Verehrte, liebe Schwestern und Brüder,
es ist mir fast peinlich, das, was ich heute weitergeben möchte, an Sie zu richten, die Sie mit dem Eidlinger Bibellesezettel leben. Bei mir hat es offenbar sehr lange gedauert, bis ich darauf gekommen bin.
Angeregt wurde ich durch unser Jahreslos: „Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte vergehen nicht.“ Dieses Wort hat der Apostel Paulus im Kolosserbrief, Kapitel 3, Vers 16, aufgenommen: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen.“
Paulus spricht hier ganz deutlich nicht von der Bibel im Allgemeinen, nicht einfach von der Heiligen Schrift, die wir oft pauschal oder zufällig so nennen. Er sagt vielmehr: „Lasst das Wort des Christus reichlich bei euch wohnen.“
Damit nimmt er ein Wort des Herrn Jesus auf. Jesus selbst hat voller Schmerz gesagt: „Mein Wort findet bei euch keinen Raum, ihr habt mein Wort nicht in euch wohnen.“
Das ist die authentische Diktion des Herrn Jesus selbst. Es geht also nicht bloß darum, dass gute oder fromme Worte bei uns wohnen, oder einfach biblische Worte. Nein, es geht darum, dass das Wort des Christus bei uns wohnt!
Die Bedeutung des Wortes Christi im Glaubensleben
Und deshalb kann ich jetzt gar nicht über all das sprechen, worüber man reden könnte. Man könnte zum Beispiel darüber sprechen, wie viele schöne Bibelworte es gibt, die bei 3,16 zu finden sind. Nicht nur das Wort Kolosser 3,16 – so wie wir wissen: Johannes 3,16, „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt“; Lukas 3,16, „Der Stärkere, der nach mir kommt, wird euch mit dem Heiligen Geist taufen“; und 1. Korinther 3,16, „Euer Leib ist der Tempel des Heiligen Geistes“.
Ich wollte schon immer in meinen Gemeinden eine ganze Bibelstundenreihe über die Verse mit 3,16 halten. Aber dann hätten die Leute vermutlich den Eindruck bekommen, als ob das Mysterium darin bestünde, warum gerade die Zahlen drei und sechzehn so besonders sind. Man könnte genauso eine Bibelstundenreihe über 5,2 halten, denn alle Worte der Bibel sind großartig.
Darüber will ich jetzt aber gar nicht lange reden. Auch nicht darüber, was meinem Bruder Kurt immer so wichtig ist: dass wir das altmodische „Lasst das Wort Christi reichlich bei euch wohnen“ ernst nehmen.
Wir sollten den Namen unseres Erlösers, Jesus Christus, ganz normal aussprechen und nicht in einer falschen Diktion. Sonst wissen die Leute, die zum Glauben kommen, nicht, ob sie sagen müssen: „Ich liebe Christum“ oder „Christa“ oder „Ich liebe Jesus Christus“. Das ist eine ganz altertümliche Durchdeklinierung.
Das Wort Christi als Quelle von Geist und Leben
Aber darüber wollen wir nicht sprechen. Vielmehr soll das Wort Christi reichlich in euch wohnen.
Die Worte, die ich gesprochen habe – so hat Jesus zu seinen Nachfolgern gesagt –, die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und Leben.
In den letzten Jahrzehnten wurde in der Christenheit immer wieder viel über den Geist gesprochen. Es ging darum, wie man ihn empfangen kann – durch Musik, durch Emotionen, durch... Nein, nein! Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind voll Geist und Leben. Sie schaffen den Geist.
Eine große Hochachtung gebührt dem Apostel Paulus, der dies schon in dieser Formulierung zum Ausdruck brachte: Lasst das Wort Christi – nicht nur des Jesus von Nazareth, sondern des Messias, des von Gott Geliebten, des Erwählten – reichlich bei euch wohnen.
Das Wort dieses ewigen Königs, der Majestät aller Majestäten, soll in euch lebendig sein.
Die erste Christenheit und das Wort des Christus
Ich bin in den letzten Wochen und Monaten von einem Staunen gepackt worden darüber, wie die erste Christenheit offensichtlich im Wort des Christus gelebt hat.
