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Wohin geht die Fahrt?

28.08.1993Jesaja 29,17-24
Manche sehen ihr Leben wie die Zugfahrt in Dürrenmatts Geschichte "Der Tunnel": "Gott lässt uns fallen. Die Fahrt endet im Tod." Jesaja sieht es anders: "Gott lässt uns nicht fallen. Die Fahrt endet im Leben." - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Eine tolle Geschichte, die der Schweizer Friedrich Dürrenmatt einmal erzählt hat. Sonntagabends besteigt ein 24-jähriger Student den überfüllten Zug, um an seine Universität zurückzufahren. Er kämpft sich durch das Wirrwarr von Familien, Rekruten und Liebespaaren und findet schließlich im letzten Wagen noch einen Fenster­platz. Während er sich genüsslich eine Brasil ansteckt, was damals noch nicht als umweltfeindliche Maßnahme bekrittelt wurde, huschen draußen liebliche Berge und gepflegte Wiesen und schmucke Häuser vorbei. Die goldene Abendsonne tauchte alles in einen tiefen Frieden. Und dann passiert das Unheimliche. Kurz vor Burgdorf fährt der Zug in einen Tunnel, der normalerweise in wenigen Augenblicken passiert ist. Nur diesmal rast die Eisenbahn mit steigender Geschwindigkeit in die nicht enden wollende Nacht. Den Studenten hält es nicht mehr auf seinem Platz. Wohin geht die Fahrt? Die im Sitzabteil dösen vor sich hin und beweisen ihre Wursthaftigkeit. Wohin geht die Fahrt? Die im Speiseabteil heben ihre Gläser und demonstrieren ihre Weinseligkeit. Wohin geht die Fahrt? Die im Gepäckabteil sind sich ihrer Sache sicher und verlassen sich auf den Plan. Der Student kämpft sich bis nach vorne durch. Der Führerstand ist leer. Der Geschwindigkeits­messer schnellt nach oben. Die Lokomotive senkt sich nach unten. Wohin geht die Fahrt? Der Student brüllt es in die Nacht: "Gott lässt uns fallen. Die Fahrt endet im Tod."

Viele Fahrten enden im Tod, auch unsere Lebensfahrt. Keiner ist auf dem Bahnsteig zurückgeblieben. Niemand bläst ein Abschiedsständchen und winkt den Reisenden nach. Wir alle haben im Zug der Zeit unser Plätzchen gefunden. Tage, Wochen, Monate huschen an uns vorüber. Die Sonne liegt über einem Geschlecht, das nach Goethe vom Dunkeln ins Helle strebt. Aber dann passiert das Unheimliche. Das Licht verschwindet. Die Dunkelheit breitet sich aus. Der Zug rast mit zunehmender Geschwindigkeit in die Nacht der Not, der Leiden, der Kriege, der Quälerei, der Unterdrückung hinein. Nur wenige reißt es vom Stuhl. Wohin geht die Fahrt? Die einen dösen und beweisen, dass ihnen alles wurst ist. Wohin geht die Fahrt? Die andern heben das Glas und demonstrieren, dass sie in dieser Flucht das Heil sehen. Wohin geht die Fahrt? Die dritten sind sich ihrer Sache sicher und verlassen sich auf ihre Bücher. Aber der Führer­stand ist leer. Die Geschwindigkeit nimmt zu. Die Katastrophe ist unvermeidlich. Wohin geht die Fahrt? Wie das Brüllen in der Nacht klingt es: "Gott lässt uns fallen. Die Fahrt endet im Tod."

Jesaja sieht es anders, obwohl auch er die Nöte und Leiden seines Volkes sieht. Jesaja sagt es anders, obwohl auch er die Quälereien und Unterdrückungen seines Volkes kennt. Jesaja ruft es anders in die Nacht seines Volkes: "Gott lässt uns nicht fallen. Die Fahrt endet im Leben." Jesaja 29 ist ein Dokument der Hoffnung für das Volk Gottes: Die Fahrt endet im Leben. Jesaja 29 ist eine Manifestation der Zuversicht für die Gemeinde Jesu Christi: Die Fahrt endet im Leben. Jesaja 29 ist eine Magna Charta der Glaubensgewissheit: Die Fahrt endet im Leben.

Der Prophet unter­streicht es dadurch, dass er uns etwas über das Fahrziel, den Fahrplan und die Fahrdauer sagt.

