Einleitung: Ereignisse an der Universität Hannover
Wir hatten sowieso eine aufregende Woche bei uns in Hannover, weil einige Studenten aus unserer Gemeinde schon vor längerer Zeit einen Arbeitskreis gegründet haben. Mit diesem Arbeitskreis führen sie an der Universität öffentliche Veranstaltungen durch.
Der Arbeitskreis heißt „Wissenschaft und Weltanschauung“. Er war bereits an der zentralen Universität sowie an der MHH, der Medizinischen Hochschule, aktiv. Diesmal sollte an der Fachhochschule für Ingenieurwissenschaften, Fakultät II, ein Vortrag stattfinden. Der Sprecher war Wilfried Ballinghaus vom Deutschen Christlichen Technikerbund. Das Thema lautete: „Bionik – Wie intelligent ist die Natur?“
Bionik ist das Fach, das sich mit der Frage beschäftigt, wie man Ideen aus der Natur als Vorbild für technische Innovationen nutzen kann. Ingenieure staunen über das innovative Potenzial der Natur. Daraus ergibt sich natürlich die Frage: Wenn in der Natur so geniale Modelle und Muster zu finden sind, woher kommen diese?
Der Vortrag sollte am Mittwoch stattfinden. Einen Tag vorher, also am Dienstag, erließ der Dekan der Fakultät plötzlich ein Verbot – mit einer sehr fragwürdigen Begründung. Es war klar, dass letztlich ideologische Gründe dahinterstecken.
Am nächsten Tag erschien früh über den Facebook-Kanal der Fachschaft eine zusätzliche Warnung an alle Studierenden, die den Vortrag „Bionik“ am Campus Linden besuchen wollten. Die Fachschaft ist normalerweise ein Gremium, das die Interessen der Studenten vertritt.
In der Warnung hieß es, dass der Vortrag vom Dekan untersagt wurde. Trotzdem wird damit gerechnet, dass der Veranstalter trotzdem erscheinen wird. Sollte das passieren, wird er mit polizeilicher Hilfe vom Campus verwiesen. Außerdem könnten von allen anwesenden Studenten die Personalien aufgenommen werden, um sie später als Zeugen zu befragen.
Daher wurde noch einmal darum gebeten, nicht zu dem Vortrag zu erscheinen.
Widerstand und Durchsetzung der Wahrheit
Ein paar Minuten später haben unsere Studenten über Facebook Folgendes geantwortet:
Da uns trotz langfristiger Zusage durch den Dekan der Fakultät kurzfristig der Hörsaal verweigert wurde, sind wir gezwungen, unsere Veranstaltung räumlich zu verlegen. Der Vortrag findet jedoch definitiv statt.
Wir laden dazu ein, die wissenschaftliche Debatte mit Argumenten statt Verboten zu führen. Die Veranstaltung wird 300 Meter hinter der Hochschule in der Clubgaststätte 1897, Linden Stammesstraße, stattfinden. Das ist das Vereinsheim eines Rugby-Clubs. Dort hat der Vortrag dann tatsächlich auch stattgefunden. Der Wirt war sehr freundlich und entgegenkommend.
Die Studenten haben sich postiert, teilweise vor dem Hörsaal oder an den Eingängen. Sie haben denjenigen, die kamen, einfach Zettel mit der neuen Ortsangabe in die Hand gedrückt. Auf die bereits aushängenden Plakate wurden rote Zettel mit dem Motto „Argumente statt Verbote“ aufgeklebt. So wurde das ein sehr bewegender Abend mit vielen Gesprächen hinterher, auch mit Fernstehenden.
Man hat gemerkt, wie Gott diesen Tag letztlich besonders gesegnet hat. Ich musste natürlich sofort an den heutigen Vortrag denken, an meinen Auftrag und mein Thema: Die Wahrheit muss verteidigt werden. In diesem Fall musste überhaupt erst einmal die Freiheit verteidigt werden, die Wahrheit überhaupt sagen zu dürfen.
Diese Haltung ist nicht selbstverständlich, auch nicht in christlichen Gemeinden. Einige raten in Konfliktsituationen eher dazu, demütig abzuwarten. Die Wahrheit habe es nicht nötig, verteidigt zu werden, sie werde sich schon selbst verteidigen. Wir sollten uns darauf beschränken, unsere positive Botschaft auszurichten, aber uns nicht auf kontroverse Debatten einzulassen. Das gebe ohnehin nur Streit.
Wir fragen: Ist das die Position der Bibel? Die Antwort lautet klar und deutlich: Nein.
Der biblische Auftrag zur Verteidigung der Wahrheit
Damit sind wir schon beim ersten Punkt: Der biblische Auftrag, die Verteidigung der Wahrheit. Das Wort Gottes fordert uns ausdrücklich auf, aktiv die Wahrheit zu verteidigen. Ich möchte hier nur zu Beginn einige Stellen nennen.
Die klassische Stelle ist natürlich 1. Petrus 3,15, die klassische Begründung der christlichen Apologetik, also der Verteidigung des Glaubens. Dort schreibt Petrus: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“ Hier steht das griechische Wort „Apologia“, das so viel bedeutet wie Verteidigung. Verteidige die Wahrheit gegen Anfragen, begründe sie.
Genauso programmatisch sehen wir das im Judasbrief, im dritten Vers. Der Judasbrief hat ja nur ein Kapitel, dort heißt es: „Ihr Lieben, nachdem ich ernstlich vorhatte, euch zu schreiben von unser aller Heil, hielt ich es für nötig, euch in meinem Brief zu ermahnen, dass ihr für den Glauben kämpft, der ein für allemal den Heiligen überliefert ist.“
Glauben bedeutet hier die Glaubenswahrheit, also der Inhalt des Glaubens, die Lehre des Glaubens, das Kompendium des Glaubens. Man könnte auch sagen: die christliche Dogmatik. Ihr sollt für die christliche Dogmatik kämpfen. Glaube meint in der Bibel beides: einmal die Wahrheit des Glaubens – wer ist Jesus, was ist Rettung – und zugleich das persönliche Vertrauen in diese Wahrheit und in den, von dem diese Wahrheit berichtet.
Glauben bedeutet also sowohl das Vertrauen auf den Inhalt, dass dieser richtig, wahr, zuverlässig und sachlich stimmig ist, als auch die persönliche Bereitschaft, aufgrund dessen Gott zu vertrauen, der uns dies offenbart hat. Kämpfe für die Wahrheit des Glaubens!
Auch Paulus spricht in diesem Zusammenhang vom Kampf des Glaubens, zum Beispiel in 1. Timotheus 6,12: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens.“ Natürlich müssen wir immer deutlich machen, und in unserer Zeit besonders, dass wenn wir als Christen vom geistlichen Kampf sprechen, wir damit etwas ganz anderes meinen als der Islam mit dem Dschihad. Keine Gewalt! Das ist ein ganz wichtiges Prinzip.
Unser Kampf darf sich nie gegen Menschen persönlich richten. Es geht um Inhalte, um die Auseinandersetzung mit Ideologien und Konzepten und letztlich auch, wenn wir den nicht direkt angreifen können, um den, der dahinter steht, nämlich den Teufel.
Wir müssen besonnen sein, wenn wir vom Kampf reden, um nicht verwechselt zu werden. Aber Besonnenheit ist etwas anderes als Feigheit. Deshalb dürfen wir bei aller Differenzierung die Notwendigkeit des Kampfes nicht unterschlagen oder verleugnen. Wir müssen damit rechnen, dass der Einsatz für die Wahrheit auf massiven Widerstand treffen kann.
Damit wir erst gar nicht in Versuchung kommen, den Kampf zu unterschlagen, hat Paulus den Begriff und die Sache des geistlichen Kampfes an vielen Stellen seiner Schriften verankert. Ich empfehle eine Konkordanzstudie zum Begriff „Kampf“. Vorwiegend bei Paulus kommt einiges zusammen.
