fest, sondern sie fallen. Die Philipper – die Gefahr dort war, dass sie nicht standen.
Zweitens: Sie kämpfen nicht, sondern sie lassen den Karren sausen. Sie sagen: „Der Herr wird es schon recht machen“, so wie es viele Fromme gerne sagen – Pietisten, die zu Pietisten werden. Fromme Leute, die schließlich nur noch die Hände falten und sagen: „So mag es recht sein, und der wird es schon machen, ich muss nichts dazu tun.“
Paulus fordert zum Kampf auf, aber im Kampf für das Reich Gottes gibt es nur zwei Waffen: nämlich das Zeugnis und die Fürbitte. Keine dritte Waffe, keine vierte.
Ich möchte das besonders jenen Eltern unter uns sagen oder jenen Leuten, die diesen Kampf nicht in der Gemeinde, sondern in der eigenen Familie führen müssen. Die kämpfen für oder gegen die eigenen Kinder, die vom Glauben abgekommen sind und plötzlich einen völlig eigenen Weg gehen.
Man kann entweder sagen: „Ich mache gar nichts, ich lasse alles sausen, der Herr wird schon Recht machen.“ Oder man kämpft verzweifelt. Man zieht die letzten Notbremsen, Freunde werden aufgeboten, Onkel und Tante müssen anreisen, jeder soll mitkämpfen, damit das Kind wieder auf die rechte Bahn kommt. Es werden Standpauken gehalten, und es wird vorgehalten: „Wie kann sie so undankbar sein?“ Alles das ist falsch.
Es gibt nur zwei Waffen, liebe Freunde, immer nur zwei Waffen, auch in Ehen, wo es nicht stimmt: das Zeugnis – manchmal nur das Tatzeugnis, nicht einmal das Wortzeugnis – wo ich Liebe zeigen kann, indem ich mich entsprechend verhalte – und die unablässige Fürbitte.
Was haben schon Großmütter durch ihr Gebet erreicht? Was haben Eltern wieder hinbekommen, wenn junge Menschen auf dem falschen Weg waren? Und wenn wir es nicht sehen und es vielleicht nie sehen werden, heißt das nicht, dass es nicht angekommen ist. Wer weiß, was Gott mit diesen Leuten einmal tun wird.
Beschränken wir uns auf das Zeugnis und das Gebet – das ist es.
Sie kämpfen nicht, sondern sie lassen den Karren sausen, sausen in Philippi.
Drittens: Was die Gefahr war, sie waren nicht eines Sinnes, sondern so viele Köpfe, so viel Sinn. Wir kennen diesen Satz.
Der Ehrgeiz spielt eine Rolle, das persönliche Ansehen, das eigene Ich. Dabei könnte doch eigentlich nur die Einheit uns retten – die Einheit in der Familie, die Einheit in der Kirche, die Einheit in der eigenen Gemeinde.
Es ist doch so: Ich habe mich daran erinnert, wenn man auf einer Hallig ist, drüben in der Nordsee, und dort ist man eigentlich das ganze Jahr, ja das ganze Ausjahr damit beschäftigt, das Ufer zu befestigen.
Schön wäre es, wenn in wenigen Jahren die ganzen Halligen, diese kleinen Inseln, nicht weggeschwommen wären. Dafür werden große Steine vom Norden mit Schiffen gebracht, und in mühseliger Arbeit wird Stein an Stein gefügt.
Wehe, wenn ein Stein herausgebrochen wird! Wehe, wenn ein Loch entsteht! Nach der nächsten Flut, nach der nächsten Sturmflut reißt genau dort das Meer ein und zerstört den ganzen Deich.
„Wehe, wenn einer herausgebrochen wird!“ Das ist die Stelle, an der es aufbricht und an der die Gegenmacht in eine Gemeinde einbricht. Eine Einheit, eine geistliche Einheit, die ist gefordert.
