Einführung in die Rechtfertigung vor Gott
Kein Mensch kann durch die Werke des Gesetzes vor Gott gerecht sein, denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.
Nun ist aber ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit offenbart, die vor Gott gilt. Diese Gerechtigkeit wird bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede von der Gerechtigkeit vor Gott, die durch den Glauben an Jesus Christus allen zuteilwird, die glauben.
Denn es gibt hier keinen Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. Sie werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut, zum Erweis seiner Gerechtigkeit. Dadurch vergibt er die Sünden, die früher begangen wurden, in der Zeit seiner Geduld. Nun will er in dieser Zeit seine Gerechtigkeit erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der aus dem Glauben an Jesus ist.
So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben.
Gemeinsames Gebet und Lobpreis
Nach dem Gebet wollen wir aus unserem grünen Liederbuch das Lied Nummer 28, Strophen 1 bis 4, miteinander singen. Ich bitte Sie, soweit möglich, zum Gebet und zum Lied aufzustehen.
Lieber Vater, im Namen unseres Herrn Jesus Christus danken wir dir von Herzen für diesen Abend. Du führst uns durch geschichtliche Ereignisse zu ganz zentralen Texten der Bibel. So werden wir daran erinnert, was das Zentrum unseres Glaubens ist, an das Geschenk unseres Glaubens und an die Mitte unseres Glaubens: dass du durch deinen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, uns deine Gerechtigkeit schenken willst.
Wir danken dir ganz herzlich, dass dies auch mit geschichtlichen Personen in unserem Land und in Europa verbunden ist. Wir dürfen davon profitieren, dass wir dieses Evangelium auf diese Weise in unserem Land hören können. Danke auch für unsere ganz persönliche Glaubensgeschichte. Du hast uns den Glauben geschenkt und uns die Gerechtigkeit gegeben, die vor dir gilt.
So bitten wir dich an diesem Abend um deinen Segen für dieses Zusammensein. Möge uns das, was wesentlich ist, was zentral ist und die Mitte ausmacht, neu vor Augen gestellt werden. Darum bitten wir dich auch um deinen Segen für den Vortrag und die Predigt von Michael Kotsch. Segne unser Zuhören und Aufnehmen, damit du uns darin begegnen kannst.
Wir danken dir von Herzen, dass du unser Herr und unser Gott bist, unsere Mitte. Auch an diesem Abend dürfen wir in diesem Rahmen deinen Namen ehren. Wir preisen und ehren dich, weil du nicht nur Gerechtigkeit hast und Gerechtigkeit bist, sondern weil du sie uns auch geschenkt hast.
Gepriesen seist du, unser Gott. Amen.
Hinweise und Einführung in das Leben Johannes Calvins
Zuerst werde ich die Hinweise noch weiterführen. Natürlich freue ich mich, dass bereits auf mein Buch über Calvin hingewiesen wurde.
Ich hoffe, dass Sie nach dieser Veranstaltung neugierig auf das weitere Leben Calvins sind. Heute Abend konnte ich Ihnen ja nur einen kleinen Ausschnitt präsentieren.
An dem Büchertisch finden Sie neben diesem Buch auch weitere Werke, die ich geschrieben habe. Zum Beispiel ein Buch über den modernen Atheismus. Darin setze ich mich mit den Argumenten gegen Gott auseinander – zunächst mit dem, was häufig genannt wird, und mit den Antworten, die Christen darauf geben können.
Außerdem gibt es ein Buch über Gender Mainstreaming. Dieses Thema betrifft eine gesellschaftliche Tendenz, die auch in Pädagogik und Politik eine Rolle spielt. Dabei geht es darum, bestehende Geschlechtervorstellungen, insbesondere christliche, aufzulösen und zu verändern.
Auch auf dieses Buch möchte ich Sie gerne hinweisen, falls Sie sich gerade mit solchen Themen beschäftigen. Schauen Sie gerne am Büchertisch vorbei, blättern Sie darin und nehmen Sie es mit, wenn es Ihnen gefällt.
Sollten Sie gerade finanziell knapp sein, spreche ich mit dem Büchertisch. Vielleicht können Sie sogar ein Buch geschenkt bekommen. Wenn Sie es sich jedoch leisten können, bitte ich Sie, den Preis zu bezahlen.