In der Theologie – und das geht bis hinein in manche Bibelschule – redet man etwa von der paulinischen Theologie, von der Theologie des Paulus. Ach was, Sie wollen bloß mit dem Römerbrief anfangen! Das ist nicht die Theologie des Paulus, sondern eine Variation über zwei grundlegende Worte des Christus, nämlich: Ich bin gekommen zu einer Erlösung für viele.
In Kapitel 1 bis 3 im Römerbrief geht es um Erlösung für Leute, bei denen es wahr wird: für alle, die an mich glauben. Apostel Paulus kombiniert diese beiden Worte und dekliniert sie durch, sodass Griechen und Juden, fromme Leute und Kritiker alle diesen Jesus brauchen als Erlöser.
„Ich ermahne euch in dem Herrn“, sagt Paulus den Ephesern, „dass ihr nicht in der Nichtigkeit eures Sinns leben dürft wie die Heiden.“ Ich ermahne euch in dem Herrn, weil Jesus gesagt hat in der Bergpredigt, ihr dürft nicht leben wie die Heiden, die sich große Sorgen machen ums Auskommen.
Das müssen wir in den nächsten Monaten und Jahren nachbuchstabieren, wenn alle Welt klagt, dass die Versicherung teurer wird und die Ärzte uns das Geld hinten und vorn nicht reichen. Ihr dürft nicht leben in der Nichtigkeit eures Sinns. Das Geld vergeht doch.
„Ich ermahne euch im Herrn“ – Paulus nimmt hier ein Wort des Apostels, des Herrn Jesus, auf. Es ist nicht seine Erfindung als Seelsorger, sondern er möchte den Herrn Jesus wiedergeben. Ich möchte Sie mal auf die Spur setzen: Immer wenn es bei den Aposteln heißt „Wir wissen“, dann wissen sie das nicht aus dem hohlen Bauch, sondern weil der Herr Jesus mit seinen Worten nun das gesagt hat.
„Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“ Woher weiß denn das Paulus? Weil Jesus gesagt hat: „Selig sind, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich.“ (Bergpredigt)
Wir wissen es. Jesus, der vom Vater gekommen ist, hat uns garantiert gesagt, als verlässliches Wort, dass die, die solches tun, gerecht gerichtet werden, nämlich die, die meinen, sie könnten andere kritisieren und seien ja selbst ohne große Macken (vgl. Römer 2).
Wir wissen es, weil der Herr Jesus gesagt hat: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Das nimmt Apostel Paulus auf, wenn er sagt: Wir wissen es.
Wir wissen, dass unser alter Mensch mit Jesus gekreuzigt ist. Woher wissen wir das? Weil Jesus gesagt hat: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich.“ Wer wirklich zu mir gehören will, wird viel Schweres in sein Leben hineingepackt bekommen. Da sind wir mit Jesus gekreuzigt, mit hineingezogen in die Not.
Wir wissen, sagt Paulus in Kapitel 2, Vers 5, dass der Herr zu fürchten ist. Mit Gott kann man nicht spielen und sagen: „Gott ist die Liebe, Gott ist die Liebe.“ Wir wissen, dass der Herr zu fürchten ist.
Frage: Woher wissen wir das? Weil Jesus gesagt hat: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.“ Dazu ist Jesus geboren und in die Welt gekommen.
So hat er selbst vor Pilatus bezeugt, dass er die Wahrheit bezeugen soll. Bei einem Zeugen ist die Aussage wichtig, was er zu sagen hat. Und wir sollten noch viel, viel mehr als bisher auf die Worte des Herrn Jesus achten.
Nicht einfach bloß pauschal sagen: „The Bible says.“ Ja, die Bibel ist wichtig, aber das Allerwichtigste in der Bibel, der Kern der Schrift, sind die Worte des Herrn Jesus Christus.
Lasst das Wort des Christus reichlich bei euch wohnen.
Die Einzigartigkeit der Worte Jesu im Evangelium
Eingang vom Johannesevangelium
Niemand hat Gott je gesehen. Weder fromme Menschen noch Philosophen haben Gott je erblickt. Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, hat uns von ihm verkündet.