Ein zentrales Schlachtfeld dieses Kampfes ist der Streit um die Wahrheit, um das, was gilt. Paulus fordert uns auf in 2. Korinther 10,4-5, dass wir jeden Gedanken, der sich erhebt gegen die Erkenntnis Christi, jeden Gedanken, der die in der Bibel offenbarte Wahrheit in Zweifel zieht, gefangen nehmen im Gehorsam gegenüber Christus. Das heißt, wir prüfen ihn an der absolut zuverlässigen Wahrheit des Wortes Gottes.
Die Wahrheit muss verteidigt werden – klar in der Sache und liebevoll in der Form. Das sagt Paulus in Epheser 4,15: „Wir sollen wahrhaftig sein in Liebe.“ Diese Aufgabe gilt nach außen wie nach innen.
Wir müssen also gegenüber Nichtchristen die Wahrheit verteidigen. 1. Petrus 3,15 war da schon das Beispiel: wenn einer Rechenschaft verlangt, wenn einer unsere Hoffnung in Frage stellt. Ein gutes Beispiel für die Verteidigung der Wahrheit gegenüber der nichtchristlichen Welt ist das Gespräch, das Paulus mit Agrippa führt in Apostelgeschichte 26.
Wir können das jetzt nicht im Einzelnen anschauen, aber ich empfehle sehr die Lektüre von Apostelgeschichte 26,19-29, vor allem die Stelle, wo Paulus vor Agrippa steht und begründet, was er verkündigt hat. Er sagt deutlich: „Ich lehre nichts anderes als das, was die Propheten und Mose gesagt haben.“ Dann nennt er die Fakten: Christus musste leiden und auferstehen, und genau so ist es geschehen.
Festus unterbricht ihn und sagt: „Paulus, du bist von Sinnen, das viele Studieren bringt dich um den Verstand.“ Nach dem Motto: Genie und Wahnsinn sind oft nah beieinander. Und jetzt übertreibst du es aber. Paulus lässt das nicht gelten. Er antwortet: „Hoch edler Festus, ich bin nicht von Sinnen, sondern rede wahre und wohl überlegte Worte.“ Dann setzt er seine Begründung fort.
Er fragt Agrippa: „Glaubst du den Propheten?“ Agrippa antwortet: „Ich weiß, dass du glaubst.“ Und dann sagt Agrippa zu Paulus: „Es fehlt nicht viel, und du überredest mich, Christ zu werden.“ Man weiß nicht, ob das höhnisch oder nachdenklich gemeint ist. Paulus lässt sich jedenfalls nicht beirren und fährt fort: „Ja, ich wünschte mir vor Gott, dass über kurz oder lang nicht allein ich, sondern auch alle, die hier sind, Christen würden.“ Natürlich, weil das die Wahrheit ist.
Die Wahrheit muss verteidigt werden gegenüber Angriffen von außen, aber auch gegenüber Verfälschungen in den eigenen Reihen. Ein Beispiel dafür ist 2. Timotheus 4,1-4, wo der Apostel ganz deutlich sagt, warum das dringend nötig ist.
Dort heißt es: „So ermahne ich dich, Timotheus, nun inständig vor Gott und Christus Jesus, der da kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten: Predige das Wort! Stehe dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit! Weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre! Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden, sondern nach ihren eigenen Gelüsten sich selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken. Sie werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Fabeln zuwenden.“
Und dann kommt nicht die Aufforderung, diese Leute sich selbst zu überlassen, weil sie es nicht besser wollen. Nein, sondern: „Du aber sei nüchtern, leidewillig, tu das Werk eines Predigers, predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit!“
Ein letztes Beispiel dafür, dass die Wahrheit verteidigt werden muss – nicht nur gegenüber außen, sondern auch nach innen – ist die berühmte Situation, als Paulus sich mit den Ältesten von Ephesus trifft in Apostelgeschichte 20. Er weiß, dass es das letzte Mal ist, dass er sie vor seinem Heimgang sieht, und kündigt ihnen an:
„So habt nun Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist eingesetzt hat zu Bischöfen, zu Weiden, die Gemeinde Gottes, die er durch sein eigenes Blut erworben hat. Denn ich weiß, dass nach meinem Abschied reißende Wölfe zu euch kommen werden, die die Herde nicht verschonen. Auch aus eurer Mitte werden Männer aufstehen, die Verkehr lehren, um die Jünger an sich zu ziehen. Darum seid wachsam!“
Die Wahrheit muss verteidigt werden – das ist ein eindeutiges biblisches Gebot. Indem der Herr uns diesen Auftrag gibt, setzt er auch voraus, dass man die Wahrheit erkennen kann. Natürlich sind wir noch irrtumsfähig, weil wir Sünder sind. Trotzdem gibt es in den zentralen Fragen ganz klar die Möglichkeit, geleitet durch den Heiligen Geist, der uns das Wort Gottes verstehen lässt, eindeutig die Wahrheit zu erkennen.
Die Bibel hat – entgegen der Postmoderne – einen objektiven Wahrheitsbegriff. In der Bibel bedeutet „wahr“, dass etwas richtig ist, zuverlässig berichtet. Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, die sie behauptet. Wahrheit bedeutet also sachliche Richtigkeit und nicht nur persönliche Vertrauenswürdigkeit.
Zwei entscheidende Wahrheiten, die die Reformation wieder zutage gefördert hat, haben wir heute in den Vorträgen vorgestellt bekommen: einmal die Wahrheit „allein Christus“ – er ist der einzige Retter, und ihn haben wir allein im Glauben aufgrund seiner Gnade.
Dann die andere Wahrheit, dass wir diese Wahrheit über Jesus allein in der Bibel erfahren, wo Gott sie uns irrtumslos offenbart. Solus Christus, sola scriptura – allein Christus, allein die Heilige Schrift.
Diese Wahrheiten wurden von der Reformation wiederentdeckt, gewissermaßen wieder ausgegraben. Damit kommen wir zu unserem zweiten Punkt: Erstens der biblische Auftrag, die Verteidigung der Wahrheit, und zweitens das reformatorische Vorbild, die Wiederentdeckung der Wahrheit.
Das reformatorische Vorbild: Die Wiederentdeckung der Wahrheit
Nun, wir wissen, dass die Reformatoren nicht bei null anfingen. Bereits etwa hundert Jahre vor Luthers Thesenanschlag im Jahr 1517 hatte Johann Hus, der Rektor der Prager Universität, ähnliche Überzeugungen vertreten. Er betonte, dass die Bibel Vorrang vor der kirchlichen Institution habe.
Im Dezember 1414 wurde Hus verhaftet, gefangen genommen, gefoltert und in Ketten gelegt – ein Beispiel für das Martyrium, das aus dem Zeugnis für die Wahrheit folgen kann. Am 6. Juli 1415 wurde Professor Johann Hus mit seinen Büchern auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Kurz vor seinem Tod soll er folgende Worte geschrieben haben: „Heute verbrennt ihr eine Gans.“ Hus bedeutet auf Tschechisch „Gans“. „Heute verbrennt ihr eine Gans, aber in hundert Jahren werdet ihr einen Schwan singen hören, den ihr nicht verbrennen könnt, den werdet ihr anhören müssen.“
Einhundert Jahre später schrieb Martin Luther: „Johann Hus weissagte von mir, als er aus seinem Gefängnis in Böhmen schrieb: ‚Jetzt werdet ihr eine Gans braten, aber nach hundert Jahren werdet ihr einen Schwan singen hören.‘ So wird es weitergehen, wenn es Gott gefällt.“ Luther bezeichnete sich selbst als den Schwan.
Dann kam der 31. Oktober 1517, also genau heute vor 498 Jahren. Dieser Tag ist ein wichtiges Glied in einer längeren Kette von Ereignissen, die die Reformation geprägt haben. An diesem Tag verkündete Luther in Wittenberg seine Botschaft, indem er das Plakat mit den 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche anschlug. Die zentrale Aussage lautete: Die Bibel ist der Maßstab für die kirchliche Tradition und nicht umgekehrt.