Frühes Leben und Ausbildung Calvins
Nun, es freut mich, Sie heute Abend in das Leben von Johannes Karl Wien mitnehmen zu können.
In Deutschland ist uns vor allem Martin Luther aus der Reformationszeit bekannt. Er war jener Mönch, der in seiner Turmstube zur Erkenntnis der evangelischen Wahrheit gelangte. Außerhalb Deutschlands ist Johannes Calvin weitaus bekannter.
Damit möchte ich hier niemanden vor den Kopf stoßen, sondern lediglich zeigen, dass die deutsche Reformation in erster Linie in Deutschland und später in Skandinavien Einfluss hatte. In anderen europäischen Ländern und darüber hinaus wurde die Reformation vor allem durch Johannes Calvin weitergetragen.
Calvin wurde als Franzose geboren und wuchs im Norden Frankreichs in Noyon auf, etwa hundert Kilometer nördlich von Paris. Er wurde katholisch erzogen. Wie auch anders, denn damals – so wie heute – war Frankreich katholisch. Außerdem gab es zu seiner Geburtszeit 1509 noch keine Reformation. Luther hatte seinen Durchbruch erst einige Jahre später.
In seiner Kindheit erinnerte sich Calvin später, dass er besonders mit seiner Mutter regelmäßig katholische Gottesdienste besuchte. Ihm imponierten die dort angezündeten Kerzen. Mehrmals nahm er an Prozessionen teil, bei denen Priester mit dem Schatz der Kirche über die Felder zogen und Menschen ihnen in langer Kleidung folgten. Diese Eindrücke behielt er sein Leben lang in Erinnerung.
Sein Vater hatte gute Kontakte zum örtlichen Bischof, für den er auch die wirtschaftlichen Verhältnisse leitete. Deshalb ließ er schon früh mehrere seiner Söhne für den geistlichen Dienst vorbereiten, darunter auch Johannes.
Sobald Johannes so weit war, kam er auf eine örtliche Lateinschule. Latein war damals die allgemeine Umgangssprache unter Gelehrten. Egal, wo man in Europa studierte, man sprach Latein.
Danach war für ihn ein theologisches Studium vorgesehen. So ging er von Lyon nach Paris an das Collège Montaigu, ein College der Sorbonne, der damals bekanntesten Universität nördlich der Alpen. Viele Studenten aus aller Welt kamen dorthin, um zu studieren.
Wenige Jahre vor Calvin hatte Erasmus von Rotterdam, der damals bekannteste Gelehrte des Humanismus, am selben Collège Montaigu studiert. Von ihm wissen wir, dass man dort zwar gut studieren konnte, aber auch seine Gesundheit verlieren konnte. Es gab schlechtes Essen, schlechte Heizung und Ratten liefen durch die Gänge und Zimmer – nicht gerade das, was wir heute mit Universität verbinden.
Calvin war damals unter seinen Mitstudenten bekannt. Manche nannten ihn „den Eisernen“, weil er so intensiv studierte. Während viele Studenten morgens noch schliefen, wiederholte er den Stoff des vergangenen Tages, um ihn zu vertiefen.
In der Weltstadt Paris gaben sich viele Studenten gerne dem Studentenleben hin. Calvin jedoch hatte damit nichts am Hut. Er widmete sich seinem Studium intensiv. Das war schon damals ein Kennzeichen seiner Persönlichkeit: Was er machte, tat er ganz und setzte sich voll dafür ein. Er zeigte einen gewissen Ernst und eine große Wissensbegierde.
Übrigens zerstritt sich sein Vater während Calvins Studienzeit mit dem katholischen Bischof. Das führte dazu, dass sich die Ausrichtung seines Studiums änderte. Plötzlich war sein Vater nicht mehr so begierig, ihn Theologie studieren zu lassen.
Nach dem Grundstudium, das damals noch nicht Theologie war – man hatte zunächst die sieben freien Künste studiert, die alle durchliefen, bevor die Fachstudiengänge begannen –, sollte Calvin nun Jura studieren.
In jener Zeit gab es nur drei Studiengänge: Theologie, Jura und Medizin. Andere Studiengänge gab es nicht.
