Werkstatt der Liebe

Konrad Eißler
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Keiner muss in Sachen Nächstenliebe ungelernt bleiben. Paulus, der in die Lehre Jesu ging, lädt jeden in die Werkstatt der Liebe Jesu ein. Lieben lernt man nur bei Jesus. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Von dem russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der ja nun wahrlich kein Kirchenchrist war, wird erzählt, dass er gerne Musik hörte. Eines Tages war er wieder von einer Beethoven-Sonate ganz betroffen. Als der letzte Ton verklungen war, sagte er seufzend: “Ach, wenn man diese Musik hört, muss man allen Menschen über den Kopf streichen, aber sie schnappen einem nach der Hand.” Also selbst in diesem nüchternen und harten und zuweilen brutalen Menschen regte sich das, was tief in uns allen steckt: einem andern nicht die Faust zeigen, sondern über die Hand streichen; einem andern nicht ins Gesicht spucken, sondern über die Wangen streichen; einem andern nicht den Schädel einschlagen, sondern über den Kopf streichen.

Wir möchten schon nett sein, so wie wir früher mit unseren Kindern nett waren, als sie noch zur Schule gingen, aber in der Zwischenzeit sind sie groß geword­en und haben uns so viel Wunden zugefügt. Wir möchten schon freundlich sein, so wie wir früher mit unserem Nachbarn freund­lich waren, als sie noch Kirschen von ihrem Garten brachten, aber in der Zwischenzeit gibt es viel Ärger und die Nachbarschaft ist eine Qual. Wir möchten schon herzlich sein, so wie wir früh­er mit unserem Ehepartner herzlich waren, als er noch freitags ein paar Blumen vom Geschäft mitbrachte, aber in der Zwischenzeit haben wir uns auseinandergelebt und jedes gemeinsame Wochen­ende ist die Hölle. Wir möchten schon lieben, aber, wie Adalbert Stifter sagte, die tigerhafte Anlage in uns, die nach der Hand schnappt, macht uns zu schaffen. Doch, die Sehnsucht zu lieben ist groß, nur wie?

Einige denken, man sollte wieder bei den Müttern zur Schule gehen. Sie streicheln, sie herzen, sie nehmen auf den Arm. Mutterliebe als Anschauungsunterricht für Nächsten­liebe. Aber da hat in Göttingen eine Frau gelebt, die eine merkwürdige Beobachtung gemacht hat. Sie hieß Lou Andreas-Salome und war befreundet mit Rilke, Nietzsche und Freud, also ein Mensch mit weitem Horizont. Und nach dem I. Weltkrieg schrieb sie in ihr Tagebuch: “Wenn man über die blutigen Grenzen zwischen den Ländern Europas hinwegfährt, dann sieht man im Geist an all den Grenzen das überlebensgroße Denkmal der liebenden Mutter, die um den gefallenen Sohn trauert.” Aber, und nun kommt das Unerwartete, “das ist eine Augentäuschung, ein Sehfehler, denn gerade die Mutterliebe ist es, die für das von ihr Geborene mit solcher Entschlossenheit eintritt, dass sie bereit ist, auch die Grenzen von Recht und Gebühr niederzutreten, um das zu schütz­en, was sie geboren hat.” Frau Salome sagt: Mutterliebe bildet dem Menschen beides ein: die Kraft zur Hingabe und zur Brutalität.

Ich befürchte, dass diese Beobachtung stimmt. Die Befähigung zu lieben lernen wir nicht in der Schule der Mütter, auch nicht im Unterricht der Väter und erst recht nicht in der Beobachtung der Tiere. Lieben lernt man nur bei Jesus. Glaubt nicht, dass der Aufkleber “Seid nett zueinander” etwas bringt. Lieben lernt man nur bei Jesus. Glaubt nicht, dass die Parolen zur Mitmensch­lichkeit etwas fruchten. Lieben lernt man nur durch Jesus. Glaubt nicht, dass die Friedenserziehung unseren Tiger in uns domestizieren könnte. Lieben lernt man nur bei Jesus, so wie Paulus selbst, der nach seinem Aufstieg und Fall in die Lehre Jesu ging. Es ist ihm ein Anliegen, dass beim Christsein nicht nur fromme Sprüche geklopft, sondern Nägel mit Köpfen gemacht werden. Deshalb lädt er mit diesem Text jeden in die Werkstatt der Liebe Jesu ein.