1. Das Fahrziel

... ist eine Stadt. Für den Studenten war es eine Universitätsstadt. Für die Familien war es die Heimatstadt. Für die Rekruten war es die Garnisonsstadt. Für die Liebespaare war es die Großstadt. Für uns ist es die Hauptstadt, aber alle Städte, wie wir sie auch benennen mögen, haben laut jüngsten Studien eine gefährliche Tendenz. Aus der Metropolis, der großen Stadt, entwickelt sich die Megapolis, die zu große Stadt, daraus die Tyrannospolis, die gewaltbedrohte Stadt, daraus die Pathopolis, die kranke Stadt, schließlich die Nekropolis, die sterbende Stadt.

Ist es nicht so, dass immer mehr Menschen immer weniger Heimat darin finden? Die Unsicherheit, ob man denn abends im Schloßpark noch seines Lebens sicher ist, die Ungewissheit, ob man denn bei bescheidener Rente die steigende Miete noch zahlen kann, die Bangigkeit, ob man denn im Alter die Rolltreppen und Unterführungen noch bewältigt, wird immer stärker. Da mag man die Cities mit Festen beleben und die Fußgängerzonen mit Bäumen begrünen, die Angst wächst und Bert Brecht hatte vielleicht recht: "Von diesen Städten wird bleiben, der durch sie hindurch­ ging, der Wind."

Aber Jesaja spricht nicht von der Nekropolis, sondern von der Theopolis. Das heißt, nicht die Totenstadt ist unser Fahrziel, sondern die Gottesstadt, die neue Stadt, die heilige Stadt, die ewige Stadt. Selbst für Städtekenner bietet sie atemberaubende Überraschungen. Es ist eine Stadt ohne Elendsquartiere. Keiner campiert unter dem Brückenbogen. Niemand besorgt sich Stoff in der Szene. Jeder hat ein Dach überm Kopf und Boden unter den Füßen. Die soziale Not wird ein Ende haben. "Zu der Zeit werden die Ärmsten fröhlich sein." Und es ist eine Stadt ohne Polizeiwachen. Keiner haut den andern übers Ohr. Niemand zündelt im Haus von Fremden. Jeder bietet dem andern die Hand. Die gesellschaftliche Not wird ein Ende haben. "Zu der Zeit werden die Gewalttätigen vertilgt sein." Und es ist eine Stadt ohne Krankenhäuser. Keiner hängt mehr am Tropf. Niemand muss ein böses Geschwür befürchten. Jeder wird eine Zukunft haben. Die Todesnot wird ein Ende haben. "Zu der Zeit werden die Elenden wieder Freude haben." Und es ist eine Stadt ohne Friedhöfe. Keiner wird zu Grabe getragen. Niemand muss einen Lieben beweinen. Jeder wird Leben vor sich haben. Die Todesnot wird ein Ende haben. "Zu der Zeit werden die Gebrechlichen aufstehen." Nein, es wird nicht ewig geschlagen, gelitten, getrauert, gestorben, weil die Gottes­stadt unser Ziel ist. Auch als Tieftraurige haben wir die Freude vor uns. Auch als Schwerkranke haben wir die Gesundung vor uns. Auch als Sterbende haben wir die Auferstehung vor uns, wenn wir an ihn glauben. Die Fahrt endet im Leben.

Aber haben wir damit nicht abgehoben? Sind wir mit alledem nicht einem Phantasten auf den Leim gekrochen? Ist das nicht ein Trip, eine Illusion, ein wunderschöner Luftballon? Hatte Rilke nicht recht: "Welcher Wahnsinn, uns nach vorne abzulenken?" Hatte Brecht nicht recht: "Das ist Ausbruch ins Leere, Vorstoß ins Nichts." Hatte Feuerbach nicht recht: "Das ist nur Spiegelung unserer Wünsche!" Wer steht für dieses Fahrziel? Jesaja sagt, uns das ist das Zweite: der Fahrplan.

2. Der Fahrplan

... ist ein Buch. Für den Studenten ist es das Kurs­buch. Aber schon jenes unheimliche Ereignis in Dürrenmatts Ge­schichte deutet an, dass es nicht immer nach Plan läuft. All unsere Kursbücher, Marschtabellen, Zukunftsplaner, Vorhersagen sind Endloslisten von Fehlern und Irrtümern.

Deshalb schaut Jesaja nicht in unsere Bücher, er liest auch nicht in der Asche, pendelt nicht mit der Uhr, guckt nicht in die Sterne, studiert nicht in den Handlinien, er hält sich nicht an Zeichen und Zahlen, sondern an Worte. Die "Worte des Buches" sucht er, gemeint sind die Worte des Bibelbuches. Sie sind der Fahrplan, der allein Gültigkeit besitzt. Denn nur diese Worte sind Fleisch geworden. In Bethlehem ist nämlich der geboren, der Menschen erlöst und Freude auslöst.