Sein Vater wollte, dass sein Sohn Jura studierte. Warum? Wenn man mit der Kirche nicht mehr gut stand, konnte man als Anwalt gutes Geld verdienen. Damals galt: Recht bekam nicht derjenige, der Recht hatte, sondern der, der Geld hatte. Dieses Geld floss in die Taschen von Richtern oder Anwälten – ein guter Weg, um reich zu werden.
Trotzdem wurde Calvins Studium weiterhin von der Kirche bezahlt. Calvin beziehungsweise sein Vater erhielt für ihn sogenannte Kaplanien.
Was versteht man darunter? In der Kirche von Noyon gab es rechts und links neben dem Hauptschiff kleine Altäre. An einem dieser Altäre wurde Geld eingelegt. Das Geld, das den Heiligen an diesem Altar gespendet wurde, floss in Calvins Tasche – für sein Studium natürlich.
Eigentlich war gedacht, dass man damit auch Gottesdienstverantwortung übernehmen sollte. Die Kirche sah das damals jedoch als Förderung zukünftiger Priester an, die hoffentlich in den Dienst der Kirche treten würden.
Begegnungen mit der Reformation und erste geistliche Entwicklung
In dieser Zeit wendet er sich dem Jurastudium zu. Wahrscheinlich hatte er in diesen Jahren seine ersten Berührungspunkte mit der Reformation. Das wissen wir nicht mit absoluter Sicherheit. Allerdings herrschte zur gleichen Zeit in Paris Unruhe. Es gab dort die ersten lutherischen Märtyrer, die für ihren Glauben verurteilt und hingerichtet wurden. Das wird Calvin mitbekommen haben.
Darüber hinaus gab es einige deutsche Gastprofessoren an der Sorbonne, die unterrichteten und offen zeigten, dass sie gewisse Sympathien für die evangelische Sache hatten. Luthers 95 Thesen waren auf Latein übersetzt und auch in Frankreich erhältlich. Wahrscheinlich hatte Calvin hier ebenfalls seine ersten Berührungen damit.
Während dieser Zeit wollte er sein Studium in Südfrankreich fortsetzen. Er verließ Paris, und gerade als er das Collège Montagu verließ, kam ein weiterer Student dorthin. Möglicherweise haben sie sich sogar getroffen. Es war Ignatius von Loyola. Manche fragen sich, wer das ist – allein an seinem Namen erkennt man schnell, dass er Spanier war.
Ignatius war früher Militär gewesen. Er wurde in einer Schlacht verletzt, zog sich zurück und las dort die Geschichten der Heiligen. Daraufhin bekehrte er sich zum Katholizismus. Sein Ziel war es, sich ganz in den Dienst der katholischen Kirche zu stellen. Er versprach Gott entweder eine Pilgerfahrt nach Jerusalem zu machen, was damals zu diesem Zeitpunkt unmöglich war, oder sich dem Papst auszuliefern und für ihn zu arbeiten. Das tat er dann auch.
Nachdem er in Paris studiert hatte – nicht Calvin, sondern Ignatius von Loyola – ging er nach Rom, unterstellte sich dem Papst und gründete die Societas Jesu, auf Deutsch die Jesuiten. Die Jesuiten waren die Träger der Gegenreformation. Sie setzten sich in ganz Europa dafür ein, die Reformation zurückzudrängen.
Es ist spannend zu sehen, dass diese beiden Personen an einem Ort dieselben Lehrer gehört und denselben Einflüssen ausgesetzt waren. Der eine entwickelte sich dazu, für das Evangelium einzutreten, der andere dagegen, für die Restauration und eine Rückkehr zum eigentlichen Katholizismus.
Calvin selbst hörte in Südfrankreich verschiedene Lehrer, insbesondere einen Hebräischlehrer. Er besuchte auch Vorlesungen über Hebräisch bei einem Herrn Wolmar aus Deutschland, der reformatorische Ideen vertrat. Aber es war nicht nur der Einfluss aus Deutschland.
Es gab einen Professor namens Lefebvre d'Estables, bei dem Calvin ebenfalls hörte. Dieser hatte evangelische Ideen, die unabhängig von Luther entstanden waren. Lefebvre d'Estables schrieb übrigens auch ein Buch über den Römerbrief, in dem er zu ähnlichen Schlüssen kam wie Luther, allerdings unabhängig von ihm. Von ihm und dessen Ideen wurde Calvin stark beeinflusst.
