
Herzlich willkommen zum Podcast der EFH Stuttgart mit Jörg Lackmann und Thomas Povileit. Unser Podcast möchte zum praktischen Christsein herausfordern und zum theologischen Denken anregen.
Wir stammen aus einer Zeit, in der der christliche Glaube die Gesellschaft maßgeblich geprägt hat. Mittlerweile spielt der Glaube für die meisten Zeitgenossen jedoch keine große Rolle mehr.
Die Frage ist: Warum ist das so? Welche Gedanken und gesellschaftlichen Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Blick auf den Glauben sich verändert hat und wir heute an diesem Punkt stehen?
Wenn wir das verstehen, kann uns das helfen, das Denken unserer Zeit besser nachzuvollziehen. Zudem können wir so möglicherweise gute Anknüpfungspunkte finden, um über das Evangelium zu sprechen.
Thomas: Wir wollen heute ein bisschen in die Geschichte eintauchen und herausfinden, wie das alles entstanden ist. Es ist gar nicht so einfach, die Weichen zu identifizieren, die damals gestellt wurden – die Weichen, die vom christlichen Gleis abgekommen sind, wenn ich bei diesem Bild bleiben darf. Diese neue Weichenstellung in der Vergangenheit zu erkennen, ist schwierig.
Da müssen wir wahrscheinlich ein paar hundert Jahre zurückgehen, je nachdem. Wie hast du dich dem denn genähert?
Ich finde es auch schwierig, das genau zu identifizieren. Ich bin kein Historiker und wüsste gar nicht, in welchem Geschichtsbuch ich nachlesen sollte oder welchen Artikel ich lesen müsste. Aber bekanntlich muss man ja nicht alles wissen. Man muss wissen, wo es steht oder wer es weiß. Und dass es auf diese Frage fundierte Antworten gibt, habe ich begonnen zu ahnen, als ich von dem Buch „Ein säkulares Zeitalter“ gehört habe.
Das Buch wurde von einem kanadischen Philosophen, Charles Taylor, geschrieben. Ob er überzeugter Christ ist, weiß ich nicht genau. Das Buch hat 1300 Seiten – das war mir damals schon zu viel. Deshalb habe ich mir eine Zusammenfassung bestellt, die auf 200 Seiten die wichtigsten Inhalte bringt.
Aber ich fand es enorm schwierig, da irgendwie durchzukommen. Deshalb habe ich jemanden aus der Gemeinde gebeten, das Buch zu lesen und mir eine verständliche Zusammenfassung auf Deutsch zu geben. Das hat er auch gemacht. So habe ich Taylors Thesen einigermaßen verstanden.
Dann hat neuerlich der Professor Carl Truman, ein Kirchenhistoriker, angeknüpft. Er hat ein Buch geschrieben, das nur 500 Seiten hat und „Der Siegeszug des modernen Selbst“ heißt. Das wollte ich immer wieder mal lesen. Dann hatte ich Glück: Vor kurzem ist eine Zusammenfassung von ihm selbst erschienen – also von Truman. Das fand ich sehr nett von ihm.
Die Zusammenfassung wurde von Werbung Medien auch auf Deutsch übersetzt. Den Link habe ich in den Shownotes platziert. Da habe ich gedacht: Jetzt ist die Zeit, das Buch sollte ich auf jeden Fall lesen.
Diese Zusammenfassung heißt ebenso wie unser Podcast „Fremde neue Welt“. Im Grunde bringt sie die gleichen Thesen wie das große Buch, lässt aber die ganzen Fußnoten und Belege weg und kürzt manche Gedankengänge logischerweise ab.
Das habe ich jetzt gelesen: „Fremde neue Welt“. Das fand ich sehr spannend. So spannend, dass ich dachte, darüber lohnt es sich, wirklich zwei Podcasts zu machen. In einen bekommt man das sicher nicht rein.
Das Buch hat viele Stärken. Die größte Schwäche sehe ich darin, dass er wenig Bibelstellen bringt, um seine Argumentation zu untermauern. Er zeigt eher den Weg auf. Er ist Historiker.
Das würde ich jetzt einwenden: Wenn er etwas verstehen will, muss er sich ja nicht unbedingt aus einer kritischen Sicht mit der Bibel auseinandersetzen. Das werfe ich ihm nicht vor.