Und das Erste, was er uns zeigt, ist sein …

1. Lehrlingsstück der Liebe

… nämlich Gutes tun, gefertigt im Polizeigefängnis zu Philippi. Dorthin war der Reiseprediger Paulus mit seinem Begleiter Silas gebracht worden. Aufruhr, Ruhestörung, Landfriedensbruch warf ihnen die Ordnungsmacht vor. Also schwere Jungs, folgerte der Herr Gefängnisdirektor und legte ihnen die Handschellen an. Wer so viel auf dem Kerbholz hat, braucht verschärfte Haftbedingungen. Er ließ sie zuerst mit einer Tracht Prügel beruhigen. Dann ging es mit einem Fußtritt die Treppe hinunter. Im letzten Loch wurden die Stockschrauben angezogen und die Glieder verspannt. Hinter extra verrammelten Türen sollten sie sich eines Besseren besinnen. Und Paulus stimmte kein Pfeifkonzert an, um wenigstens diesem Grobian seine Nachtruhe zu stören. Und Paulus rasselte nicht mit den Ketten, um auf diese Weise gegen solche Gemeinheit zu protestieren. Und Paulus brüllte keine Beleidigungen durch die Wände hindurch. Er fing an zu singen, dankend, lobend, preisend, zweistimmig mit Silas zusammen, ein Männerduett zur Ehre Gottes und zum Wohl dieses Menschen. Paulus überwand das Böse. Er steckte die Bosheiten dieses Oberaufsehers weg. Er tat ihm Gutes.

Das ist das Lehrlings­stück der Liebe, das uns immer und immer wieder nicht geling­en will, so oft wir es auch versuchen. “Dem werd ich eins pfeifen”, sagen wir, wenn uns einer mit Beleidigungen kommt. “Schon um unserer Ehre willen können wir das nicht auf uns sitzenlassen.” “Dem werd ich ein Liedlein singen”, sagen wir, wenn uns einer eine ans Schienbein gibt. Schon um unserer Familie willen können wir solche Fußtritte nicht dulden. “Dem werd ich den Marsch blasen”, sagen wir und schlagen Alarm. Und Paulus sagt: “Dem werd ich einen Psalm singen, dem werd ich einen neuen Ton ins Herz singen, dem werde ich Gutes tun.”

“Dem werd ich den Marsch blasen”, sagen wir. Und Paulus sagt: “Dem werd ich einen Psalm singen”.

Damit tut Paulus genau das, was er bei seinem Herrn gelernt hat. Der, und so hat es Petrus dem Hauptmann Kornelius gegenüber gesagt, “ist im Land umhergezogen und hat Gutes getan”. Der Gelähmte auf dem Schragen und der Aussätzige in der Isolierstation und der Blinde am Straßenrand und der Traurige am Sarg, sie alle und noch viel, viel mehr haben das Gute gespürt und jene Melodie gehört, die mit Jesus in die Welt gekommen ist.

Wir sind nicht ärmer dran, weil er uns bis heute unendlich viel Gutes getan. Deshalb müssen wir ihm nur nachsingen und es trotz allen Klageliedern und Trauerliedern weitersingen. Und wer unmusikalisch ist, der soll nach diesem Rhythmus Zeichen geben, Zeichen der Liebe setzen, Zeichen der Güte aufrichten. “Überwinde das Böse mit Gutem”. Das Lehrlingsstück der Liebe ist doch kein Hexenwerk.

Dann zeigt uns Paulus das Zweite, nämlich sein …

2. Gesellenstück der Liebe

… nämlich Vergebung üben, gefertigt ebenfalls im Polizeigefängnis zu Philippi. Mitten in der Nacht wird der Herr Direktor aus dem Schlaf gerissen. Ein Erdstoß ist so heftig, dass er aus dem Bett fliegt. Auf dem schwankenden Fußboden kommt er zu sich. Dann stürmt er kopflos die Treppe hinunter. Als Mann vom Fach weiß er, dass kein schräger Vogel bei solcher Chance im Käfig hocken bleibt. Auch wenn ihn wegen höherer Gewalt keine direkte Schuld trifft, kostet ihn jede Gefangenenbefreiung den angesehenen Job. Seine ganze Karriere ist dahin. Dem Selbstmord nahe steht er in der aufgesprungenen Tür seiner beiden Pensionäre. Im Fackellicht sieht er die Männer. Und die zischen nicht: “Rache ist süß! Dir werden wir’s heimzahlen. Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!” Paulus sagt: “Tu dir nichts und wir tun dir auch nichts”. Vergebung statt Vergeltung, das ist das Gesellenstück der Liebe.

In unseren Werkstätten, Schulklassen, Büros, Betrieben ist dies nicht zu lernen. Immer geht es dort nach dem Gesetz des Echos: “Wie du mir, so ich dir”. Alles ist ein einziges Reagieren, eine Schraube ohne Ende. Es treibt zur Vergeltung, die von dem einen Pol auf den andern und wieder zurückspringt. Der Wohnnachbar hat seinen Fernseher nicht auf Zimmerlautstärke. Ich klopfe an die Wand, weil ich Ruhe will. Er trommelt zurück, weil nicht alle Tage Fußballweltmeisterschaft ist. Ich schaue ein Loch in die Luft, wenn ich ihn im Treppenhaus treffe. Er parkt seinen Wagen so unverschämt, dass ich nicht mehr aus der Garage komme. “Auge um Auge, Zahn um Zahn!”