Allerdings blieb Lefebvre d'Estables zeitlebens in der katholischen Kirche. Damals duldete die Kirche eine gewisse Bandbreite an Lehren. Es kam bei ihm nicht zu der Konfrontation, wie sie bei Luther in Deutschland stattfand.
Irgendwann in dieser Zeit muss Calvins Bekehrung stattgefunden haben. Er berichtet nicht ausführlich darüber. Nur in späteren Schriften schreibt er Freunden, wie es bei ihm gewesen war. Dort beschreibt er es nur vage. Er sagt, obwohl sein Herz in der Jugend sehr verhärtet war und er dem Papismus vollkommen ergeben gewesen sei, habe Gott sein Herz erweicht und ihn zur Wahrheit geführt.
Er berichtet weiter, dass schon nach Ablauf eines Jahres diejenigen, die begierig nach dem Wort Gottes suchten, zu ihm kamen, dem Anfänger, um von ihm gelehrt zu werden. Calvin schreibt das nicht, um sich ein Ruhmesblatt anzufertigen, sondern weil ihn Menschen Jahre später danach fragten, wie seine Bekehrung verlaufen sei.
Irgendwo in dieser Zeit fand dieses Ereignis statt. Damals gab es in Paris einen Erweckungsprediger, einen Franzosen namens Roussel, den Calvin auch hörte. Wir wissen, dass Roussel in der Vorosterzeit Versammlungen abhielt, zu denen über dreihundert Personen kamen, um Bibelarbeiten zu lauschen und sich der evangelischen Sache anzuschließen. Vielleicht wurde Calvin durch ihn gewonnen, das wissen wir nicht genau.
Auf jeden Fall widmete sich Calvin, sobald er eine Kehrtwende in seinem Leben vollzogen hatte, dieser Sache ganz. Seine juristischen Studien, die er zwischenzeitlich abgeschlossen hatte, traten in den Hintergrund. Er setzte sich voll und ganz dafür ein, studierte die Bibel intensiv und besuchte Vorlesungen in Griechisch und Hebräisch, weil er die biblischen Schriften im Original lesen wollte.
Er begann, in kleinen Gruppen zu predigen. Große Kirchen standen ihm in Frankreich nicht offen, deshalb predigte er in kleinen Bibelkreisen. Er baute in dieser Zeit einen Freundeskreis auf. Außerdem starb in dieser Zeit sein Vater, sodass Calvin sich nun frei fühlte, seinen eigenen Studien nachzugehen.
Erste Konflikte und Flucht aus Paris
Es kommt auch in diesen Jahren zu einigen ersten Auseinandersetzungen, in die Calvin einbezogen wird. So ist beispielsweise der neue Rektor der Universität von Paris, der Sorbonne, offen für reformatorische und evangelische Ideen.
Als er seine Antrittsvorlesung hält, vor allen Würdenträgern der Stadt, insbesondere vor den Professoren, baut er in seiner Rede viele Forderungen nach einer Erneuerung der katholischen Kirche ein. Ein Manuskript dieser Rede findet sich heute in der Bibliothek in Genf in der Handschrift Calvins, sodass vermutet werden kann, dass Calvin an dieser Rede mitbeteiligt war.
Die Rede wird gehalten, doch entgegen der Hoffnung jener beiden Gelehrten, die auf eine Diskussion gehofft hatten, wenden sich die Professoren erbost an den Rat der Stadt. Dieser verurteilt die beiden Professoren und fordert ihre Auslieferung. Sie sollen ins Gefängnis geworfen werden. Die beiden hören rechtzeitig davon, und noch am selben Abend flieht Calvin aus Paris.
Später wird berichtet, dass er, als draußen die Gendarmen an die Tür klopften, sich aus einem Hinterzimmer durch ein Fenster abseilte und dann aufs Land floh. Insbesondere fand er Zuflucht in Südfrankreich bei Margarethe, der Königin von Navarra, der Schwester des französischen Königs. Damals war Navarra eine Provinz Frankreichs.
Jene Königin Margarethe hatte im Traum Mitteilungen erhalten, dass die evangelische Sache richtig sei und dass sie sich dafür einsetzen solle. Das ist eine seltsame Geschichte, da wir wissen, dass Träume auch täuschen können und manche Leute sie überinterpretieren. Aber auf jeden Fall vertraut sie darauf und bietet Calvin und seinen Anhängern Schutz.