Bei der Verkündigung sind die Worte von großer Bedeutung. Es ist wichtig, dass wir ganz neu auf das achten, was Jesus uns gesagt hat und was die Evangelisten sowie Apostel mit großer Treue weitergegeben haben.
Sie haben nicht nur oberflächlich wiedergegeben, was sie sich von Jesus ein wenig erinnerten. Vielmehr kommt bei den Aposteln häufig vor: „Dies sage ich nicht selbst, sondern der Herr.“ Oft finden sich Anspielungen, die wir kennen, zum Beispiel: „Der Herr wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.“ Diese Worte hat Jesus selbst gesagt.
Daher sollten wir besonders darauf achten, wie sehr die Apostel nichts anderes als die Worte des Herrn Jesus weitergeben wollten.
Die Kraft des Glaubens durch das Wort Christi
Bloß noch drei Hinweise zu dem, was mich zum Staunen gebracht hat.
Ich habe bisher darüber hinweg gelesen, dass im Römerbrief 10, der Glaube aus der Predigt kommt. Zuerst hat Jesus durch seine Predigt gewirkt. Das Predigen kommt nicht durch fromme Gedanken oder Theologie, sondern durch das Wort Christi. Es ist elementar, zum Wort Christi zurückzugehen.
Oder im Hebräerbrief heißt es, dass Gott vor Zeiten mancherlei und auf mancherlei Weise durch die Propheten geredet hat. Zuletzt aber hat er durch den Sohn geredet. Der Glaube kommt durch die Predigt; wir erfahren etwas durch den Sohn, durch seine Worte.
Im Hebräerbrief Kapitel 2 wird dann ganz deutlich gesagt: Wir sollten umso mehr auf dieses Wort achten, das seinen Anfang genommen hat mit der Predigt des Herrn. Die Evangelisten haben nichts Frommes zusammengefasst, sondern am Anfang steht das Wort des Herrn.
Ich möchte das so eindringlich sagen, weil ich vor ein paar Wochen in einer Gemeinde, die als pietistisch und bibeltreu gilt, erlebt habe, dass der Prediger sicher wohlmeinend gesagt hat: Jesus hat ja selbst kein Wort aufgeschrieben. Er habe eigentlich mehr durch sein Vorbild gewirkt. Und die Gemeinde saß da, niemand rief dazwischen, und niemand sagte: Moment mal, gibt es denn keine Bergpredigt? Gibt es keine Abschiedsreden? Gibt es keine Gleichnisse Jesu?
Jesus wirkte durch sein Vorbild? Das war die ökumenisch-modernistische Theologie, die wir jetzt seit vierzig Jahren hatten, dass wir auch durch Vorbild wirken sollten. Nein, Jesus wirkte durch das Wort.
Als die Hohenpriester ihre Knechte ausgesandt hatten, um Jesus in aller Heimlichkeit zu kidnappen und wegzubringen, kamen diese ergebnislos zurück und sagten: Niemand hat je so gesprochen wie er.
Liebe Schwestern, Jesus ist das Wasser des Lebens. Kein Mensch hat je so geredet wie dieser Jesus. Jesus wirkte durch das Wort.
Die Bedeutung der heilsamen Worte des Herrn Jesus
Wenn jemand nicht bleibt bei den heilsamen Worten, so schreibt Paulus im Timotheusbrief, dann verliert er den Halt. Wenn jemand nicht bleibt bei den heilsamen Worten der Apostel, heißt das: Wenn jemand nicht bleibt bei den heilsamen Worten der Bibel. So sagen wir Evangelikale oft: Man muss die Bibel lesen. Wenn jemand nicht bleibt bei den heilsamen Worten unseres Herrn Jesus Christus, dann fehlt ihm das Fundament.
Ich habe plötzlich gestaunt darüber, wie uns durch den Glauben der Vorväter das Wort des Christus wichtig gemacht wird: „Lasst das Wort des Christus reichlich bei euch wohnen.“ Seitdem bin ich auf der Spur, nach diesem Wort des Christus neu zu fahnden. Ich habe angefangen, in ein extra Büchlein die Worte des Christus hineinzuschreiben, so wie sie uns die Evangelisten überliefert haben.