Auf der ganzen Welt geht es nach diesem Gesetz, mit einer einzigen Ausnahme. Der Berg Golgatha wirft nichts zurück. Die Schädelstätte schluckt jeden Schall. Das Holzkreuz Jesu hat kein Echo. “Er schmähte nicht wieder, als er geschmäht wurde, er drohte nicht, als er litt.” An Jesus Christus hat sich das Echogesetz zu Tode gelaufen. Deshalb fertigt Paulus sein Gesellenstück nach dem ganz anderen Gesetz: “Wie er mir, so ich dir.” Wie er mir vergeben hat, so will ich dir vergeben.

Andere haben es ihm nachgemacht, zum Beispiel Marie Rubens. Im Jahre 1571 wurde ihr Mann, Jan Rubens, Schöffe in Antwerpen, wegen Ehebruchs zu Tode verurteilt. Damals dachte man noch anders über die Ehe. Würde man heute noch nach diesem Maßstab richten, dann wäre unsere Gesellschaft erheblich dezimiert. Jedenfalls schrieb Frau Rubens einen Brief ins Gefängnis, der erhalten geblieben ist: “Mein lieber und geliebter Mann. Ich vergebe euch jetzt und immer. Könnte überhaupt Hass sein, dass ich eine kleine Sünde gegen mich nicht vergeben könnte, verglichen mit so vielen großen Sünden, wofür ich alle Tage Vergebung bei meinem himmlischen Vater erfahre. Ich werde mit ganzer Kraft für euch bitten. Geschrieben zu Köln, 1. April, nachts zwischen 12 und 1. Es ist doch vergeben. Eure treue Ehefrau Marie Rubens.” Kraft ihrer Fürbitte wurde der Mann nach zwei Jahren begnadigt, und eine Frucht der Vergebung ist dann der in Siegen geborene, weltberühmte Maler Peter Paul Rubens.

Jetzt sind wir dran, unser Gesellenstück zu machen. Vor Paulus stand der Kerkermeister, vor Marie Rubens ihr Mann, wer steht vor Ihnen? Vielleicht auch der Ehemann, der sie so gedemütigt hat: “Wie Gott mir, so ich dir”. Vielleicht der eigene Sohn, der Ihnen herzlos begegnete: “Wie Gott mir, so ich dir”. Vielleicht auch jener Mensch, der sie zutiefst ent­täuschte: “Wie Gott mir, so ich dir”. Das Gesellenstück der Liebe ist keine Utopie.

Dann zeigt uns Paulus das Dritte, das …

3. Meisterstück der Liebe

… nämlich Frieden stiften, gefertigt noch einmal im Polizeigefängnis zu Philippi. Im obersten Stockwerk gehen die Lichter an. Dort, wo sonst “Privat” oder “Kein Zutritt” steht, werden Stühle geschleppt, Tische gedeckt und Kerzen angezündet. Dann wird gebetet, gesungen, gepredigt, getauft, gesegnet. Ein Nachtmahl findet statt, so wie damals, als Jesus mit seinen Jüngern tafelte. Ein Liebesmahl wird gefeiert, so wie damals, als die ersten Christen täglich in ihren Häusern zusammenkamen. Das Friedensmahl stiftet Frieden, und zwar den vertikalen Frieden zwischen uns und Gott und den horizontalen Frieden zwischen uns und den Feinden. Der eine ist ohne den andern nicht zu haben.

Es ist heute sehr viel von Weltfrieden die Rede, der gefährdet und deshalb mit allen Mitteln und auf allen Ebenen zu sichern sei. Dazu seien globale Friedensbewegungen notwendig und keine separaten Friedenstische. Aber unser Herr hat immer dort angefang­en, wo einer drunten ist, wo einer nicht mehr kann, wo einer im Schmutz liegt. Und Feinde lieben, hat Ralph Luther formuliert, bedeutet nicht den Schmutz lieben, in dem die Perle liegt, sondern die Perle lieben, die im Staub liegt. Wo wir wieder nach der Perle schauen, wo wir dorthin gehen, wo der Herr selber Hungernde und Dürstende satt macht, wo wir miteinander Gottesdienst feiern, kann das Meisterstück der Liebe gelingen.

Sicher gehören zum Friedensschluss immer zwei, und manchmal geschieht es auch, dass man selbst will, aber der andere nicht mittut. Für diesen Fall gibt Paulus noch den Rat: “Soviel an euch liegt”, das heißt, nicht resignieren, sondern immer wieder probieren, nicht die Flinte ins Korn werfen, sondern immer wieder einen neuen Anlauf nehmen: “Habt mit allen Menschen Frieden, soviel an euch liegt”.

Liebe Freunde, in der Werkstatt der Liebe Jesu sind Ausbildungsplätze frei. Keiner muss in Sachen Nächstenliebe ungelernt bleiben. Ohne Meister packen wir das nicht.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]