Calvin bleibt einige Zeit dort. Er trifft erneut den Professor Lefebvre, ebenso Guillaume Farel und andere Gelehrte, die seine Überzeugung teilen. Lefebvre sagt zu Calvin: „Gott wird durch dich in diesem Land ein Königreich aufrichten.“ Das war damals noch nicht absehbar, doch Calvin erinnert sich später daran und sieht diesen Moment als einen Zeitpunkt seiner Berufung zum christlichen Dienst.
Allerdings versteht er seine Berufung damals ganz anders, als sie später aussehen wird. Er sieht sich als Professor und Gelehrter an der Universität. Da er in Frankreich verfolgt wird, flieht er nach Basel. Dort schreibt er sein erstes theologisches Werk, das er später immer wieder überarbeitet: „Institutio religionis“.
Es handelt sich um eine christliche Dogmatik, eine systematische Theologie, die demjenigen, der wenig von der Bibel weiß, eine Einführung in die großen Lehren der christlichen Kirche geben soll. In der ersten Auflage lehnt sich Calvin noch stark an die Schriften Luthers an, insbesondere an den kleinen Katechismus Luthers, aber auch an andere Schriften, etwa die Auslegung des Glaubensbekenntnisses.
In den folgenden Überarbeitungen, die am Ende einen vierfachen Umfang erreichen, wird die „Institutio“ immer mehr zu seinem Grundlagenwerk, das bis heute die Kirche weltweit geprägt hat. Während dieser Zeit trifft er auch Erasmus von Rotterdam, den damals bekannten Lehrer, der ebenfalls in Basel lehrte.
Calvin kehrt später nach Frankreich zurück, vor allem, um Erbangelegenheiten zu regeln. Wie erwähnt, war sein Vater verstorben. Er kommt nach Noyon, lässt sein Erbe auflösen und gibt seine Kaplaneien zurück. Er ist nicht mehr bereit, Geld von der katholischen Kirche anzunehmen, da er ihre Überzeugungen nicht mehr teilt.
Rückkehr nach Paris und erneute Flucht
Auf der Rückreise macht er erneut Halt in Paris. Einige seiner Freunde haben eine Aktion vorbereitet, um auf die evangelische Sache aufmerksam zu machen. Unter ihnen sind einige Feuerköpfe, die vielleicht eher überzeugt als klug sind. Sie lassen große Plakate drucken, auf denen die Irrlehren der katholischen Kirche angeprangert werden.
Insbesondere kritisieren sie das Missverständnis der katholischen Eucharistie, das heißt die Transubstantiation des Abendmahls in Fleisch und Blut Jesu. Diese Lehre prangern sie an und hängen die Plakate nachts überall in der Stadt Paris auf. Sie haben sogar einen Verbündeten am Königshof, der das Plakat im Umkleideraum des Königs anbringt.
Der König steht morgens auf, will sich ankleiden, sieht das Plakat und bekehrt sich nicht. Stattdessen ist er erbost und fragt sich, wie jemand es wagen kann, ein solches Pamphlet bei ihm anzubringen. Genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war, geschieht: Es kommt zu einer Verfolgungswelle in Paris, und wieder muss Calvin fliehen.
Er will Frankreich ohnehin den Rücken kehren und zurück nach Basel, einer freien Stadt, in der man frei lehren kann. Zwischenzeitlich arbeitet der Reformator Öko Lampard in Basel und reformiert die Stadt. Calvin kann jedoch nicht direkt nach Basel reisen, weil der französische König Franz I. seine Armee in Richtung Deutschland geschickt hat. Im Bereich des Elsass kämpfen sie gerade vor Basel.
Deshalb macht er einen Umweg. Er reist über Südfrankreich, kommt in die Stadt Genf, übernachtet dort und will am nächsten Tag durch die Eidgenossenschaft nach Basel weiterreisen.
Beginn der Reformation in Genf und Calvins Berufung
In der Zwischenzeit hat sich allerdings, gerade in Genf, wenige Monate zuvor ein wesentliches Ereignis ereignet. Guillaume Farel, jener Theologe, den er schon aus Frankreich kannte, ist nach Genf gekommen und hat dort die Reformation eingeleitet.