Luthers Thesen verbreiteten sich rasch im Land. Der für ihn zuständige Kardinal erhielt die Thesen direkt von Luther und leitete sie sofort an die Zentrale in Rom weiter. Dieser Kardinal ließ lieber denken als selbst zu denken.
Wogegen Luther sich wandte, war nicht nur die populäre Maxime, die Tetzel etwa verkünden ließ: „Wenn der Groschen im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“ Es ging um die Diskussion um den Ablass, mit dem die katholische Kirche den Bau des Petersdoms finanzieren wollte. Doch im Kern ging es um eine viel tiefere Frage: Was ist wahre Buße? Und noch grundsätzlicher: Wo erfahren wir das? Welche Quelle hat die Autorität, zuverlässig Auskunft zu geben?
Luther schrieb dazu in der 21. These: „Deshalb irren jene Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde.“ Das Papsttum lehrt dies bis heute in ähnlicher Weise.
In der 27. These heißt es weiter: „Menschenlehre verkündigen die, die sagen, dass die Seele aus dem Fegefeuer im Flur fliege, sobald das Geld im Kasten klingt.“
In dieser ganzen Diskussion stellt sich die Frage der Autorität immer deutlicher heraus. Das ist der eigentliche Skandal. Luther beruft sich gegen die Tradition auf die Bibel – allein die Schrift. Er fügte seinen Thesen eine schriftliche Predigt hinzu, in der er sagte: „In den angeführten Punkten hege ich keinen Zweifel, sie sind deutlich in der Schrift bezeugt, und darum sollt ihr auch keinen Zweifel haben. Las doctores scholasticus sein.“ Also: Lasst die vermeintlichen Wissenschaftler reden, was sie wollen, wir haben die Schrift.
Dieser Skandalon, dieser Anstoß, wurde auch von Luthers Gegnern deutlich wahrgenommen. Ein Sprachrohr des Papstes, Sylvester Priorias, schrieb als Antwort auf Luthers Thesen: „Wer nicht die Lehre der Kirche von Rom und des Pontifex von Rom als unfehlbare Hüter des Glaubens anerkennt, von denen die Heiligen Schriften ihre Kraft und Autorität beziehen, der ist ein Häretiker, der ist ein Irrlehrer.“
Das bedeutet: Woher beziehen die Heiligen Schriften ihre Kraft und Autorität? Von der Kirche von Rom und dem Papst. Nun war der Kampf voll entbrannt.
Im Juni 1520 wurde gegen Luther eine sogenannte Bannandrohungsbulle versandt. Das heißt, man forderte ihn zum Widerruf auf. Was antwortete Luther? Er schickte Papst Leo im Oktober 1520 seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.
Dann kam es zum endgültigen Bruch. Luthers Bücher wurden verbrannt, und als Antwort darauf verbrannte er in Wittenberg vor dem Elstertor die Bulle, die ihn binden sollte, sowie einige Schriften der alten Scholastiker. Diese gegenseitige Verbrennung von Büchern war auch eine interessante Art, öffentlich zu demonstrieren.
Schließlich verhängte der Papst am 3. Januar 1521 den Bannfluch gegen Luther. Der Papst wollte am liebsten kurzen Prozess machen. Der Kaiser taktiert noch, weil er die lutherfreundliche Stimmung im Land spürte. So wurde Luther zum Reichstag nach Worms eingeladen.
Am 17. und 18. April stand Luther vor dem Reichstag in Worms. Wolfgang Bühne berichtete heute bereits von diesem historischen Ereignis. Zweimal musste Luther vor diesem Gremium der Mächtigen erscheinen. Nach einem Tag Bedenkzeit und im Wissen, dass dies seinen Tod bedeuten könnte, lehnte Luther es ab, seine Thesen zu widerrufen.
Dann fiel das berühmte Zitat, das so wichtig ist, dass es ruhig noch ein zweites Mal gehört werden kann: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde – und mit Vernunftgründen meint Luther nicht eine Instanz neben der Schrift, sondern klare Argumente aus der Bibel –, wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, nehme ich nicht zurück. Denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben. So bin ich doch durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen im Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“
Oft wird auch das Zitat „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ genannt. Dieses ist jedoch nicht historisch belegt, entspricht aber dem Sinn des Gesagten. Luther stand wirklich da und konnte nicht anders.
Luther wurde nicht verhaftet, weil sein Kurfürst Friedrich der Weise 21 Tage freies Geleit ausgehandelt hatte. Dieser Kurfürst war eine hochinteressante Figur, über die an anderer Stelle noch gesprochen werden müsste. Er setzte sich mit einer gewissen Sympathie für Luther ein. So blieb Luther frei, aber vogelfrei – das heißt, jeder konnte ihn töten, wenn er ihn erwischte. Wahrscheinlich hofften seine Gegner, also der Papst und der Kaiser, insgeheim auf einen wirkungsvollen Mordanschlag.
Friedrich der Weise ließ es nicht dazu kommen. Am Abend des 4. Mai 1521 wurde Luther „entführt“: Friedrichs Soldaten griffen ihn heimlich auf und setzten ihn in der Eisenacher Wartburg fest, um ihn der Gefahr zu entziehen. Man könnte sagen, diese Entführung war freundlicherweise vorher abgesprochen.
Einige Tage zuvor, am 28. April, schrieb Luther in einem Brief an seinen Freund Lukas Cranach den Älteren, den berühmten Maler, der uns großartige Porträts aus der Reformationszeit hinterlassen hat: „Ich lasse mich eintun und verbergen und weiß selbst nicht wo.“ Am 4. Mai wurde dieser Plan ausgeführt.
Soweit in aller Kürze zur Reformation, zum reformatorischen Vorbild und zur Wiederentdeckung der Wahrheit. Wir haben heute gesehen, dass es um zwei Grundpfeiler der Wahrheit geht: Zum einen um die Aussage, dass die Wahrheit in einem Buch steht, und zum anderen um die Erkenntnis, dass die Wahrheit eine Person ist.
Die Wahrheit ist eine Person – das heißt: Wie kommt ein Mensch in den Himmel? Durch Jesus allein? Oder muss er zusätzlich Werke vollbringen und mit der Kirche in irgendeinem Einvernehmen stehen? Und die andere Frage lautet: Wessen Autorität gilt? Die Bibel allein oder hat die kirchliche Tradition mit dem Papst an der Spitze dort noch ein Wörtchen mitzureden?
Darum geht es bei der reformatorischen Frage bis heute.
Gegenwart: Die römisch-katholische Kirche und die Ablehnung der Wahrheit
Und jetzt machen wir einen großen Sprung, einen Sprung von 498 Jahren, vom 31. Oktober 1517 zum 31. Oktober 2015. In unserem dritten Teil fragen wir nach der aktuellen Situation der römisch-katholischen Kirche.
Wir hatten gesehen, dass der biblische Auftrag die Verteidigung der Wahrheit ist. Das reformatorische Vorbild zeigt uns die Wiederentdeckung der Wahrheit. Doch bei der aktuellen römisch-katholischen Kirche begegnen wir der Ablehnung der Wahrheit, man könnte auch sagen der Unterdrückung der Wahrheit. Politisch ist es nicht korrekt, das so zu formulieren, aber es entspricht dem theologisch-sachlichen Befund der Wahrheit, wenn man so will.
Wenn das, was die Reformatoren über die Bibel und die Rettung durch Jesus allein wiederentdeckt haben – wie Friedemann Wunderlich und Wolfgang Bühne uns heute Vormittag dargestellt haben – die biblische Wahrheit ist, dann ist das Lehrsystem der katholischen Kirche, auf das jeder Priester bis heute verpflichtet wird, die Ablehnung und Unterdrückung dieser Wahrheit. Dieses Lehrsystem ist an vielen Stellen rechtsverbindlich festgehalten, zum Beispiel auch in dem sogenannten Katechismus der katholischen Kirche.