Wenn ich das lese, denke ich aber, dass das eine Schwäche von meiner Seite ist. Ich glaube, ich bin in der Lage, zu den verschiedenen Punkten, die er bringt, entsprechende Bibelstellen zu nennen. Das habe ich jetzt im Podcast auch eingebracht.
Im Buch selbst sind Bibelstellen nicht so stark vertreten, weil ich glaube, man muss schon anhand der Bibel prüfen, wo wir abgekommen sind und wie das passiert ist.
Ich glaube, es ist einfach wichtig. Da kann dieses Buch von Schumann eine ziemlich starke Hilfe sein.
Jetzt ist es unzweifelhaft, dass unsere Gesellschaft von einigen Denkern stark geprägt wird, die teilweise schon lange zurückliegen. Ich habe das einmal bei Francis Schäfer gelesen. Er sagt immer: Zuerst kommen die Philosophen, dann die Künstler und die Universitäten, und irgendwann erreicht das Gedankengut das normale Volk. Das braucht seine Zeit.
Es dauert, bis sich diese Ideen erst in kleinen Zirkeln durchsetzen. Ich nehme an, dass Truman diesen Prozess durchdrungen und aufbereitet hat, vor allem in dem kleinen Buch, wie es am Ende angekommen ist. Wahrscheinlich lässt er den Zwischenprozess weg.
Wo fangen wir also jetzt an? Vor hundert oder zweihundert Jahren, nehme ich an, setzte er bei vielen Dingen an. Damals war noch nicht so entfaltet, dass man wusste: „Das wird jetzt die neue Denkrichtung, die in hundert oder fünfzig Jahren richtig durchschlägt.“
Das ist überhaupt das Problem, wenn man sich mit Geschichte beschäftigt. Man hat plötzlich Gedanken, bei denen man sieht, dass sie über die Jahrhunderte wirklich durchgekommen sind. Aber als die Menschen damals lebten, setzten sie sich nicht hin und sagten: „Jetzt denke ich mal etwas, und im 21. Jahrhundert werden die Leute davon total begeistert sein.“
Es ist eher der gegenteilige Effekt. Ich denke zum Beispiel an Nietzsche, der hier ja auch vorkommen wird. Er wurde erst nach seinem Tod richtig entdeckt. Die letzten zehn Jahre vor seinem Tod war er ohnehin im krankhaften Wahnsinn. Oder Marx, der in Armut starb. Er wollte die Arbeiterklasse aus der Armut befreien, war aber selbst immer arm. Ich glaube, Engels musste ihn unterstützen, so wie ich das im Kopf habe.
Deshalb glaube ich, man kann erst in der Rückschau sagen, welche Gedanken entscheidend waren, um Kursänderungen oder Weichenstellungen in der Geschichte zu bewirken. Welche Gedanken haben ihre Zeit überdauert und prägen uns auch heute? Das können wir von heute aus sagen.
Andersherum geht es nicht. Man kann sich nicht ins Jahr 1780 zurückbeamen und sagen: „Ich weiß, das wird über die Jahrhunderte prägend sein.“
Im Grunde genommen geht es darum, dass wir als Menschen bestimmten Glaubensgrundsätzen folgen.
Ein einfaches Beispiel: Als ich geboren wurde – das ist schon eine Weile her – dachte man, ein Mensch sei immer entweder Mann oder Frau. Darüber wurde nicht diskutiert. Ob jemand Mann oder Frau ist, war ein Glaubensgrundsatz, der nicht hinterfragt wurde.
Aus biologischen Gründen würde ich das teilweise jetzt anders sehen, aber ich halte mich mal zurück.
Ich brauche Glaubensgrundsätze in meinem Leben. Ich kann nicht immer wieder auf ein weißes Blatt Papier etwas Neues schreiben. Es gibt diese Glaubensgrundsätze, von denen ich ausgehe.
Spannend ist, dass sich manche Glaubensgrundsätze über die Jahrzehnte verändern. Zum Beispiel das Verständnis von Geschlechtern. In den letzten Jahren hat sich das in unserer Gesellschaft verändert. Das ist zu einem neuen Glaubensgrundsatz geworden.
Ich glaube, das war deine Frage: Wie entstehen solche Gedanken, die sich über Jahrhunderte oder Jahrzehnte zu einem neuen Glaubensgrundsatz entwickeln? Wenn ich einen neuen Glaubensgrundsatz habe, muss ich zurückgehen und fragen: Wer ist hier der Ideengeber?