Ich begann mit dem Markus-Evangelium, weil dort eigentlich nicht so viele Worte Jesu enthalten sind wie beispielsweise im Johannesevangelium, sondern eher mehr Geschichten. Dabei war ich überrascht. So habe ich Theologie gelernt: Markus bringt ganz wenig Worte Jesu, und am Schluss war das in meinem Büchlein schon fast ein Viertel.
Wie oft haben manche Worte ganz neu zu glänzen angefangen! Wie oft sind die Worte Jesu Befehle: „Kommt her zu mir“, „Tut Buße“, „Bringt ihn her zu mir“, „Füllt die Gefäße“, „Schweigt und verstummt“. Jesus hat nicht philosophiert über Gott und Welt, sondern er hat Machtworte gesprochen, die bis heute gelten. Es ist mir ganz neu aufgegangen oder neu aufgefallen, wie oft eine Dringlichkeit in den Worten Jesu steckt.
„Bittet“, „Seht zu, dass eure Flucht nicht im Winter geschieht“ – diese Worte gelten mit einer Dringlichkeit. Denn es ist alles bereit. Wie oft sind die Worte des Herrn Jesus gezielt auf ein Umdenken, Umkehren, Neudenken gerichtet?
Ich möchte Ihnen einfach auch empfehlen: Jetzt bin ich gerade beim Johannesevangelium und staune darüber, wie oft auch dort diese Befehle vorkommen: „Komm“, „Bring deinen Mann“, „Füll die Gefäße“, „Steh auf“, „Weine nicht!“ Das sind Machtworte Jesu!
Fangen Sie doch einfach mal neu an. Weil wir beim täglichen Bibellesen oft darüber hinweglesen, empfehle ich, einmal ein Evangelium durchzuforsten und sich nur die Worte des Herrn Jesus herauszuschreiben. Sie können es auch speziell machen, wie mit einem Schleppnetz: Gehen Sie einmal durch ein Evangelium und schreiben Sie sich nur die Worte heraus, die um die Gemeinschaft mit ihm gehen.
„Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ „Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ Bis hin zu dem Wort an den Mitgekreuzigten: „Du wirst mit mir im Paradies sein“, „Kommt her zu mir“, „Bleibt in mir!“ Sie werden staunen, wie oft der Herr Jesus mit seinen Worten uns nicht bloß Verhaltensvorschriften gab.
Im Augenblick sind wir dabei, aus unserem Glauben so etwas wie eine Ethik zu machen, eine Anleitung, wie man anständig lebt. Je mehr unsere Welt im Durcheinander lebt, desto mehr machen wir aus unserem Glauben eine Verhaltensmaßlichkeit. Unser Glaube besteht aber darin: „Kommt her zu mir, bleibt in mir, haltet Gemeinschaft mit mir.“
Oder gehen Sie einmal das Matthäusevangelium durch, in dem Worte der Dringlichkeit enthalten sind: „Kommt, es ist alles bereit.“ „Ich sage euch, dass niemand von denen, die geladen waren, mein Reich sehen wird.“ Worte voller Ernst, dass man es verspielen kann.
Ich bitte Sie einfach, noch einmal neu zu suchen und zu fahnden nach den Worten des Herrn Jesus Christus. Man kann es sich auch so machen: Einer meiner Enkel macht das gerade bei den unregelmäßigen lateinischen Verben. Er schreibt sich kleine Zettel und wiederholt sie auf der Fahrt zur S-Bahn, zum Zug.