Die römische Kirche versteht sich bis heute als Hüterin der Wahrheit. Das heißt, sie entscheidet darüber, was wahr ist und was nicht. Die römische Kirche fußt auf dem Prinzip, dass die Wahrheit immer dieselbe ist. Das stimmt ja auch – die Wahrheit ist immer dieselbe. Aber die römisch-katholische Kirche sagt, sie sei immer gleich und verändere sich nicht. Dieser Anspruch der römischen Kirche wird von vielen bis heute nicht erkannt und geradezu naiv übersehen.
Ein Beispiel dafür liefert die in dieser Woche erschienene Ausgabe des Magazins Pro Kompakt, herausgegeben von der Konferenz evangelikaler Publizisten. Dort wurde eine Spezialausgabe zum Reformationstag veröffentlicht. Diese Spezialausgabe setzt ganz auf das Thema, dass sich Evangelische und Katholiken offensichtlich immer stärker einander annähern – auch über die Brücke gemeinsamer ethischer Überzeugungen, etwa in Fragen der Ehe oder der Abtreibung.
Dann wird gesagt: Ja klar, es gibt noch gewisse Unterschiede, etwa beim Abendmahlsverständnis, bei der Heiligsprechung Verstorbener oder bei der Beichte. Das könne man auch nicht wegdiskutieren. Trotzdem heiße es, es sei schön zu sehen, dass beide Gruppen in Deutschland und weltweit mehr und mehr ihre Kräfte bündeln.
Der letzte Satz in diesem Editorial von Pro Kompakt, herausgegeben von der Konferenz evangelikaler Publizisten, lautet: „Die Pro-Redaktion wünscht allen Leserinnen und Lesern ein gesegnetes Wochenende, ob sie den Reformationstag, Allerheiligen, beides oder nichts von beidem feiern. Ihre Pro-Redaktion.“
Also: Feiern Sie den Reformationstag, feiern Sie aber möglicherweise auch genau das Gegenteil, alle Heiligen, oder feiern Sie gar nichts oder beides – schönes Wochenende, kann man da wirklich nur sagen. Dabei wird bei dieser Art der Darstellung verdeckt, dass damals wie heute der Gegensatz eben nicht in untergeordneten Einzelfragen besteht.
Liebe Geschwister, das können wir gar nicht oft genug klarstellen: Der Gegensatz zwischen evangelisch und katholisch besteht nicht in nebengeordneten Einzelfragen wie dem Heiligenverständnis oder der Beichte, sondern im Kern des Christseins und des Evangeliums, im Kern der Kreuzesbotschaft. Das haben wir hier in einem anderen Zusammenhang auch schon einmal gezeigt.
Die Lehre der römisch-katholischen Kirche steht bis heute unverändert gegen beide Vorträge von heute Morgen, die wir gehört haben. Sie steht dagegen, dass die Rettung allein durch den Glauben an Jesus kommt. Noch immer gilt, was das Konzil von Trient im 16. Jahrhundert beschlossen hat, und das ist mit keiner Silbe zurückgenommen worden.
Wer behauptet, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die um Christi willen die Sünden nachlässt, also vergibt, oder dieses Vertrauen allein sei es, wodurch wir gerechtfertigt werden, der sei ausgeschlossen. Diese These von Trient verdammt genau den Kern des Vortrags, den Friedemann Wunderlich heute Morgen gehalten hat. Damit ist Friedemann Wunderlich aus der römisch-katholischen Kirche ausgeschlossen.
Solus Christus und allein die Gnade gelten nach wie vor als die krasse Häresie. Das Gleiche gilt für den Vortrag von Wolfgang Bühne: Sola Scriptura, allein die Heilige Schrift – nein, Schrift und Tradition. Das wird nicht nur in den ehrwürdigen Bekenntnistexten der römischen Kirche festgehalten, sondern auch in diesem berühmten Jugendkatechismus, von dem wir heute Vormittag gehört haben. Zu diesem wurde jetzt zusätzlich noch eine spezielle Bibel gewissermaßen veröffentlicht.
Schauen wir mal, was im Jugendkatechismus über das Verhältnis von Bibel und Tradition steht: Tradition ist das, was die kirchlichen Konzilien und Bekenntnistexte beschlossen haben und worüber letztlich der Papst und seine Lehraufsichtsbehörde wachen.
Dort heißt es im Jugendkatechismus unter Frage zwölf: „Woher wissen wir, was zum wahren Glauben gehört?“ Die Antwort lautet: „Den wahren Glauben finden wir in der Heiligen Schrift und in der lebendigen Überlieferung der Kirche, gleichrangig nebeneinander.“
Oder Frage dreizehn: „Kann sich die Kirche – also die Kirche unter der Lehrverantwortung des Papstes – in Glaubensfragen irren?“ Die Antwort lautet: „Die Gesamtheit der Gläubigen kann im Glauben nicht irren. Wie die Jünger Jesus von ganzem Herzen geglaubt haben, so kann sich ein Christ ganz auf die Kirche verlassen, wenn er nach dem Weg zum Leben fragt.“
Das ist nicht im 16. Jahrhundert geschrieben, sondern im 20. Jahrhundert im Jugendkatechismus, der auch in Idea eine fast jubelnde Bewertung erfuhr.
Ihr Lieben, das eine ist zu sagen, ja, auch in der katholischen Kirche wird jetzt offiziell das Bibellesen gefördert. Damit ist aber noch nicht gesagt, welche Stellung der Bibel eingeräumt wird. Lassen wir uns da keinen Sand in die Augen streuen.
Alle relevanten gültigen Texte der römischen Kirche machen klar: Die kirchliche Tradition hat mindestens genau das gleiche Gewicht wie die Bibel. Und über die Auslegung wacht der Papst mit seiner Lehrbehörde.
Und der Papst – jetzt kommen wir immer mehr ans Eingemachte – ist in der römischen Kirche kein Grusaugust, wie man sagen würde. Der Papst hat nicht eine vergleichbare Funktion wie in unserer Demokratie etwa der Bundespräsident als Repräsentant, sondern der Papst ist die Schlüsselfigur und die entscheidende Position des gesamten römisch-katholischen Systems, auch was die Machtfrage angeht.
Beim Papst geht es nicht in erster Linie um einzelne Personen, sondern um das ganze Amt. Martin Luther und die gesamte Traditionen wie Spurgeon, John Wesley oder die Puritaner haben die These vertreten, dass der Papst der Antichrist sei. Das war deren eindeutige Einordnung.
In der Tat ist es erstaunlich, welche Anmaßungen wir im Papstamt gebündelt finden. Das Papstamt maßt sich an, was vom Anspruch her nur dem dreieinigen Gott zusteht.
Der Papst nennt sich Heiliger Vater – das ist allein Gott der Vater. Der Papst beansprucht den Titel Pontifex Maximus, oberster Brückenbauer zwischen Himmel und Erde – das ist allein Jesus Christus. Der Papst erhebt für sich den Anspruch, der Stellvertreter Christi zu sein – und das ist die Aufgabe des Heiligen Geistes.
So erhebt das Papstamt alle drei Funktionen des dreieinigen Gottes bis heute uneingeschränkt.
Man kann nicht sagen, zu Luthers Zeiten war das besonders krass. Nein, seit Luthers Zeit ist dieser göttliche Selbstanspruch noch weiter ausgebaut worden.
Beim Ersten Vatikanischen Konzil 1869 wurde das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes festgeschrieben, das für alle Päpste seitdem gilt. Das heißt, das Papstamt beansprucht, wenn der Papst ex cathedra spricht, also in Wahrnehmung seiner Lehrvollmacht, Irrtumslosigkeit.