Deshalb ist es richtig und wichtig, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Das macht Truman auch.
Natürlich ist es seine Aufgabe als Historiker, die wichtigen Punkte zu identifizieren und zu erläutern, welche Quellen er dabei verwendet.
Gehen wir doch mal näher darauf ein. Was ist denn zum Beispiel ein Glaubensgrundsatz, der die Gesellschaft vom Christentum weggeführt hat? Wir sprechen hier nur allgemein über das Christentum, nicht über die ganze Gesellschaft, denn das würde den Rahmen sprengen.
Ein solcher Glaubensgrundsatz ist zum Beispiel die Moral. Früher gab es immer eine Moral, die von außen vorgegeben war. Diese Norm war wie ein festes Blatt, von dem ich schon gesprochen habe. Sie wurde nicht hinterfragt. Die Norm war einfach gesetzt, und als Mensch hatte ich mich danach zu richten. Für mich war das verbindlich.
Das entspricht auch einer biblischen Sichtweise. Gott gibt in 2. Mose 20 die Zehn Gebote und sagt, dass sie verbindlich sind. Man hinterfragt das nicht mit Aussagen wie: „Ja, aber das sehe ich nicht so.“ Es ist einfach gesetzt.
Wer über diese moralischen Vorgaben nachdenkt, wird vielleicht auch entdecken, was in 5. Mose 10 steht: „Halte die Gebote des Herrn und seine Ordnungen dir zum Guten.“ Das bedeutet, dass manche moralische Vorgaben wirklich gut für die Gesellschaft sind und auch für mein persönliches Leben.
Gleichzeitig erlebe ich schon ganz am Anfang der Bibel, in 1. Mose 3, dass Gottes Vorgaben stark hinterfragt werden. Die Schlange sagt zu Eva: „Sollte Gott gesagt haben?“ Am Ende stellt sie Gott sogar als Lügner dar. Sie sagt: „Ihr werdet keineswegs sterben. Gott weiß, wenn ihr von der Frucht esst, dann werdet ihr sein wie er.“ Das ist die Botschaft der Schlange: Gott belügt euch.
Diese Botschaft findet sich auch bei einigen Philosophen, die den äußeren Kompass – so nenne ich diese äußere Vorgabe – zerstören wollen. Sie wollen ihn nach innen verlagern. Das heißt, es gibt nicht mehr ein Gebot, das von einer Autorität oder Religion vorgegeben wird, sondern die Entscheidung darüber, was gut und böse ist, wird in den Menschen selbst verlagert.
Damit wird die Moral auch flexibel. Du hast andere innere Maßstäbe als ich. Man nimmt also den äußeren Kompass weg und legt ihn nach innen. Dann schreibt jeder, um bei diesem Bild zu bleiben, auf seinen inneren Kompass die Himmelsrichtung dorthin, wo er denkt, dass es gut ist. Es gibt also nicht mehr Norden und Süden, oben und unten, sondern man kann auch rechts und links hinschreiben oder etwas anderes.
Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt: Die Moral, die früher festgesetzt war, wird zur flexiblen, inneren Moral.
Moral ist heute, würde ich sagen, eigentlich ein negativer Begriff, wenn ich so den Klang höre.
Wie ist das eigentlich passiert? Früher galt doch eine klare Moral, und heute akzeptieren die Menschen, dass jeder etwas anderes denkt. Das bringt Probleme mit sich, wenn jeder selbst bestimmt, was gut und böse ist. Aber welche Weichenstellungen gab es in Bezug auf Gebote und Moral?
Truman nennt zunächst Descartes, wobei er auch sagt, er sei sich nicht sicher, ob Descartes manche Dinge bewusst so initiiert hat. Descartes’ Aussage lautet: „Ich denke, also bin ich.“ Man muss auch das Umfeld betrachten: Descartes lebte in einer Zeit der Reformation, in der jahrhundertelang geglaubte Wahrheiten plötzlich infrage gestellt wurden – etwa die katholische Lehre. Ein klarer äußerer Rahmen geriet ins Wanken.
Daraufhin kam bei Descartes der Gedanke auf, dass es hilfreicher sein könnte, sich an sich selbst festzuhalten als an äußeren Vorgaben, seien es moralische oder andere. Für Descartes war es wichtig, alles in Zweifel zu ziehen. Er war ein radikaler Skeptiker, der sogar daran zweifelte, ob er überhaupt existiert. So weit konnte der Zweifel gehen.