Hoffnung trotz Schwierigkeiten: Der Blick auf Jesus Christus
Man könnte eigentlich, wenn man das alles sieht – dass sie nicht kämpfen, dass sie nicht zusammenstehen, dass sie nicht einer Meinung sind – über eine Gemeinde wie Philippi verzweifeln. Man könnte denken, jetzt läuft alles schief. Und das kennen Sie doch auch: So steht man vor seiner eigenen Großfamilie und denkt, jetzt bricht alles zusammen, jetzt geht es gerade voll kaputt.
Dann denkt man an seine Kirche, sieht und liest, was dort alles vor sich geht, und überdenkt einmal ohne Illusionen seine eigene Gemeinde. Da denkt man an seine zwanzig Konfirmanden, die man vorgestern konfirmiert hat, lässt sie noch einmal vom Auge vorbeiziehen und weiß ganz realistisch, wie viele heute schon nicht mehr am Dienstag da sind und nicht mehr kommen werden.
So sieht es doch aus, so sieht es doch aus. Wie geht es denn weiter? Geht es denn überhaupt noch weiter bei uns, der Gemeinde, der Kirche? Ist das nicht alles ein brüchiger Laden? Und liebe Freunde, wenn Sie auch so mitleiden an einer Stelle, dann hören Sie eben dieses Thema.
Hier setzt eben die Freudenepistel ein. Hier heißt das Thema: Leben ist möglich, Leben ist trotzdem möglich, Leben ist gerade möglich. Wie? Da sagt der Philipper 2,5: „Auf das seid bedacht, was auch in Jesus Christus war.“ Das ist das Geheimnis.
Hier wird uns jene seelsorgerliche Hilfe zuteil. Es ist so, als ob der Apostel hier jedem mit beiden Händen den Kopf halten wollte, so als ob er in seiner Freudenepistel mit seinen Händen auf jeden zukommt und ihm sagt: Du, jetzt schau einmal nicht auf die, die nicht stehen, sondern sich ins Schneckenhaus verkriechen. Jetzt schau doch einmal nicht auf die, die einfach nicht einer Meinung sind und sich zanken. Jetzt schau doch nicht einmal auf den ganzen Laden der Kirche, schau auch nicht auf deine Familie, die dir so zu schaffen macht. Schau nicht auf deine Schwierigkeiten, wo du nicht weiter siehst.
Schau doch einmal von all dem weg und richte den Kopf auf – so, wie man einem Kind etwas zeigen will. Versuchen Sie einmal, einem drei- oder vierjährigen Kind etwas mit der Hand zu zeigen. Es wird ständig in die falsche Richtung schauen. Bei einem Kind ist es nur möglich, wenn man ihm den Kopf in die Hand nimmt, in die richtige Richtung dreht und sagt: So schau! Und so tut er es hier.
„Darauf seid bedacht“ – er dreht uns den Kopf so, bis wir Jesus Christus in den Blick bekommen. Und er sagt: Nur wenn ihr ihn wieder so seht, wie er ist, dann wird es anders sein. Dann wird es anders werden können. Dann werdet auch ihr jenes Thema buchstabieren: Leben ist möglich.
Er singt nicht das alte Lied der Verzweiflung, sondern er stimmt hier das Lied der Freude an, diesen Osterhymnus, diesen bekannten Hymnus. Wir haben hier in den Versen 5 bis 11 einen Hymnus vor uns liegen, der sicher älter ist als Paulus, ein Lied, das in der Gemeinde bekannt war, gesungen und das er erhört aufgenommen und hier zitiert hat – so wie wir manchmal einen Liedvers in der Predigt zitieren.
So hat er es aufgenommen. So ist dieser Hymnus da: Schaut auf diesen Christus! Und er singt uns gleichsam diesen Osterhymnus ins Ohr: „Jesus lebt, ihm auch ich tot, wo sind nun deine Schrecken?“
Jesus Christus zu sehen – dann ist Leben möglich. Und zwar einfach aus diesen drei kurzen Strophen, die hier angezeichnet sind:
Leben ist möglich, weil Jesus zu uns kam – Strophe eins.