Guillaume Farel muss ein beeindruckender Prediger gewesen sein. Er konnte die Menschen begeistern und mitreißen. So gelang es ihm auch, die Genfer davon zu überzeugen, ihren Bischof in die Wüste zu schicken – na ja, nicht ganz in die Wüste, aber zumindest aus der Stadt auszuweisen – und sich der Reformation anzuschließen.
Guillaume Farel war sich seiner Fähigkeiten, aber auch seiner Grenzen durchaus bewusst. Er merkte, dass er zwar Menschen begeistern konnte, aber kein organisatorisches Talent besaß. Dann hörte er, dass Calvin abgestiegen war, jener Theologe, den er ebenfalls aus Frankreich kannte. Farel besuchte ihn in der Herberge, sprach mit ihm und versuchte, ihn zu überzeugen: Calvin solle bleiben und mit ihm zusammenarbeiten.
Calvin sagte jedoch nein. Er meinte, Gott wolle ihn als Professor gebrauchen, und er werde nach Basel gehen, um dort zu lehren. Später schrieb Calvin, dass Farel ihn so ermahnt habe, als sei es eine Stimme vom Himmel gewesen. Er habe Angst gehabt, dem Willen Gottes nicht gehorsam zu sein, wenn er abreist. Deshalb blieb er in Genf.
Tatsächlich war dies für die Genfer Reformation von großer Bedeutung. Zwei Jahre blieb er zunächst dort, zusammen mit seinem Freund. Beide wurden erst einmal nicht bezahlt, sondern taten es aus Überzeugung. Sie versuchten, die Genfer Kirche zu reformieren.
Das, was sie vor allem machten, war, eine neue Gemeindeordnung aufzustellen, in der unter anderem auch Gemeindezucht vorgesehen war. Hier waren manche Genfer, besonders die reichen Kaufleute, gar nicht einverstanden. Sie hatten zum Teil den Bischof weggeschickt, weil sie meinten, nun eine neue Freiheit zu haben, keine Regeln mehr zu brauchen und tun zu können, was sie wollten.
Doch das war nicht Calvins Auffassung. Er meinte, jetzt, wo der Katholizismus weg sei, müsse man sich erst recht nach dem Wort Gottes richten. Als er seine Gemeindeordnung vorstellte und sie dem Rat der Stadt vorlegte, der diese genehmigen musste, forderten sie, dass er sie verändern müsse.
Hier zeigt sich Calvin: Wenn er von etwas überzeugt ist, bleibt er dabei. Er war nicht bereit, nachzugeben. Er wollte sogar einen der Ratsherren unter Gemeindezucht stellen, weil dieser ein sündiges Leben führte. Das wollten die Leute sich nicht bieten lassen.
Von jenem jungen Pastor, der damals gerade 26 oder 27 Jahre alt war, wollten sie sich das nicht gefallen lassen. Man setzte ihm eine Frist von 24 Stunden, um die Stadt zu verlassen. So verließen er und Farel die Stadt.
Sie zogen zunächst nach Bern, das damals schon reformiert worden war, und dann nach Zürich zu Zwingli. Dort versuchten die beiden, die Reformation zu unterstützen. Sie schickten Botschaften nach Genf, doch dort wollte man davon nichts hören.
Calvin schrieb, er sei froh gewesen, dass die Last dieser Berufung von ihm abgefallen sei. Nun könne er sich endlich seinen theologischen Studien widmen. In dieser Zeit erhielt er den Ruf nach Straßburg.
Straßburg gehörte damals zum Deutschen Reich und war von Martin Bucer reformiert worden. Dort gab es eine kleine Flüchtlingsgemeinde von Franzosen, die sich in Straßburg niedergelassen hatten und sich der evangelischen Sache angeschlossen hatten.
Bucer hörte, dass Calvin aus Genf vertrieben worden war, und lud ihn ein, nach Straßburg zu kommen. Calvin folgte diesem Ruf und wurde Pastor dieser Flüchtlingsgemeinde. Nebenher war er Professor an der Universität von Straßburg.
Die Universität war neu, doch es machte Calvin Freude, dort zu sein. Er war gerne da und wäre wahrscheinlich von seiner Seite aus dort geblieben.