Dann dachte er: Es muss etwas geben, woran ich mich festhalten kann, etwas, das mir Gewissheit gibt – und das ist sein eigenes Denken. Man muss sich das so vorstellen: René fragt sich, ob er überhaupt existiert. Während er darüber nachdenkt, fällt ihm auf: „Ich denke ja.“ Und weil er denkt, muss es ihn geben. Diese Erkenntnis bringt ihn zur Ruhe: „Ich denke, also bin ich.“
Truman sagt, hier wird die Tatsache, dass ich denke, zur Gewissheit: Ich bin. Für Descartes ist es nicht der Körper, nicht der Blick in den Spiegel, der ihm Gewissheit gibt, sondern das Denken. Truman bezeichnet das als eine entscheidende Weichenstellung, auch wenn Descartes sich der Konsequenzen seiner Aussage vielleicht nicht bewusst war. Er macht sein Denken zur Autorität – eine weitere Autorität neben der äußeren Moral.
Descartes war Zeitgenosse der Reformation und lebte ungefähr zur gleichen Zeit wie Luther. In diesem Umfeld wurden Autoritäten infrage gestellt – allerdings aus einer anderen Richtung, nämlich durch die Schrift. Descartes hingegen dachte eher in Richtung Humanismus, der damals stark war, und der den Menschen in den Mittelpunkt stellte.
Die Humanisten hatten großen Einfluss, etwa Erasmus von Rotterdam, der mit Luther diskutierte. Trotzdem entstand daraus noch nicht der Gedanke, den wir heute kennen. Wie hat sich das weiterentwickelt? Denn nur mit Descartes’ Gedanken wurde die Moral ja nicht einfach nach innen verlegt.
Richtig, Descartes legte den Grundstein, aber jemand ging viel weiter – Rousseau, etwa hundert Jahre später. Descartes pflanzte das kleine Samenkorn in die Erde des Denkens, und unter Rousseau wuchs es kräftig.
Jean-Jacques Rousseau war ein Multitalent, ein Genfer Philosoph, der die kulturgeschichtliche Bewegung der Romantik prägte. Dort geht es stark um das Gefühl. Gefühle sind wichtig, das ist entscheidend, aber bei Rousseau werden sie zum Kompass.
Descartes sagte, der Kompass liegt im Denken. Rousseau hingegen sagt: „Der Kompass ist das Gefühl.“ Er verlagert die Autorität von der Vernunft zum Gefühl.
Rousseau war menschlich schwierig. Er galt als eigensinnig und unausstehlich. Er hatte fünf Kinder, die er alle nach der Geburt ins Waisenhaus gab – und damit in den sicheren Tod. Von einer Frau oder mehreren ist nicht genau bekannt.
Trotzdem war er philosophisch sehr prägend. Er knüpft an Descartes an, der sagte, dass das Denken Gewissheit gibt. Rousseau sagt: Es ist nicht nur das Denken, sondern vor allem deine Gefühle, die zentral sind für das, was du bist.
Er ist überzeugt, dass die Gesellschaft einen zerstörerischen Einfluss auf unser Selbst hat, weil sie uns hindert, unsere Gefühle zu leben. Das klingt sehr modern, obwohl es aus dem 18. Jahrhundert stammt. Seine These lautet: Folge deinen Gefühlen, folge deinem Herzen.
Die Bibel warnt davor. Sie sagt, dein Herz ist trügerisch, etwa in Jeremia 17. Rousseau sagt dagegen: „Nein, mach das!“ Die Bibel warnt, dass sich Dinge gut anfühlen können, obwohl sie falsch sind, oder sich schlecht anfühlen, obwohl sie richtig sind. Deshalb muss man Gefühle immer an der Schrift messen.
Rousseau hingegen lehnt die biblische Lehre von der Erbsünde ab, die besagt, dass der Mensch von Natur aus schlecht ist. Für ihn ist Sünde keine persönliche Schuld, sondern das Ergebnis der Gesellschaft. Der Einzelne ist nicht das Problem, sondern die Gesellschaft.
Wenn die Gesellschaft das Problem ist, sind die Institutionen des Staates deren böse Werkzeuge. Deshalb müssen Institutionen dem Einzelnen dienen und ihn nicht reglementieren.