Leben ist möglich, weil Jesus für uns starb – Strophe zwei.
Leben ist möglich, weil Jesus über uns bleibt – Strophe drei.
Die Bedeutung des Opfertodes Jesu
Dazu ein paar kurze Sätze.
Erstens: „Leben ist möglich, weil Jesus für uns starb“ – das ist die erste Strophe. Mir ist dieser kleine Vers immer eindrücklich gewesen. Ich habe ihn schon einmal zitiert, von dem Dichterpfarrer Kurt Marti aus der Schweiz. Er hat einmal gedichtet:
„Ich wurde nicht gefragt bei meiner Geburt. Und die, die mich gebar, wurde auch nicht gefragt bei ihrer Geburt. Niemand wurde gefragt“ – unheimlich resignativ.
Ich wurde nicht gefragt, ob ich im Neckartal zur Welt kommen will. Sie wurden nicht gefragt, ob sie in der Familie geboren werden wollten, in der sie wirklich aufgewachsen sind. Wie viele leiden noch daran? Sie wurde nicht gefragt, ob sie mit schwarzer Hautfarbe herumlaufen will. Und jener wurde nicht gefragt, ob er dieses Aussehen haben will, das er nun eben hat.
Niemand, niemand wurde gefragt bei seiner Geburt. Wir wurden in diese Welt gestellt, alle – außer einem, außer einem, sagt Marti, außer Jesus.
Vielleicht ist diese Szene nach dem Gebot verboten, wo es heißt: „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Aber mir geht dieses Bild nicht aus dem Kopf: Ein Bild, wo der Vater, der himmlische Vater, seinen Sohn zu sich herannimmt, seinen einzigen Sohn, seinen einzigen, heiß geliebten Sohn. Und wo er zu diesem Sohn sagt: „Schau mal auf diese Erde.“
Dann schaut dieser Sohn auf diese Erde, diese Erde, die dieser Vater einst so schön gemacht hat und die nun weithin eine einzige Blutlache ist. Nicht nur, dass Menschen sich gegenseitig blutig schlagen, sondern dass diese Welt im Aufstand gegen ihn selbst steht.
Eine Welt, die reif wäre zur Vernichtung und zum Gericht. Und der Vater fragt den Sohn: „Willst du dorthin? Willst du dort geboren werden? Kannst du das übernehmen?“ Himmel und Erde halten den Atem an!
In diese Stille hinein hören wir, müssen wir hören, das Ja Jesu, „Ja Vater, ja von Herzensgrund.“ Jesus krallt sich nicht an seinem Besitz fest, er klebt nicht an seinem Stuhl, so wie wir an den Stühlen kleben. Er fühlt sich nicht unter Wert verkauft, jetzt so ein dreckiger Mensch zu werden.
Sondern er entledigt sich seines Zepters und seines Ruhmes und wird ein Mensch. Nicht nur Mensch, er wird Knecht, er wird Sklave.
Hier gebraucht der Apostel den Begriff Morphe. Man kann es nicht richtig übersetzen, diese beiden Begriffe Morphe und Schema. Verstehen Sie: Wir alle haben die Morphe des Menschen. Aber das Schema, die Gestalt, ist sehr verschieden.
Nicht wahr, wir sind alle Menschen, aber der eine ist jung, der andere ist schon älter, und der dritte gehört zu den Senioren. Wir sehen sehr verschieden aus, sind aber alle Menschen. Das ist die Morphe.
Er nimmt die Gestalt des Menschen an. Er ist Gott, er ist Gott, aber er nimmt nun unsere Gestalten, unser Aussehen.
Und das ist das Interessante an diesem Kapitel: Er wird nun nicht nur so gleichsam ein Knecht, so wie man sich beim Theater verkleidet und einen kurzen Auftritt hat, sondern dieses Morphe taucht noch einmal auf.