Ehe und persönliches Leben Calvins
Und das, was in wenigen Calvin-Biografien erwähnt wird oder manchmal nur am Rande, finden Sie in meiner natürlich schon: Dort lernt er auch seine Frau kennen.
Calvin ist schon ein besonderer Typ, muss man sagen. Er will alles geistlich angehen. Einige Freunde sprechen ihn darauf an: „Calvin, du wolltest doch auch heiraten.“ Dabei ist er nicht so, wie wir das heute vielleicht machen würden. Er schaut sich nicht nach der Schönsten im Land um. Stattdessen sagt er: „Freunde, schaut euch um, schlagt mir eine vor, und die heirate ich dann.“ Dabei betont er, dass sie fromm, fleißig und treu sein muss. Das ist wichtig. Der Rest spielt keine große Rolle.
Seine Freunde suchen daraufhin und stoßen auf eine Frau in seiner Gemeinde. Es sind größere Gemeinden mit mehreren hundert Leuten, die er nicht alle persönlich kennt. Dort lebt eine Flüchtlingsfamilie aus Belgien. Diese Familie hatte sich eigentlich den Täufern angeschlossen, die später Mennoniten genannt wurden. Sie flohen nach Straßburg. Im Gespräch mit Calvin schloss sich der Mann der reformierten Reformation Calvins an, ebenso seine Frau. Calvin kannte sie damals noch nicht sehr gut. Die Familie hieß damals Dordoe.
Wenige Jahre später stirbt der Mann an der Pest. Die Frau bleibt als Witwe mit zwei Kindern zurück. Gerade diese Witwe, Idelette mit Vornamen, empfehlen ihm seine Freunde, und er heiratet sie. Am Anfang ist das Ganze vielleicht eher eine Vernunftehe, könnte man fast sagen. Doch mit der Zeit lernen sie sich richtig lieben.
Sie zieht mit ihm nach Genf und unterstützt ihn in der Seelsorgearbeit. Er berichtet davon. Als sie schließlich in Genf stirbt, ist er todtraurig. Er gerät in eine tiefe geistliche Krise. Als andere ihm vorschlagen, er solle doch eine neue Frau heiraten, lehnt er ab. Er sagt: „Nein, meine Idelette, solch eine gibt es nie mehr, und ich werde ledig bleiben bis zum Ende meines Lebens.“ Und so bleibt es auch.
Er erzieht auch die Kinder, die seine Frau mit in die Ehe gebracht hat. Eigentlich müssen wir davon ausgehen, dass es eine relativ glückliche Ehe war. Sicherlich gab es auch Auseinandersetzungen. Calvin konnte manchmal richtig aufbrausend werden, wenn sein Temperament mit ihm durchging. Das musste Idelette sicherlich auch mittragen.
Calvin war zudem jemand, der kein großes Gehalt bezog. So mussten sie darauf achten, wovon sie leben konnten. Doch die Äußerungen, die wir von beiden haben, zeigen, dass es eine echte Liebe war.
Herausforderungen und Konflikte in Genf
Und gerade in jener Zeit gerät die Reformation in Genf ins Straucheln. Ein südfranzösischer Bischof namens Sadolet schreibt einen Brief an die Genfer, in dem er ihnen Honig ums Maul schmiert. Er sagt: Ja, es ist gut, dass ihr an der Erlösung allein aus Glauben festhaltet – das tun wir auch. Es ist gut, dass ihr das Evangelium predigt – das tun wir ebenfalls. Kommt doch zurück in den Mutterschoss der katholischen Kirche!
Die Ratsherren sind nahe daran, diesem Aufruf zu folgen. Allerdings gibt es keinen profilieren Theologen, der ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann. Einige Freunde in Genf schicken den Brief nach Straßburg zu Calvin. Innerhalb weniger Tage erarbeitet Calvin ein Antwortschreiben. Er schickt es an Bischof Sadolet und an die Ratsherren nach Genf.
Dieses Antwortschreiben ist so überzeugend, dass die Ratsherren begeistert sind. Sie lassen es auf Staatskosten nachdrucken und an jeden Genfer verteilen. Außerdem schicken sie Boten nach Straßburg. Diese Boten bitten Calvin: „Bitte komm zurück, wir brauchen dich!“ Doch Calvin winkt dankend ab. Er sagt: „Nein, ich war schon einmal bei euch. Ich weiß, wie das dort läuft, und das will ich mir nicht antun.“ Er will nicht kommen.