Das klingt vertraut. Früher war die Sünde im Einzelnen, und die Autorität lag außen. Rousseau kehrt das um: Die Autorität wandert nach innen – zuerst die Vernunft, dann das Gefühl. Die Sünde, das Verantwortliche, liegt jetzt außen.
Er sagt, weil die äußere Autorität den Einzelnen einengt, muss man sie bekämpfen. Wenn jemand Rousseau etwa vorwirft, es sei nicht in Ordnung, Kinder zu haben und sie dann ins Waisenhaus zu geben, muss er diese Kritik bekämpfen. Denn allein diese Aussage schränkt seine Freiheit ein.
Das ist sehr radikal. In den 1960er Jahren hieß es dann: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Rousseau legt hier schon die Grundlage für diese Haltung.
Er sucht das Böse nicht im Menschen, sondern außerhalb, in der Gesellschaft. Interessant ist die Frage, wie gute Menschen eine böse Gesellschaft bilden können. Diese Frage wird aber nicht gelöst.
Für mich klingt das biblische Menschenbild viel alltagsnäher als Rousseaus philosophische Gedanken. Jesus sagt in Markus 7, denn „von innen, aus dem Herzen des Menschen, kommen die bösen Gedanken: Unzucht, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit.“ Das hat Rousseau nicht gesehen.
Er betont im Grunde das Gegenteil. Die biblische Ansicht erscheint auch logischer, denn warum sollte die Gesellschaft böse sein, wenn der Einzelne gut ist? Woher käme dann das Böse?
Ich gehe nur von mir selbst aus. Wir bewegen uns auf einen immer stärkeren Individualismus zu. Ich sehe nur mich. Das ist Rousseaus Botschaft: Folge deinem Gefühl, folge deinem Herzen. Das Gefühl wird zur Autorität.
Das betont man auch in der Romantik, für die Rousseau steht. Die Subjektivität des Individuums, die Stimme des Herzens, wird zur leitenden Kraft. Daran orientiere ich mich.
Ich erinnere mich, dass Schleiermacher später in der Theologie das auch unterstreicht mit seinem berühmten Satz: „Religion ist das Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit.“ Religion wird so zur Gefühlssache, die sich nicht unbedingt auf Tatsachen stützt.
Rousseau sagt: Das Wesentliche im Leben ist das Gefühl. Bisher lag die Autorität außerhalb von mir, durch das Wort Gottes oder andere Wertvorgaben. Jetzt verlagere ich sie nach innen. Das Gefühl wird meine Autorität, ich muss meinem Herzen folgen.
Dem müssen wir deutlich widersprechen und sagen: Nein, folge nicht deinem Herzen. Folge dem Wort Gottes! Jesus sagt in Johannes 12: „Das Wort, das ich geredet habe, wird euch richten am letzten Tag.“ Da kannst du nicht sagen: „Das war zwar nach dem Wort Gottes falsch, aber es hat sich gut angefühlt für mich.“ Das wäre seine Botschaft.
Wir sind nun immer noch weit von unserer heutigen Zeit entfernt. Rousseau lebte vor über zweihundert Jahren, Schleiermacher war ebenfalls Anfang des 19. Jahrhunderts aktiv, wenn ich mich recht erinnere. Auch hier liegt also eine beträchtliche Zeitspanne zwischen damals und heute.
Die 1960er Jahre fand ich besonders spannend. In dieser Zeit wurden sowohl ältere als auch neuere Philosophen intensiv diskutiert. Diese Denker hatten durchaus Einfluss. Dennoch müssen wir noch etwa zweihundert Jahre überspringen, um zu verstehen, wie diese Gedankengänge ins 21. Jahrhundert gelangt sind.
Es gibt natürlich viele Personen, die man betrachten könnte. Truman zeigt nur einige Beispiele. Er hebt hervor, dass Karl Marx besonders stark daran gearbeitet hat, äußere Autoritäten abzuschaffen.
Wir sind jetzt etwa hundert Jahre nach Marx, vielleicht etwas mehr. Marx verband Moral vor allem mit Religion. Für ihn war Religion das wesentliche Mittel, um ungerechte wirtschaftliche Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Darauf zielen seine berühmten Sätze ab, etwa: „Religion ist das Opium des Volkes.“
Marx sagt, Religion fühlt sich zwar gut an, aber sie berauscht und hält die Menschen in einem Gedankennebel gefangen, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Dabei berührt er auch Gedanken von Rousseau. Rousseau hatte gesagt, der moralische Kompass sei das Gefühl. Marx hingegen behauptet, es gebe keine übergeordnete Moral. Für ihn sind moralische Regeln unterdrückend.