Jesus Christus ist dieses Buch in Person. Er vertauschte sein Vaterhaus im Himmel mit unserem Tollhaus auf Erden. Hier spielte er sich nicht als Hausbesitzer auf, der auf den Tisch haut und ständig die Miete erhöht. Er spielte nicht den Hausbesetzer, der ein Spruchband an die Fassade hängt und die Zweckentfremdung verhindern will. Er spielte nicht den Hausmeister, der mit stählernem Besen vorfegt und für Ruhe und Ordnung sorgt. Jesus ist von allem Anfang an der Sanierer unserer Todesstädte: "Ich bin gekommen, dass sie Leben und volle Genüge haben sollen." Ihn zogen die verlassenen Winkel, die vergessenen Kammern, die feuchten Souterrains magnetisch an. Treppauf, treppab war er unterwegs, um dort für Helle zu sorgen, wo es stockdunkel geworden ist. Wir sehen ihn beim Tauben, dem er den verschlossenen Gehörgang öffnet. Wir sehen ihn beim Blinden, dem er das Augenlicht zurückgibt. Wir sehen ihn beim Elenden, den er als Langzeitkrank­en von der Matratze holt. Wir sehen ihn beim Toten, den er aus der Gruft ruft. Überall wird es sichtbar, dass Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören und Armen das Evangelium gepredigt wird. Selbst am Kreuz hört er nicht auf, dieser Mann zu sein, weil sein Tod die Vergebung der Schuld, die Tilgung unserer Sünden, die Befreiung von der Vergangenheit ermöglicht. Wegen Jesus stimmt der Fahrplan. In Jesus werden die Konturen des Fahrzieles immer deutlicher. Durch Jesus haben wir Aussicht auf die Gottesstadt. Jesus steht dafür. Die Fahrt endet im Leben.

Aber ist damit nicht alles auf die lange Bank geschoben? Ist das nicht ein Plädoyer für feige Weltflucht? Ist das nicht billige Vertröst­ung? Jesaja fügt deshalb ein Wort über die Fahrdauer hinzu:

3. Die Fahrdauer

... ist eine bestimmte Zeit. "Wohlan, es ist noch eine kleine Weile." Für den Studenten ist es eine Ewigkeit. Der freie Fall ins Nichts schien endlos zu sein. Jene Erzählung Dürrenmatts endet mit dem Satz: "So stürzen wir denn immerzu." Aber nach unserem Fahrplan ist die Fahrdauer begrenzt: eine kleine Weile, wörtlich: ein Spänlein von Wenigkeit.

Das gilt dem Elenden unter uns, der unter der Last seines Lebens, unter der Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit stöhnt und sich fragt: Wie lange noch muss ich diesen Packen schleppen? Jesaja sagt: "Noch eine kleine Weile, ein Spänlein von Ewigkeit." Es gilt dem Kranken unter uns, der nie mehr frei von Schmerzen ist und sich fragt: Wie lange noch muss ich diese Belastung aushalten? Jesaja sagt: "Noch eine kleine Weile. Ein Spänlein von Wenigkeit." Es gilt dem Sterbenden, der kaum mehr atmen kann und sich kraftlos fragt: "Ach, wie lang, ach lange, ist dem Herzen bange?" "Noch eine kleine Weile. Ein Spänlein von Wenigkeit."

Das ist keine Vertröstung, sondern Trost und Hoffnung, die unsere Lebensfahrt bestimmt. Ein Schüler, der nach den Ferien seinen Ranzen packt, freut sich schon auf die Herbstferien: Nur sieben Wochen, dann ist der Stress vorbei. Der Camper, der nach dem Urlaub seinen Wohnwagen einmottet, freut sich auf den Winterurlaub: Nur vier Monate, dann rollen die Räder wieder. Der junge Mann, der sich ein Mädchen angelacht und sich mit ihr verlobt hat, freut sich auf die Hochzeit: Nur noch ein Jahr, dann gehört sie mir ganz. Die Spannung auf morgen liefert die Energie für heute.

Und wenn dies bei Herbstferien und Winterurlauben und Hochzeitsfesten schon so ist, wieviel mehr wird dies bei der Gottesstadt so sein? Wenn er morgen die Elendsquartiere räumen wird, dann muss ich doch heute über dem heulenden Elend nicht zerbrechen. Wenn er morgen die Krankenhäuser evakuieren wird, dann muss ich doch heute über der vielfachen Not nicht verzweifeln. Wenn er morgen die Friedhöfe auflassen wird, dann brauche ich heute über der Trauer nicht schwermütig werden. Ja ich kann sogar mit meinen schwachen Händen mitackern, damit dies wahr wird: "Es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon gutes Land werden."

Liebe Freunde, der Führerstand ist nicht leer. Gott hat seine Hand am Steuer. Für seine Leute gilt: Die Fahrt endet im Leben.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]