Trotzdem denken immer noch viele Evangelikale, das heutige Papsttum sei doch eigentlich ganz in Ordnung. Aktuell ist der Papst ein großer Sympathieträger, obwohl er mit keinem Wort zurückgenommen hat, was der Katechismus unter Nummer 882 über das Papsttum sagt.
Ich lese das mal vor: „Der Papst ist das immerwährende und sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit. Der römische Bischof hat kraft seines Amtes, nämlich des Stellvertreters Christi und des Hirten der ganzen Kirche, die volle, höchste und allgemeine Vollmacht über die Kirche, die er immer frei ausüben kann.“
Das heißt, Johannes Paul II., Benedikt alias Ratzinger und der jetzige Papst Franziskus beanspruchen für sich die volle, höchste und allgemeine Vollmacht über die Kirche, die sie immer frei ausüben können. Wer hat die Macht über die Kirche? Christus.
Trotzdem tritt der aktuelle Papst, der ehemalige argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio, als Sympathieträger auf, seitdem er das Amt von Benedikt im März 2013 übernommen hat. Er hat sofort mit seiner Schamoffensive große öffentliche Zustimmung gefunden. Das Magazin Time erklärte ihn 2014 zum „Man of the Year“.
Dieser Papst lädt immer wieder Evangelikale zu Tagungen ein. Er hat sich sogar bei den Pfingstlern dafür entschuldigt, was die römisch-katholische Kirche ihnen angetan hätte. Aber hat dieser Papst irgendetwas an den Grundlagen des Papsttums geändert? Nein.
Im September ist ein hochinteressanter Artikel erschienen von zwei Autoren, die auch in Deutschland einigen bekannt sind: Pritchard, der die wichtigsten Untersuchungen über Willow Creek geschrieben hat, und Leonardo di Chirico aus Rom. Die beiden haben die Situation des aktuellen Papstes analysiert, Quellen über ihn gesichtet und in einer Kurzfassung Folgendes zusammengetragen.
Wie präsentiert er sich? Franziskus hat das klassische Verständnis des Papsttums keinen Millimeter verändert. Aber wir haben schon gehört: Er ist ein ausgesprochen guter Kommunikator und im Unterschied zu seinem Vorgänger Ratzinger typisch postmodern.
Er geht freundlich auf die Leute zu, besucht Obama mit einem Fiat, fährt mit dem Fahrrad durch Rom, und die ganze Presse jubelt und sagt, was für ein demütiger Papst. Er geht freundlich auf die Evangelikalen zu, empfängt sie, lobt sie, lässt Selfies mit ihnen machen. So wie Merkel mit den Flüchtlingen lässt sich der Papst mit Thomas Schirmacher im Selfie fotografieren.
Leonardo di Chirico hat gesagt, er meidet alle theologischen Schlachtfelder. Er versucht, ein theologisches Diskussionsfeld nach dem anderen möglichst zu verlassen, von einigen Ausnahmen abgesehen. Er betont die persönlich-freundliche Beziehung, verwendet evangelikale Begriffe wie Bekehrung, Mission und persönliches Verhältnis zu Jesus, und gibt fast jedem seiner Gesprächspartner das Gefühl, mit ihm übereinzustimmen.
Dann geht er erhobenen Hauptes aus dem Vatikan und sagt: „Der Papst hat mir zugestimmt.“ Im katholischen System ist das auch möglich, weil das System nicht im Entweder-oder denkt, sondern im Großen sowohl als auch.
So präsentiert sich Franziskus.
Was sind seine theologischen Überzeugungen? Da muss man nur die Quellen lesen. Franziskus ist auch ein glühender Marienverehrer. Eine seiner ersten Äußerungen nach Amtsübernahme war ein Dank an Maria.
Für Franziskus gibt es keinen Jesus allein, sondern er vertritt die Theorie, dass alle, die ihrem Gewissen folgen, letztlich von Gott angenommen werden. Nach Franziskus beten auch Muslime letztlich zum selben Gott wie die Christen. Sie sind Brüder und Schwestern.
In diesem weiten Herzen haben dann auch die Evangelikalen Platz und werden, wie uns ganz stolz von evangelikalen Funktionären berichtet wird, als echte Gläubige anerkannt.
Was versteht der Papst unter Bekehrung? Bekehrung bedeutet für diesen Papst, wie für die römische Kirche, nicht Umkehr zu Jesus. Es ist nicht der Schritt von draußen nach drinnen, sondern die anderen sind ja in irgendeiner Form alle drinnen, haben ja Anteil an dieser universalen Gnade. Aber sie sollen engagierter im Glauben werden, kundiger im Glauben werden, näher an Jesus rankommen. Am nächsten kommen sie natürlich in der römischen Kirche an ihn heran.
Das bedeutet Bekehrung für den Papst – etwas völlig anderes, als das Neue Testament lehrt. Bekehrung bedeutet etwa für Muslime nicht, dass sie sich von Allah abwenden und auf Jesus allein vertrauen.
Neuevangelisierung bedeutet etwas anderes als Evangelisation im Sinne des Neuen Testaments. Es bedeutet Verkirchlichung, Vertiefung des religiösen Bewusstseins, aber nicht Rettung aus der Verlorenheit und der Hölle.
Wir müssen wissen: Franziskus ist der erste Jesuit, der Papst wurde. Und er ist so schlau, dass er nicht zufällig Jesuit wurde. Sie wissen, was das Kennzeichen der Jesuiten war, was ihre raison d’être ist, also der Grund, mit dem sie von Ignatius Loyola gegründet wurden: den Protestantismus bis aufs Messer zu bekämpfen.
Das war die Gründungsidee der Jesuiten. Franziskus hat sich davon mit keiner Silbe distanziert, im Gegenteil.
Es existiert ein Vortrag von Franziskus aus dem Jahr 1985, eine Vorlesung über die Geschichte der Jesuiten, in der er eine massive Ablehnung der Reformatoren, insbesondere Luthers und Calvins, formuliert. Er bezeichnet die Reformation letztlich als die Wurzel aller Übel in der westlichen Welt. Er diskreditiert die Puritaner als bigott und erbarmungslos.
Diese Vorlesung wurde erneut 2013 in spanischer Sprache publiziert, und er hat nichts von dem, was er ursprünglich sagte, zurückgenommen. 2014 erschien dieser Vortrag auf Italienisch. Er steht dazu.
So sagen die beiden Autoren Pritchard und Leonardo di Chirico in ihrem Artikel zu Recht: „Gewiss ist Franziskus ein lächelnder Jesuit. Aber das antievangelische schlägt immer noch in seinem Herzen.“
Das sind einige seiner theologischen Überzeugungen.
Und jetzt fragen wir zum Schluss: Was ist sein Ziel? Sein Ziel ist zum einen, die Abwanderung der Katholiken von der römischen Kirche in Lateinamerika zu stoppen. Das war auch einer der Gründe, warum die Synode jetzt einen Papst aus dieser Region gewählt hat.
Das sieht man auch an dem Schwerpunkt seiner ersten Reisen. Er ist nach Brasilien, Ecuador, Bolivien und Paraguay gereist. An einigen Stationen hätte er ja Wolfgang Bühne auch begegnen können.
Jedenfalls vertritt dieser Papst eine klassische römisch-katholische Strategie, die man mit zwei Begriffen benennen kann: Es geht darum, Bewegungen aufzusaugen, zu absorbieren und „Könige“ in Anführungsstrichen zu bekehren. Also Bewegungen zu vereinnahmen, zu gewinnen und in den großen Strom der universalen Kirche hineinzuziehen und führende Funktionäre zu bekehren und zu gewinnen.
In diesem Kalkül sind die Evangelikalen und die Pfingstler besonders wichtig, da viele Katholiken, zum Beispiel in Lateinamerika, geradezu abwandern. Das erklärt und begründet die Umarmungsstrategie.
Er ist doch sehr erfolgreich, muss man sagen, in den letzten Wochen gewesen und baut an einem wirksamen Netzwerk.