Während Rousseau die Moral noch anerkannt und nach innen verlegt hatte, schafft Marx sie vollständig ab. Er bezeichnet Religion als Märchen, das von der herrschenden Klasse eingesetzt wird, um die Arbeiter in Abhängigkeit zu halten. Religion ist für ihn nur ein Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung.
Marx geht davon aus, dass Glaube auf keinen Tatsachen beruht, sondern reine Fiktion ist. Das steht im starken Gegensatz zu 1. Korinther 15, wo Paulus von den Fakten des Glaubens spricht. Paulus sagt: Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann sind wir die Elendsten unter allen Menschen. Ihm geht es um Fakten, nicht um Fiktion.
Vielleicht fällt auch Hebräer 11 ein: „Der Glaube ist eine gewisse Zuversicht, ein Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.“ Marx jedoch meint, die Menschen seien von der Religion berauscht, die ihnen die herrschende Klasse wie Opium verabreicht hat. Deshalb könnten sie nicht mehr klar denken und verstehen nicht, dass Religion nur ein Mittel zur Unterdrückung ist. Für ihn bedeutet das die Abschaffung der Moral.
Wir starten also im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Reformation und des Humanismus. Damals gab es noch äußere Autoritäten, und die Religion wurde nicht angegriffen. Die Moral wurde vielmehr nach innen verlegt, erst von der Vernunft zum Gefühl.
Im Laufe der Zeit, bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, wird die Religion bereits abgelehnt. Es entsteht ein reiner Materialismus, der sich nur auf wirtschaftliche Verhältnisse konzentriert. Das ist ein ganz anderes Feld. Dabei wird nicht mehr auf das Innere oder die Seele geschaut, sondern nur auf äußere Umstände.
Diese Entwicklung hängt eng mit der Industrialisierung zusammen, die im vorherigen Jahrhundert entstand und viele Probleme mit sich brachte. Marx blendet die geistliche Ebene praktisch aus; sie spielt keine Rolle mehr.
In 300 Jahren erleben wir also eine Entwicklung weg vom Geistlichen hin zum Materiellen. Sowohl Religion als auch Moral verschwinden aus dem philosophischen Denken.
Ein Beispiel dafür ist Luther und sein Denkmal an Tetzel mit seinem Ablasshandel. Tetzel konnte Ablässe verkaufen, weil die Menschen den Himmel in ihrem Herzen oder zumindest in ihrem Denken hatten. Diese Vorstellung tritt immer mehr in den Hintergrund.
Tetzel hätte Marx ganz sicher keinen Ablass verkaufen können, weil Marx schlichtweg gesagt hätte, das gibt es überhaupt nicht. Ganz nebenbei hatte Marx, wie wir wissen, kein Geld und starb verarmt. Aber das ist ein anderes Thema.
Ich glaube, die Einflüsse von Marx waren echte Sprengladungen, die große Löcher in die moralische Mauer geschlagen haben. Ich meine Moral hier nicht negativ, sondern eher als eine Schutzfunktion. Auch eine gesellschaftliche Schutzfunktion.
Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte. Marx wurde in den rund 40 Jahren nach dem Krieg, vor allem in der DDR, in den Schulen intensiv gelehrt. Das heißt, seine Gedanken sind tief in den Köpfen der Menschen verankert, die dort erzogen wurden. Marx ist dort fest verankert und lässt sich nicht einfach herausnehmen.
Das macht die Situation spannend, denn dort existiert teilweise ein ganz anderes Denken.
Es gab dann, was ich auch interessant fand, dass Truman noch zwei weitere Männer zeigt, auf die er sein Scheinwerferlicht lenkt: das sind einmal Nietzsche und Oscar Wilde. Den zweiten hatte ich nicht auf dem Plan. Nietzsche, okay, aber Wilde? Ja.
Beide waren Zeitgenossen von Marx, interessanterweise. Allerdings haben sie sich wahrscheinlich nie getroffen. Man kann aber sagen, Nietzsche und Wilde konnten voneinander gewusst haben, weil sie teilweise ähnliche Bekannte hatten oder so etwas in der Art.