Warum sollten wir nicht alle Worte Jesu auf kleine Zettel schreiben? Im Wartezimmer beim Arzt oder in der S-Bahn können wir das gemeinsam durchgehen. Alle Ich-bin-Worte – was heißt das? „Ich bin das Brot des Lebens“, „Ich bin der helle Morgenstern“, bis hin zur Offenbarung: „Ich bin gekommen“, „Ich bin nicht gekommen, mir dienen zu lassen, sondern zu dienen.“
Und dann streichen Sie jedes Mal das „Ich“ ganz groß an. Warum muss der Herr Jesus uns das sagen? „Ich“, „auf mich kommt es an“, weil wir in unserem Leben immer denken: „Auf mich kommt es an“, so wie wir es eben gesungen haben: Mein Denken, meine Vorstellung, das mir gut tut. Jesus sagt: „Ich bin der helle Morgenstern.“
Also möchte ich Sie ermutigen im Sinn dessen: Lasst das Wort des Herrn Christus reichlich bei euch wohnen.
Das Wort Christi als dauerhafter Wohnsitz im Leben
Wir haben in Korntal einen wunderbaren Briefträger, Herrn Ullrich. Mit ihm verstehe ich mich jedes Mal gut, wenn ich ihn sehe. Ich freue mich, wir grüßen uns und unterhalten uns.
Allerdings habe ich ihn noch nie in meine Wohnung eingeladen, auch nie zu einem kleinen Imbiss oder einer Stärkung. Wir haben auch nicht gesagt: „Herr Ullrich, wenn Sie so früh aufstehen müssen – die Briefträger müssen ja schon um fünf Uhr Dienst beginnen, nicht?“ Es gibt heute so wenige Briefträger. Sind Sie lieb zu ihnen?
Aber ich habe noch nicht zu Herrn Ullrich gesagt: „Sie können bei uns ein Mittagsschläfchen machen, bevor Sie den Rest des Tages weiterarbeiten.“ Daran habe ich nie gedacht.
Wohnen ist etwas Besonderes. Die Bibel soll bei uns nicht bloß ein Briefträger sein, der ein paar gute Gedanken abliefert oder einen Impuls für den Tag gibt. Sondern sie soll bei uns wohnen, unseren Tag bestimmen.
Deshalb diese Hinweise an Sie: Lasst das Wort Christi reichlich bei euch wohnen – als Dauerwohnsitz!
Die Verantwortung im Umgang mit dem Wort Christi
Was mir an diesem Wort aus Kolosser 3,16 noch deutlich geworden ist: Lasst das Wort des Christus reichlich unter euch, bei euch wohnen! Man kann schuldig werden an diesem Wort der Majestät des Herrn Jesus Christus.
Ich erinnere mich, als ich in meiner letzten Dienststelle auf der Ostalb war, wurde ich in ein Dorf gerufen. Dort hatte sich der Kirchengemeinderat über seinen jungen, begabten und liebenswerten Pfarrer empört. Dieser Pfarrer hatte bei der Konfirmandenprüfung, besonders wenn die Jugendlichen nicht aus Württemberg stammten, etwas Wichtiges gesagt.
In Württemberg ist es beim Aufsagen üblich, dass man die Auslegung im Katechismus zum Glaubensbekenntnis gut beherrscht. Insbesondere die Erklärung „Er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten“. Der Konfirmand musste aber sagen: „Es gibt kein jüngstes Gericht, die Kirche hat zu lange schon den Zeigefinger erhoben.“ Das war natürlich die Theologie des Pfarrers – genau das Gegenteil dessen, was im Glaubensbekenntnis steht.
Der Kirchengemeinderat war darüber empört, und ich musste als Prälat kommen. Der junge, liebenswerte Pfarrer sagte: „Aber es steht doch in der Bibel, dass Jesus gesagt hat: Ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten.“ Ich antwortete: „Lesen Sie weiter! Wer den Sohn Gottes nicht hat, der ist schon gerichtet.“ Es genügt nicht, nur das Wort herauszupicken, das einem gerade gefällt, und den Rest zu vergessen oder beiseitezuschieben.
Das Wort des Herrn Jesus ist doch kein Spielzeug. Es gibt kaum jemanden, der nicht weiß, was ein Winterschlussverkauf ist. Deshalb müssen wir es immer wieder sagen: Jeder sucht sich gerade das heraus, was ihm gefällt oder günstig für ihn ist. Man kann schuldig werden am Wort des Herrn Christus, doch zu leicht gerät man ins Visier der Kritik der anderen – so wie ich.