Einer seiner Helfer war der im letzten Jahr verstorbene anglikanische Bischof Tony Palmer. Palmer erkannte den Papst noch aus Buenos Aires und bekam eine Videobotschaft für eine Konferenz im Januar 2014.
Übrigens wurde diese Konferenz zusammen mit Tony Palmer von Kenneth Copeland organisiert. Kenneth Copeland ist einer der Extremcharismatiker, der die „Wort des Glauben“-Theorie vertritt, nach der der Mensch Gott in bestimmten Fällen durch seine Gebete befehlen kann. Viele von euch werden ihn kennen.
Nachdem diese Botschaft des Papstes von Palmer gezeigt worden war, sagte Palmer zu den anwesenden Pastoren: „Wir protestieren nicht mehr gegen die Heilslehre der katholischen Kirche, wir verkünden jetzt dasselbe Evangelium. Luthers Protest ist vorbei.“ Und er fügte die Frage an: „Deiner auch?“
Dann folgte im Juni 2014 ein Meeting im Vatikan. Bei diesem Treffen waren nicht nur Tony Palmer, Kenneth Copeland und John und Carol Arnott, die Gründer der umstrittenen Toronto Airport Church, also Toronto-Siegen, anwesend.
Bei diesem Treffen im Juni 2014 waren auch Geoff Tunnicliffe, der Präsident der weltweiten evangelischen Allianz, und Thomas Schirmacher, Vorsitzender der theologischen Kommission der weltweiten evangelischen Allianz, dabei.
Bei diesem Treffen wurde dem Papst ein Dokument übergeben, von dem man hofft, dass es im Jahr 2017 – also heute in zwei Jahren – unterzeichnet werden kann. Ein Dokument, in dem es darum geht, sich darauf zu einigen, sich in der Mission nicht mehr als Konkurrenten zu betrachten, da man ja dasselbe Evangelium vertrete.
Im Juni diesen Jahres, am 24. Juni 2015, erschien in der katholischen Zeitung Catholic Herald folgender brisanter Artikel unter der Überschrift „The Pope's Great Evangelical Gamble“, also „Das große evangelikale Spiel des Papstes“.
In diesem Artikel heißt es wörtlich: „Irgendwo in Papst Franziskus’ Büro gibt es ein Dokument, das den Gang der Kirchengeschichte ändern könnte. Es erklärt ein Ende der Gegnerschaft zwischen Katholiken und Evangelikalen und sagt, dass die beiden Traditionen jetzt vereint sind in ihrer Mission, weil sie dasselbe Evangelium verkünden. Der Heilige Vater überlegt, diesen Text im Jahr 2017, dem 500. Geburtstag der Reformation, zusammen mit evangelikalen Leitern zu unterzeichnen.“
Als ich das las, wurde ich an eine Meldung erinnert, die Ideaspektrum etwa ein Jahr zuvor veröffentlicht hatte, nämlich am 29. August 2014. Dort wurde etwas Ähnliches gesagt, nur etwa ein Jahr früher: Zum Jubiläum des Reformationsjubiläums 2017 könnte es ein gemeinsames Missionspapier zwischen Evangelikalen und dem Vatikan geben.
Das bestätigte der Vorsitzende der Theologischen Kommission der weltweiten Evangelischen Allianz, Professor Thomas Schirmacher, auf Anfrage der Evangelischen Nachrichtenagentur Idea.
Wie Schirmacher sagte, ging die Initiative dafür vom Papst Franziskus aus. Er hatte mehrere Repräsentanten der evangelikalen Bewegung gebeten, einen ersten Entwurf zu erstellen. Das waren dann die eben genannten Repräsentanten, die sich im Juni im Vatikan getroffen haben.
In der Vorfassung dieser Erklärung soll es einen Passus geben, der Folgendes besagt – hören Sie genau hin: Eine Erklärung, dass Katholiken und Evangelikale in der Mission miteinander verbunden sind, weil sie das Evangelium von Jesus Christus verkündigen.
Darüber hinaus wird die Bedeutung der Gewissensfreiheit hervorgehoben sowie die Notwendigkeit, dass Katholiken und Evangelikale das Missionsgebiet des jeweils anderen respektieren und sich nicht als Rivalen begegnen.
Was heißt das? Bedeutet das, dass die Evangelikalen darauf verzichten, in römisch-katholischen Gebieten zu missionieren? Was heißt das?
Reaktionen des evangelikalen Mainstreams
Und nun lautet die spannende Frage: Nachdem wir diese völlig normale römisch-katholische Strategie des Papstes etwas genauer betrachtet haben – soweit das in der Kürze unserer Zeit hier möglich ist –, stellt sich die große Frage: Geht diese Strategie auf? Lassen sich die Evangelikalen von der Umarmungsstrategie des Franziskus beeindrucken oder nicht?
Damit kommen wir zu unserem letzten Punkt heute: dem biblischen Auftrag, der Verteidigung der Wahrheit, dem reformatorischen Vorbild, der Wiederentdeckung der Wahrheit, der aktuellen römisch-katholischen Kirche, die die Wahrheit ablehnt. Nun stellen wir die Frage: Was sagt der evangelikale Mainstream dazu, also die größeren evangelikalen Institutionen?
Wir beschränken uns auf Veröffentlichungen, die in den letzten Tagen erschienen sind. Man musste gar nicht weit zurückblicken. Ich musste nur die Ausgabe des Magazins Pro anschauen, die anlässlich der Reformationswoche erschienen war. Auf diesen Eingangsartikel, das Editorial, bin ich ja schon eingegangen. Dort wird gesagt, egal ob man Reformationstag oder Allerheiligen feiert – und natürlich gibt es da noch Unterschiede, die man nicht übergehen darf –, wurden im Grunde genommen nur nicht entscheidende Punkte genannt.
In dieser Ausgabe von Pro findet sich außerdem der Hinweis auf eine Diskussion zwischen dem bekannten liberalen Protestanten, dem Komiker Eckhart von Hirschhausen, und der katholischen Politikerin Julia Klöckner. Man fragt sich, was das mit dem evangelikalen Magazin zu tun hat. Das Interessante und Passende war jedoch, dass die beiden aus evangelischer und katholischer Perspektive sagten, es gibt so vieles, was uns verbindet.
Der Höhepunkt war dann der Bericht über die Familiensynode, die zuletzt im Vatikan in Rom stattfand. Ein ausführlicher Bericht beschreibt, dass auch der Sprecher der Theologischen Kommission der Weltallianz, Thomas Schirmacher, dabei war. Er berichtet, dass er als brüderlicher Delegierter sehr willkommen gewesen sei. Zur Erklärung: Der Mann mit dem weißen Gewand ist der Papst. Beide tragen ein schönes Kreuz und sind entsprechend gekleidet – der Weiße ist der Papst.
Schirmacher berichtet, dass der Papst die Evangelikalen gelobt habe. Das kennen wir ja inzwischen. Natürlich lobte der Papst nicht das evangelikale Gnadenverständnis, sondern das, was die Evangelikalen über Heiligung sagen und über das Engagement ihrer Leute. Das fällt dem Papst auch nicht schwer, denn dafür muss er kein einziges Iota der römisch-katholischen Lehre aufgeben oder relativieren.
Schirmacher fügt in seinem Text hinzu, dass er täglich ein kurzes Gespräch mit dem Papst hatte – allerdings gilt das nicht für alle. Das ist eine gewisse Sonderbehandlung, die er dort bekommen hat. Der Tenor dieses Artikels lautet: Es gibt eine wunderbare Gemeinsamkeit im Bereich unserer ethischen Überzeugungen. Der Papst lobt die Evangelikalen und gibt ihnen freundliches Rederecht im Rahmen dieser Synoden.