Für Nietzsche ist die Religion genauso wie für Marx die Quelle der Moral und damit ein Dorn im Auge. Nietzsche lässt den „tollen Menschen“ in seiner Kernschrift „Die fröhliche Wissenschaft“ sagen: „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen: Wir haben ihn getötet.“ „Gott ist tot“ – das kommt ja auch von ihm. Damit will er deutlich machen – und das ist ganz spannend –, dass die Philosophen der Aufklärung zwar seiner Aussage zustimmen würden, dass Gott tot ist, sie aber nicht weitergedacht haben.
Nietzsche sagt, selbst Immanuel Kant, für den Gott keine Rolle spielte, fängt dann doch wieder mit Moral an und deren Voraussetzungen, weil die Leute natürlich auch gesellschaftlich gedacht haben. Sie wussten, dass sie etwas brauchen, an dem sie sich festhalten können. Nietzsche sagt jedoch: Nein, ihr habt nicht zu Ende gedacht. Ihr müsst wirklich mal zu Ende denken. Wenn Gott nicht mehr existiert, dann ändert das alles.
Da war er schon konsequent, muss man sagen. Er versucht das wirklich auch zu begründen und sagt eben: Moral ist manipulativ. Religion wird benutzt, um Macht auszuüben. Das hat zum Teil auch Marx schon gesagt. Nietzsche sagt aber auch, dass Moral etwas für die Schwachen hat. Wenn ich sehe, was die Starken tun, dann nehme ich die Moral und sage, das ist böse, was die tun, und ich bin derjenige, der auf der guten Seite steht. Moral wird also auf der einen und auf der anderen Seite verwendet.
Er sagt einfach, Religion ist für die Schwachen eine Krücke, um den wirklichen Herausforderungen auszuweichen. Aber wenn es keinen Gott gibt, dann sind wir wirklich unser eigener Herr. Dann müssen wir gar nicht mehr von Religion oder Moral reden, sondern sagen: Das ist, was ich will. Das bringt Nietzsche sehr konsequent rüber.
Das heißt, er legt die Grundlage, dass wir eigentlich selbst Gott sind. Richtig. Man kann sagen, im Laufe der Geschichte entfernen sich diese Philosophen immer weiter von den Grundlagen der Bibel, die natürlich nicht perfekt vorher in der Gesellschaft war, weil wir Sünder sind, aber ansatzweise noch da war. Er will jetzt ganz auf Moral verzichten.
Wie funktioniert das in der Gesellschaft? Ich hätte zum Beispiel ganz gern, dass mein Nachbar mir nicht aufs Dach steigt, nur weil er mein Haus schön findet oder ähnliches – das ist schwierig bei meinem alten Haus.
Bei Nietzsche ist spannend, dass er nicht nur Philosoph ist, sondern seine Gedanken auch ins Leben übersetzt. Zum Beispiel im Blick auf die Ehe sagt er: Wenn die Leute in den Zwanzigern sind, mag Ehe ganz nützlich oder nötig sein. In den Dreißigern ist sie eher eine nützliche Sache, aber nicht wirklich nötig. Im späteren Leben ist Ehe oft schädlich und fördert die geistige Rückbildung des Mannes. So hat er sich hier ausgedrückt, und das ist ganz anders als das biblische Bild von Ehe.
War seine Ehe glücklich, ganz nebenbei? Ich glaube nicht. Das klingt bei mir auch so.
Wenn du in die Bibel schaust: Christus und die Gemeinde sollen die Ehe widerspiegeln – eine Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, die gemeinsam zur Ehre Gottes leben, sich gegenseitig unterstützen und ergänzen.
Bei den Aussagen von Nietzsche spürt man seinen Nihilismus, das heißt, er denkt, Leben macht keinen Sinn. Vielleicht ist er letztendlich am Wahnsinn gestorben. Ob das mit seinem Denken zusammenhängt, weiß man nicht, vielleicht war es auch nur organisch. Aber er hat etwas ganz Wesentliches gedacht.
Oscar Wilde hat dann sehr ähnlich gedacht. Er hatte denselben rebellischen Geist wie Nietzsche. Wilde sagt: „Die meisten Menschen sind jemand anderes. Ihre Gedanken sind die Meinungen von anderen, ihr Leben eine Kopie, ihre Passionen ein Zitat.“
Das finde ich nicht schlecht beobachtet.