Vor etwa drei Wochen bin ich erneut auf die Worte des Herrn Christus gestoßen: „Ich sage euch, wahrlich, wahrlich, die Menschen werden Rechenschaft geben müssen von jedem unnützen Wort, das sie gesprochen haben.“ O Herr, wie viele halbwahre Beurteilungen, wie viel Zorn, wie viele ungeduldige, verletzende und ungute Worte habe ich gesprochen! O Herr, erbarme dich über mich!
Aber Jesus wirkt weiter. Er fragt: „Wie ist es mit deinen Predigten, Bibelstunden, Andachten und Artikeln? Hast du denn die ganze Wahrheit gesagt?“ Ich habe noch einmal in meine verschiedenen Leidsordner geschaut und geprüft: Habe ich das wirklich eindeutig gesagt?
Die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind es, die darauf gehen. Habe ich das verständlich und eindeutig gesagt, trotz aller Liebe zum Einladen?
Der Menschensohn wird die Engel senden, sie werden sammeln alle aus seinem Reich, die zum Ärgernis verführt haben, und sie hinauswerfen in die äußerste Finsternis. Dort wird sein Heulen und Zähneklappern sein. Habe ich deutlich gesagt, dass der Zorn Gottes über Menschen bleibt, die sich nicht Jesus anvertrauen? Oder habe ich evangelistisch Rücksicht genommen und deshalb nicht so viel von der Hölle und Verlorenheit gesprochen?
Jesus spricht wirklich von der Hölle und der Qual. Habe ich das nicht erwähnt, weil ich dachte, ich möchte doch die Menschen einladen und sie nicht verschrecken? Jesus hat auch gesagt: „Wer sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich der Menschensohn auch schämen, wenn er wiederkommt.“
Ich konnte nur sagen: Herr Barmherzigkeit, ich war wohl in meinen Ansprachen und Predigten manchmal zu zurückhaltend, vielleicht ein bisschen, wie man heute sagt, marginalisiert, also am Rand. Jesus ist der Retter, aber er will uns aus der Verlorenheit retten, damit wir nicht in der Verlorenheit bleiben.
Am Wort des Herrn Jesus, am offenbar gewordenen Wort des Herrn Jesus schuldig zu werden, ist schrecklich – keine Lappalie. Wenn wir uns nur das herauspicken, was uns gerade passt, und meinen, um evangelistische oder seelsorgerliche Gründe könnten manche Dinge verschwiegen werden, dann irren wir.
Deshalb heißt es: Lasst das Wort des Christus reichlich bei euch wohnen! Paulus meint mit „das Wort des Christus“ en bloc alles, was Jesus uns gesagt hat.
Das Wort Christi als geistliche Nahrung und Lebensquelle
Ein letztes Wort: Oberbürgermeister Rommel hat immer gesagt, ein Redner kann sein Publikum kaum mehr erfreuen, als wenn er sagt: „Ein letztes“ oder „Ich komme zum Ende“. Also ein letzter Abschnitt.
Wir sollen dem Wort des Christus Wohnrecht geben. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und Leben. Die Worte des Herrn Christus sollen in uns gären können und uns den Tag über begleiten – so wie oft eine Liedzeile in uns nachklingt. Wir wissen gar nicht, warum sie uns immer wieder bewegt und wir sie einfach nicht loswerden. Ähnlich ist es mit einer Melodie oder wichtigen Eindrücken, die im Schlaf wieder aufleben, plötzlich da sind, wie Bilder, die wir gerne auf alten Urlaubsfotos betrachten. Es war schön, dass wir das erlebt haben, und unser Herz wird dadurch wieder wach.
Lasst so das Wort des Christus bei euch wohnen! Es hat Sprengkraft. Jesus hat gesagt, dass auf dem guten Lande diejenigen sind, die das Wort hören und es in einem feinen, guten Herzen bewahren und Frucht bringen in Geduld.