Zusätzlich erschien in IdeaSpektrum ein Artikel über dieses Ereignis. Dort sieht man Thomas Schirmacher gemeinsam mit Kardinal Reinhard Marx, einem der profiliertesten Kardinäle Deutschlands. Unter der großen Überschrift „Was Rom und Evangelikale verbindet“ folgt der Hinweis, dass Franziskus Protestanten als vollwertige Gläubige ansieht. Das kostet den Papst theologisch nichts, da der Begriff „vollwertige Gläubige“ theologisch völlig vage bleibt. IdeaSpektrum unterstreicht das.
Ein weiterer Artikel, auf den Wolfgang Bühne schon hingewiesen hat, erschien eine Woche davor. Darin bekommt der Papst als IdeaSpektrum-Autor die Gelegenheit, aufzutreten und sein Vorwort zu einer neuen Bibelübersetzung zu veröffentlichen – eine Liebeserklärung des Papstes an seine alte Bibel. Doch auch diese Liebeserklärung sagt mit keinem Wort etwas über das Verhältnis von Bibel und Tradition aus.
Der Papst kann diese freundlich, fromm und sehr persönlich klingenden Sätze schreiben, ohne damit eine einzige römisch-katholische Lehre, die gegen die Bibel spricht, in Frage zu stellen. Die Evangelikalen jubeln und sagen: „Jetzt seht ihr doch, der Papst liebt seine alte Bibel, ist doch wunderbar!“ Wolfgang Bühne hat heute Morgen gesagt, was dazu zu sagen ist und wie sich diese sogenannte Bibel im Letzten wirklich darstellt.
Die Leute lesen das im Pro-Magazin, in IdeaSpektrum, hören es an vielen anderen Stellen und sagen dann: „Ja, eigentlich denkt er doch wie wir. Eigentlich sind wir gar nicht so weit voneinander entfernt.“ Ich musste so denken: Besser hätte es der Pressechef des Vatikans in den letzten beiden Wochen nicht planen können. Er konnte Urlaub nehmen, weil seine Arbeit von anderen gemacht wurde.
Die evangelikalen Institutionen und Publikationen machen jetzt fröhlich mit bei der Schamoffensive von Franziskus und überbieten sich darin, ihm theologische Superzeugnisse auszustellen.
Warnung vor Desinteresse an der Wahrheitsfrage
Was ist da passiert? Was sagt das über unsere eigenen Institutionen aus?
Ihr Lieben, hier zeigt sich ein erschreckendes Desinteresse an der Wahrheitsfrage. Das ist sicherlich kein beabsichtigtes Desinteresse, aber es ist ein faktisches Desinteresse, obwohl offensichtlich ist – für jeden, der seine Bibel kennt –, dass die römische Kirche ein anderes Evangelium lehrt.
Wir müssen sehen: Diese Haltung ist nicht über Nacht entstanden. Sie ist seit gut zwanzig Jahren zunächst schleichend in die evangelikalen Reihen Deutschlands eingedrungen. Ein Meilenstein war sicher die Öffnung von Pro Christ für die offizielle Zusammenarbeit in der Evangelisation mit der römisch-katholischen Kirche. Viele evangelikale Führer, darunter auch Wolfgang Bühne, haben sich an dieser Verharmlosungsstrategie der römisch-katholischen Lehre beteiligt, wie heute Morgen bereits angedeutet wurde.
Ein weiteres wichtiges Symptom, das immer nur einzelne Bausteine darstellt, war dann sicherlich der Brief an den Bruder in Rom aus dem Jahr 2011. Als damals noch Papst Benedikt seinen Deutschlandbesuch machte, wurde er so begrüßt. Zu den Briefschreibern gehörten der Generalsekretär des CVJM, Roland Werner, die Leiterin des Islaminstituts der Evangelischen Allianz, Christine Schirmacher, der Journalist Markus Spiker und der Evangelist Ulrich Parzani. Sie alle sprachen den höchsten Vertreter der römisch-katholischen Lehre als „Bruder in Rom“ an und setzten damit voraus, dass man gemeinsam an das eine Evangelium glaube.
Ein Mitarbeiter des Malachi-Kreises, unser Freund Johannes Pflaum, hat daraufhin einen offenen Brief an Ulrich Parzani geschrieben. Darin heißt es unter anderem, ich zitiere Johannes Pflaum:
„Sehr geehrter lieber Bruder Parzani, nachdem Sie Ihre Wünsche dem Papst geschrieben haben, möchte ich Ihnen mitteilen, was mich beim Lesen Ihrer Zeilen bewegte. Wie Sie wissen, ist der wichtigste Lehrunterschied des Katholizismus zur Bibel nicht die Irrlehre der Marienverehrung oder des Papsttums, sondern die Rechtfertigungsfrage. Die katholische Kirche hat nicht nur die reformatorische Lehre der Rechtfertigung durch das Konzil von Trient unter den Fluch getan, was bis heute gilt. Sie füllt auch die Begriffe von Glauben, Gnade und Jesus aufnehmen mit einem anderen Inhalt als die Heilige Schrift. Wie können Sie angesichts dieser Gegensätze einfach Ihre Abgrenzung fallen lassen? Es verwundert mich außerdem, dass Sie den Papst mit ‚Lieber Bruder Benedikt‘ anreden können. Was bedeutet für Sie der Bruderbegriff? Kardinal Joseph Ratzinger war vor seiner Ernennung zum Papst der katholischen Glaubenskongregation unterstellt, also jener Institution, die bis heute über die Lehrgrundsätze und damit auch über die Ablehnung der biblischen Rechtfertigungslehre wacht.“
Dann schließt Johannes Pflaum mit folgenden Worten:
„An Ihrem Motiv, das Evangelium zu fördern, möchte ich nicht zweifeln. Trotzdem sind Ihre Zeilen an den Papst, wenn Sie dies auch nicht beabsichtigen, im letzten Grund ein Verrat der Reformation und, was noch gravierender ist, ein Verrat am Evangelium. Ich bitte Sie inständig, dies zu überdenken.“
Das ist sehr besonnen und auch brüderlich formuliert. Es gab darauf jedoch keine substanzielle Antwort oder Veränderung dieser Position.
Dann, 2013, ein nächstes Schlaglicht: Papstwahl im März 2013. Bei dieser Papstwahl erklärt der Allianzvorsitzende, Präses Michael Diener, man danke Benedikt „für die Klarheit, mit der er die geistliche Dimension aller christlichen Einigungsbemühungen deutlich gemacht hat.“ Also habe Benedikt bei seinen Einigungsbemühungen eine klare geistliche Dimension gehabt. Und dann heißt es weiter – und dieser Satz ist besonders bedenkenswert: Die evangelische Allianz werde den Prozess der Neuwahl eines Papstes im Gebet begleiten. Zugleich wünsche man sich, dass die katholische Kirche sich in ihren Lehren und Traditionen immer mehr vom lebendigen Wort des lebendigen Gottes formen und prägen lasse.
Das müssen Sie sich wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das heißt, man wünscht sich, dass diese Tradition, die ich hier nur in Ansätzen dargestellt habe, immer mehr vom Wort des lebendigen Gottes geformt und geprägt werde. Was setzt das voraus? Dass da eine gewisse Harmonie schon besteht, dass es schon eine Offenheit dieser Traditionen für die Prägung durch das lebendige Wort Gottes gibt. Denn sonst könnte man ja nicht dafür beten, dass es immer mehr davon geformt werde.
Und kann man für die Wahl eines solchen Amtes, das sich letztlich in eine göttliche Position erhebt, wirklich beten? Kann man den Prozess im Gebet begleiten? Ich will das mal ganz humorvoll formulieren: Es gibt ja viele Ämter. Können wir als Christen wirklich für die Wahl aller Ämter beten? Können wir für die Wahl, sagen wir mal, eines neuen Mafiabosses beten? „Herr, lass doch den richtigen Gangster-Mafiaboss werden!“ Können wir für die Ernennung eines neuen Diktators beten? „Herr, lass doch den richtigen Diktator an diese Stelle kommen!“ Was geschieht hier eigentlich?