Ja, das habe ich auch gedacht. Nur hat er als Grundlage für dieses Zitat das Leben in Jesus angeschaut. Er hat sich nichts von anderen sagen lassen, war kein Zitat der anderen und so weiter.
Das stimmt, aber er war so nah dran an der Wahrheit, und ging doch komplett vorbei. Er hat damit Recht, aber seine Thesen bringt er im viktorianischen Zeitalter vor. Da spürt man die Rebellion gegen die Gesellschaft.
Er übernimmt Nietzsches Gedanken und sagt: Es gibt keine Moral. So etwas wie moralische oder unmoralische Bücher gibt es nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben, das ist alles. Für ihn ist Ethik eine reine Geschmacksfrage, mehr nicht.
Deshalb sieht er auch in der Ehe, ähnlich wie Nietzsche, eine Institution, die abgeschafft werden sollte. Sie setzt der Möglichkeit des Einzelnen Grenzen, seinem sexuellen Verlangen nachzugehen. Da hat er Recht – mit den Grenzen, nicht mit dem Abschaffen.
Man merkt hier schon Rousseau wieder heraus. Wilde nimmt das sehr auf.
Heute sind seine Gedanken wieder in der Mittelschicht angekommen. An diesen Beispielen wird sehr deutlich, wie wichtig das Denken ist. Das Denken prägt irgendwann mein Handeln, und dann wird daraus mein Glaubensgrundsatz, den ich nicht mehr hinterfrage.
Deshalb ist es wichtig zu begreifen, wer hier wie denkt und in welche Richtung das geht.
Jetzt haben wir eine ganze Entwicklung durchlaufen, und wir brechen hier fieserweise ab, weil der Podcast sonst zu lang wird. Wie bereits angekündigt, werden wir ihn zweiteilen. Ihr müsst also noch eine Woche warten, bis ihr die Antwort bekommt. Ich hingegen brauche nur zwei Minuten, denn wir nehmen gleich weiter auf und sind sofort wieder im Thema, ohne Pause.
Die Frage ist jetzt natürlich: Wir haben die Entwicklung gesehen – von den Philosophen, über Oskar Wilde, der Schriftsteller war, übrigens irisch. Ich hatte ihn immer für einen Amerikaner gehalten, aber das ist falsch. Und wie es von den Philosophen über die Schriftsteller hin zu Marx ging, der heute vielleicht als Wirtschaftsphilosoph oder Aktivist bezeichnet würde. Ja, das wäre heute der passende Begriff.
Wir haben gesehen, wie das alles immer mehr wurde und wie es in unserer Zeit zum Mainstream wurde. Immer mehr Leute glauben daran. Um 1900 war das noch etwas, das nur verrückte Schriftsteller oder Philosophen gesagt haben. Die normalen Leute lebten anders – zumindest offiziell. Das ist ein anderes Thema.
Jetzt ist die spannende Frage, die wir im nächsten Podcast behandeln werden: Vieles wurde zerstört. Was tritt denn an dessen Stelle? Wie kann man dem begegnen? Wie hilft uns das Evangelium, den Menschen das verständlicher zu machen? Denn der Sinn des Ganzen ist nicht nur eine Geschichtsstunde, sondern ein tieferes Verständnis: Wo kommt das alles her? All das, was heute gesagt wird, hat Hintergründe und kommt nicht aus dem Nichts.
Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Das habe ich bei Truman gelernt: Es kommt nicht aus dem Nichts, sondern hat große Vorbereitungen. Das hilft, Dinge wirklich zu verstehen. Und wie du sagst, es gibt Ansätze, im Gespräch zu zeigen: Ja, das ist die Linie, da sind die Weichen gestellt.
Das war es für heute bei dem Podcast der evangelischen Freikirche Evangelium für alle in Stuttgart. Wir hoffen, ihr habt besser verstanden, warum wir als Gesellschaft dort stehen, wo wir stehen. Welche entscheidenden Weichen in den letzten vierhundert Jahren gestellt wurden und warum wir auf diese Gleise gekommen sind.
Im nächsten Podcast, wie gesagt, werden wir näher darüber sprechen, was man dem auch entgegenstellen kann. Allgemein: Wenn ihr Fragen habt, über die wir sprechen sollen, oder Anmerkungen zum Podcast, schreibt uns gern unter podcast@eva-stuttgart.de.
Wir wünschen euch Gottes Segen.