Ach, was wäre das, wenn unser Leben voll Frucht wäre! Wenn das Wort des Herrn Jesus Gärungskraft und Wachstumskraft hätte. Was für eine Kraft steckt in einem Samen! Auch Sprengkraft, sodass die Hülle des Samens gesprengt wird und plötzlich neues Leben entsteht. Lasst das Wort des Christus reichlich bei euch wohnen!
Jesus hat gesagt: „Wenn ihr an meiner Rede bleibt, so seid ihr in Wahrheit meine Jünger.“ Wenn ihr an dem bleibt, was ich euch gesagt habe, dann lebt ihr in der Wahrheit.
Aber es geht nicht nur darum, dass in unser Leben Frucht kommt – das wünschen wir alle. Es geht auch um einen letzten Trost, den uns Jesus geben will.
Manche von Ihnen wissen, dass ich eine große Hochschätzung für Philipp Friedrich Hiller habe. In seinen Liedern hat er Worte des Herrn Jesus neu übersetzt und in Verse gefasst. Von ihm stammt der schöne Vers: „Jesus ist der Kern der Schrift, weil in ihm zusammentrifft, was im alten und neuen Bund je in Gottes Wort stand.“
Die Väter und Mütter des Bekenntnisses von Barmen im Jahr 1934 haben gegen alle Verwirrung der damaligen Zeit – und diese Verwirrung kommt immer wieder – gesagt: Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, ist das eine Wort Gottes, das wir im Leben und im Sterben zu hören haben.
Es ist nicht bloß das Wörtlein „Jesus“ gemeint als magisches Wort, sondern Jesus, wie er uns in der Heiligen Schrift gegeben ist. Nämlich als einer, der uns lehrt und uns seine Worte gibt. Er ist der einzige Trost im Leben und im Sterben.
Davon hat Philipp Friedrich Hiller viel gewusst, weil er selbst durch große körperliche Nöte gegangen ist. Er hat einmal gedichtet:
„Bis an die Todespforte halte ich dir deine Worte, die edlen Worte, fest. Wenn ich auch gar nichts fühle von froher Zuversicht. Das gibt’s. Wir meinen immer, wir müssen in froher Gelassenheit sterben. Na, wenn ich auch gar nichts fühle von froher Zuversicht, entzieh mir bis zum Ziel doch diese Gnade nicht, dass ich möge mit Verlangen an deinem Worte hängen, an dem noch festzuhalten, was mir dein Wort verspricht.
Meine Schafe werden nicht umkommen, niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen, der Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles. Wer da lebt und glaubt an mich, wird nimmermehr sterben.
Bis an die Todespforte halte ich dir deine Worte, die edlen Worte, fest.“
Das eine Wort, das wir im Leben und im Sterben zu hören haben, ist Christus.
Und im gleichen Lied heißt es:
„Wenn ich bei meinem Fehlen mich fast zu glauben scheue, wenn ich wegen der vielen Fehler in meinem Leben gar nicht mehr wage, dich im Glauben festzuhalten, wenn ich bei meinem Fehlen mich fast zu glauben scheue, mach du in meiner Seele die Glaubensgründe neu.“
Dieses Machen, dass Jesus die Glaubensgründe neu macht.
Wir haben doch alle einen brüchigen Glauben, oft Routineglauben. Und ich weiß von so vielen Christen, dass, wenn es nahe ans Sterben geht, der große Zweifel kommt: Ist das alles nicht bloß eine Illusion? Habe ich mir da etwas vorgemacht?
„Mach du in meiner Seele die Glaubensgründe neu, mach es in mir neu zu wissen: Wer mich sieht, sieht den Vater; wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstossen.“
Ich wünsche Ihnen, dass Sie durch die Worte des Christus ein ganz neues, elementares Leben bekommen – ein Vollleben des Christus.
Die Worte, die ich euch gegeben habe, die sind Geist und Leben.
Herr Jesus, lass es uns doch neu erfahren, dass du nicht nur über den Stürmen auf dem See Genezareth rufen kannst: „Schweig und verstumme!“, sondern auch über unseren Kleinglauben, über unsere Angst vor der Zukunft, über unser festgekrallt Sein im Irdischen.
Mach du in unserer Seele die Glaubensgründe neu.
Amen.