Der, der ganz die Morphe Gottes hat, übernimmt die Morphe des Knechtes.
Hier jenes dunkle, ich nie kapierende Geheimnis: Gott war Mensch. Der, der ganz Gott war, wird ganz, ganz Mensch und Sklave. Er tritt ganz unten an, ganz unten.
Der höchste Gott sucht den untersten Platz aus. Das ist seine Demut, das ist seine Demut. Und daran orientiert euch, daran orientiert euch, daraus lernt.
Das kann ja nur einer kapieren, der unsere Welt heute kennt.
Nicht wahr, wie ist es denn? Spitzensportler muss man sein. Wer den vierten Platz einnimmt, ist völlig uninteressant.
Für unsere Buben ist doch, wenn der VfB nicht Erster oder allenfalls Vizemeister wird, wenn er nur Vierter wird, völlig uninteressant. Dann können die alle Spieler verkaufen, sind lauter Flaschen.
Nur Spitzensportler, nur Spitzenmannschaften sind interessant. Andere sind in unserer Gesellschaft nicht gefragt.
Oder Spitzenpolitiker: Will einer vielleicht Hinterbänkler werden? Vorne muss man mitreden, im Weiberat oder wie das so heißt jetzt. Vorne muss man mitreden, vorne dabei sein. Oder Spitzenbeamter.
Wer will schon im Vorzimmer sitzen bleiben? Vercremt geht man in den vorzeitigen Ruhestand. Nein, jeder will Spitze sein.
Und Nietzsche hatte schon Recht, wenn es Gott gäbe, wie hielt ich es aus, nicht Gott zu sein? Immer das alte Lied.
Und Paul singt das neue Lied, Christuslied.
Freunde, er war nicht der Aufsteiger, er war eben der Absteiger. Er war nicht der Spitzenreiter, er war eben jener Eselsreiter. Er war nicht der Geachtete, er war der Geächtete.
Wo alle hoch hinaus wollen, will er nach unten, da will er nach unten.
Das Leben geht dann weiter, wenn wir weiter auf dieser Lebenslinie nach unten orientiert bleiben.
Wenn heute einer sagt: „Ich bin nichts und ich kann im Grunde auch nichts, und ich habe nichts, und ich werde auch nichts haben.“ Zudem wird gleich gesagt: „Du musst zum Psychiater, du musst auf die Couch, du bist nicht mehr normal.“
Sicher, es gibt Krankheitssymptome, nichts dagegen.
Aber einer, der so sagt und sich erkennt: „Ich bin im Grunde nichts und ich habe auch nichts zu bringen, und ich werde auch nicht viel bringen können mit den Gaben, die ich habe“ – ihr Freunde, der ist ganz nahe bei diesem Herrn. Der ist ganz nahe bei der Demut, diesem Fremdwort unserer Zeit, dem Hauptwort der Bibel, ganz nahe bei dem.
Die sind angesprochen, die so wenig bringen können heute.
Und das andere: Weil Jesus für uns starb, für uns starb.
Er wurde ja noch einmal gefragt von seinem Vater in jener Stunde in Gethsemane, ob er es denn übernehmen könne, ob er denn sterben könne.
Und Jesus sagt noch einmal Ja. Das ist der Gehorsam, der seine Entscheidung beeinflusst: „Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.“
Jesus hat alles auf sich genommen. Gehorsam ging er in den Tod.
Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht.
Ich fand noch einmal jenes Bild von Siegfried Kettling, der, der am letzten Dienstag uns den Isenheimer Altar erklärt hat.
Er wagte einmal ein Bild und sagte: Wenn man Sünde mit Schrott vergleichen könnte, wenn man alle Sünde aller Menschen und aller Zeiten zu einem gigantischen Haufen auftürmen würde.