Der nächste Meilenstein könnte heute in zwei Jahren gesetzt werden. Merken Sie sich den Termin: 31.10.2017. Wird dann dieses Papier unterzeichnet werden? Kürzlich hatte ich einen Austausch mit einem der führenden bibeltreuen Theologen der Evangelischen Allianz in Italien. Dieser Bruder lebt in Rom und gehört sicherlich zu den gründlichsten und bestinformiertesten Kennern der aktuellen römisch-katholischen Theologie. Er kennt aber auch das Innenleben der internationalen evangelikalen Institutionen.
Dieser Bruder hat sich darüber beklagt, dass seitens der internationalen Allianz Druck auf die italienischen Brüder ausgeübt werde. Er sagte, die völlige Neubestimmung des Verhältnisses der Evangelikalen zur römischen Kirche habe keinerlei biblische Begründung oder Berechtigung. Die Gemeinden seien auch nicht gefragt worden. Stattdessen würden einzelne Funktionäre ohne Mandat, ohne Legitimation – und ich darf noch mal sagen: Nur weil jemand ein Kreuz um den Hals trägt, hat er noch keine gemeindliche Legitimation – Überzeugungen umstürzen, die unter den Geschwistern der Allianz 150 Jahre lang selbstverständlich gegolten hätten. Und das werde von oben nach unten durchgedrückt.
Liebe Geschwister, es mag uns erstaunen, aber solche Bewegungen hat es im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder gegeben. Wir hörten das bereits: Charles Haddon Spurgeon hat im neunzehnten Jahrhundert über die damaligen Baptisten in England geklagt, dass sie sich bereits vom Katholizismus vereinnahmen ließen. Und Spurgeon schrieb, Zitat:
„Ihr Protestanten, die ihr heute eure Freiheiten wie Billigware verschleudert, ihr werdet einmal den Tag verfluchen, an dem ihr euch die alten Ketten wieder an die Knöchel legen ließet. Das Papsttum fesselte und tötete unsere Väter, und wir machen es zu unserer Nationalreligion.“
Wir sind einen weiten Weg miteinander gegangen, liebe Geschwister. Wir haben gesehen, dass die Heilige Schrift uns ganz klar den Auftrag gibt, die Wahrheit zu verteidigen. Wir haben das Vorbild der Reformation gesehen, die die Wiederentdeckung der Wahrheit vom Herrn geschenkt bekam. Wir haben uns die aktuelle Situation der römisch-katholischen Kirche in ihrer unveränderten Ablehnung der biblischen Wahrheit angeschaut. Es hat sich in der Substanz nichts verändert gegenüber der Zeit Martin Luthers.
Wir haben drittens gefragt: Wie reagiert nun der evangelikale Mainstream, die großen evangelikalen Organisationen, soweit sie durch die Genannten hier vertreten waren? Und wir haben gesehen: Er reagiert mit einem offensichtlichen Desinteresse an der Wahrheit. Es wird diplomatisch auf diese Situation reagiert, aber von diesen Institutionen wird keine grundlegende Auseinandersetzung geführt.
Wolfgang Bühne hat zu Recht gesagt, dass wir um die Brüder, die sich auf diesem Weg haben abbringen lassen, trauern sollten. Und natürlich dafür beten, dass sie dies erkennen und um sie auch ringen. Aber es geht nicht nur um diese Brüder. Es geht auch um die vielen anderen Christen, die sich auf diese Brüder gesetzt haben, die durch sie verführt worden sind und beständig durch Veröffentlichungen wie „Die Zeichen“ verführt und verändert werden in ihrem Denken und in ihren Bewertungen.
Deswegen, liebe Geschwister, können wir uns nicht einfach zurücklehnen und mit leicht geneigtem Kopf dabei zuschauen, wie um uns herum eine ganze Generation von ökumenischen Schalmeienklängen eingelullt oder eingeschüchtert wird – nämlich eingeschüchtert, weil sich kaum noch einer traut, gegen dieses Harmoniegebot zu verstoßen.
Lasst uns das festhalten: Die Wahrheit muss verteidigt werden. Die Reformation war kein Unfall, sondern ein Gnadengeschenk des lebendigen Gottes.
Ich hatte kürzlich eine erschütternde Begegnung mit dem Leiter einer großen Gemeinde in Hannover, die viel Zulauf von frommen Leuten hat. Er sagte mir ganz frank und frei: „Ach, wissen Sie, von der katholischen Kirche habe ich eigentlich überhaupt keine Ahnung.“ Wie soll diese Gemeinde auf eine solche Situation vorbereitet werden?
Nein, die Wahrheit muss verteidigt werden, liebe Geschwister. Nicht weil wir so stur sind oder weil wir klüger sind als andere. Die Wahrheit muss verteidigt werden, weil es um die Ehre unseres Herrn geht, weil es um die Wahrheit des Evangeliums geht, weil es um die Herzen unserer Kinder geht und weil es, wie auch Bruder Ham gezeigt hat, um das ewige Heil vieler, vieler Zeitgenossen geht.
Deshalb dürfen wir nicht schweigen. Wir dürfen uns nicht einfach diese Meldungen anschauen, uns mal kurz darüber empören und die Sache dann zu den Akten legen. Wir dürfen nicht schweigen, wenn jetzt an vielen Stellen öffentlich versucht wird, die Grenzen zwischen Reformation und römischer Kirche zu verwischen. Stattdessen müssen wir dem mit den gebotenen geistlichen Mitteln auch öffentlich entgegentreten.
Liebe Geschwister, wir müssen predigen, wir müssen publizieren, wir müssen CDs verbreiten, wir müssen viele, viele Gespräche führen. Und das beginnt bereits bei uns zu Hause am Mittagstisch in den Familien. Das gehört hinein in die Jugendarbeit unserer Gemeinden. Das muss in den Bibelstunden Thema sein: Was ist das Evangelium, und wo ist die Quelle, aus der wir das wahre Evangelium erfahren?
Ihr Lieben, es geht nicht darum, alte konfessionelle Schlachten neu zu schlagen. Es geht nicht um etwas Altes, sondern um etwas Ewiges. Es geht um die ewige Wahrheit, die uns unser Herr in seinem Wort offenbart hat und die er uns anvertraut hat als ein kostbares Gut, mit dem wir als treue Haushälter sorgsam umgehen müssen.
So schließe ich mit einer dringenden Aufforderung, die Charles Haddon Spurgeon formuliert hat und die nichts, aber auch gar nichts von ihrer Aktualität heute am Reformationstag 2015 eingebüßt hat:
„Wir“, sagt Spurgeon, „wir, denen das Evangelium durch Märtyrerhände überreicht wurde, dürfen nicht damit tendieren, noch dabei sitzen und zuhören, wenn Verräter es als unwahr hinstellen. Verräter, die vorgeben, es zu lieben, aber innerlich jede Zeile davon verabscheuen. Wenn der Herr nicht in Kürze erscheint, wird die nächste Generation kommen und die nächste. Und all diese Generationen werden vergiftet und geschwächt werden, wenn wir Gott und seiner Wahrheit nicht treu sind. Wir stehen an einem Scheideweg. Gehen wir nach rechts, werden uns vielleicht unsere Kinder und Kindeskinder dorthin folgen. Gehen wir aber nach links, dann werden Generationen noch ungeborener unsere Namen einst verfluchen, weil wir Gott und seinem Wort untreu gewesen sind.“
Charles Haddon Spurgeon, möge der Herr es uns schenken, dass wir treu sind, dass wir die dramatische Situation, in der die evangelikale Diskussion zu dieser Frage sich zurzeit befindet, erkennen und dass wir aus Liebe zu unserem Herrn, aus Liebe zu unseren Glaubensgeschwistern und aus Liebe zu den Verlorenen seinem Evangelium treu bleiben – was immer es kosten mag.