Wenn man dieses Altmetall einschmelzen und aus der flüssigen Sündenmasse eine Plastik gießen könnte, wie würde diese Figur aussehen? Was würde sie darstellen? An wen würde sie erinnern? Etwa an die Fratze des Teufels oder die Visage des Satans oder die Maske des Versuchers?
Nein, dieses Bildwerk sähe aus wie der gekreuzigte Christus, für uns zur Sünde gemacht.
Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein des Sandes an dem Meer finden, die haben die Erreger, das Elend, das dich schlägt und das betrübt immer der Herr, zur Sünde gemacht.
Einer an unserer Stelle.
Jesus starb für uns. Nun gibt es keine Verfehlung mehr, keine Übertragung mehr, keine Last mehr, die er nicht helfen könnte.
Und Vergebung ist eben der Anfang einer Gemeinschaft, die eines Sinnes ist.
Auf das sei bedacht, was in Christus war.
Die Erhöhung Jesu und die Herrschaft über alle Namen
Und das Letzte, weil Jesus über uns bleibt: Der Hymnus endet nicht hier. Er hat noch eine Strophe, in der die Tonart sogar von Moll in Dur wechselt. Es ist eine österliche Melodie, die bereits auf den Ostersonntag hinführt.
Dieser Jesus wurde ja nicht einfach vergraben, verlocht und vergessen. Seine Lebenslinie verlor sich nicht im Nichts. In einer dramatischen Wende hat Gott eingegriffen, Jesus aus dem Grab herausgeholt, ihn erhöht und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist.
Hier steht das erste Glaubensbekenntnis der Christen überhaupt: Jesus Kyrios – Jesus ist der Herr. Nicht der römische Kaiser, nicht irgendein Herr, sondern Jesus ist der Herr. Gott hat ihm diesen Namen gegeben.
Was sind das alles für andere Namen? Regen oder Mitterrand oder Storf – die russischen Namen wechseln so schnell, dass ich sie schon gar nicht mehr zitieren kann. Sehen Sie, wer kann sie noch behalten? Ein Name bleibt: Jesus, der Herr. Auch mein Name fällt der Vergessenheit anheim. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich alle Knie vor diesem einzigen Herrn beugen müssen.
Er ist von Gott zum alleinigen Spitzenmann gemacht worden. Jesus Christus herrscht als König, alles ist ihm untertänig, und unter ihm ist Leben möglich. Auch dort, wo wir so viel Tod sehen, auch dort, wo wir so viel Verzweiflung erleben, auch dort, wo wir unser eigenes Unvermögen erkennen – Leben ist möglich, weil dieser Jesus lebt. Amen.
Schlussgebet und Segenswünsche
Vater, wir wünschen uns sehr, dass du mehr Gestalt in uns gewinnst. Du kennst uns und weißt um unsere eigenen Beschreibungen, unseren Willen, das, was wir durchsetzen wollen, und was wir für richtig halten.
Lass uns nach unten orientiert sein, hin zu dir. Schenke uns diese Demut und diesen Gehorsam sowie die Gewissheit, dass wir dann an deiner Seite sind.
Herr, wir bitten dich für die Familien, in denen es Schwierigkeiten gibt. Du kannst Neuanfänge schenken. Du kennst deine Gemeinde in dieser Welt. Lass sie nicht zerrissen werden von Widersachern innen und außen.
Wir befehlen dir an diesem Abend unsere Kranken, unsere Betrübten und unsere Verzweifelten. Sei auch du ihnen nahe mit dem Trost, den nur du geben kannst.
Begleite uns nun auf unserem Nachhauseweg, Herr. Es ist Abend geworden, und der Tag hat sich geneigt. Bleibe du bei uns, Herr. Segne uns und behüte uns, Herr. Lass dein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig.
Herr, erhebe dein Angesicht auf uns und gib uns deinen Frieden. Amen.
Eine gute Nacht und Gott befohlen.