Schließlich erhöhen die Ratsherren ihr Angebot. Sie sagen: „Wir geben dir das Doppelte und werden alles tun, was du willst.“ Schließlich lässt sich Calvin überreden. Er hat jedoch den festen Vorsatz, nur hinzugehen, weil sie ihn so stark bitten, und danach wieder zurückzukehren. Deshalb nimmt er weder seine Frau noch seine Kinder mit, sondern reist allein nach Genf.
Tatsächlich sind die Genfer offen und wollen sich auf die Reformation einlassen. Nach einigen Monaten holt Calvin seine Familie nach. Auch sein Bruder und einige andere Mitarbeiter aus Straßburg kommen nach Genf. Nun bleibt Calvin bis zu seinem Lebensende in Genf. Von 1542 bis 1564 ist dies seine Wirkungsstätte.
Er unternimmt zwar verschiedene Reisen durch Frankreich, etwa Predigtreisen, und ist sonst viel unterwegs. Außerdem ist er ein fleißiger Briefschreiber. Jeden Tag verfasst er Briefe; 1200 davon sind uns heute noch erhalten. Er hat jedoch viel mehr geschrieben.
Calvin steht mit fast jedem Gelehrten, mit vielen Königen und Fürsten seiner Zeit in Briefkontakt und berät sie. Unter anderem den englischen König, den französischen König und einige deutsche Herrscher. Einmal schickt er auch einen Brief an Luther. Da Luther zu dieser Zeit noch vogelfrei ist, kann Calvin ihn nicht persönlich treffen. Stattdessen trifft er auf einer Konferenz Melanchthon, den engen Mitarbeiter Luthers, und gibt ihm den Brief mit.
Eine Ironie der Geschichte ist, dass Melanchthon, der eher zurückhaltende Mensch, sich nicht traut, den Brief Luther zu übergeben, und ihn behält. Lebenslang spricht Calvin mit Hochachtung von Luther. Nun kann man sich fragen: Was wäre passiert, wenn diese beiden Reformatoren sich kennengelernt hätten? Vielleicht gäbe es heute nicht die Trennung zwischen reformierter und lutherischer Kirche. Vielleicht hätten wir eine gemeinsame protestantische Kirche – wir wissen es nicht.
Doch weil Melanchthon sich nicht traut, geht der Brief verloren. Einen zweiten Versuch unternimmt Calvin nicht, denn er denkt sich: „Wenn Luther nicht antwortet, will er wahrscheinlich nicht.“ So bleiben beide Reformatoren getrennt voneinander.
Radikale Reformen und Gemeindeleben in Genf
In Genf verändert sich vieles – und zwar radikal. Calvin will eine Reformation einführen, die viel strenger ist als die von Luther. Luther setzt eher das durch, was er für möglich hält. Er bewahrt vieles aus der katholischen Tradition.
Calvin, der nie ein vollständiges Theologiestudium absolviert hat, fühlt sich nicht an katholische Regeln gebunden. Er versucht, ganz neu aus der Bibel herauszuarbeiten, wie eine Gemeinde aufgebaut sein sollte. Er ist übrigens der Erste, der ein Presbyterium einführt. Das bedeutet, die Gemeinde soll mitbestimmen, was in der Gemeinde passiert. Die Gemeinde wählt den Pfarrer – und das schon damals, als man von Demokratie in Deutschland noch lange nichts wusste. Das war üblich und ist ein Grundgedanke, der sich später in der Demokratie ausdrückt.
Nicht umsonst ist es so, dass das erste Mal, wo die Menschenrechte erklärt werden – nämlich in der Französischen Revolution –, ein reformierter Pfarrer namens Rimbaud diese Menschenrechte formuliert hat. Woher? Aus der reformierten Tradition, aus der reformierten Theologie, aus dem Gedanken, den Calvin in die Gemeindearbeit hineinlegt.
Calvin legt auch großen Wert darauf, dass es eine Trennung zwischen Staat und Kirche gibt. Damals gibt es eine starke Verbindung zwischen Staat und Kirche, und er kämpft lebenslang dafür. Manche werfen ihm bis heute vor, er hätte eine Art Gottesstaat eingerichtet. Das sagen allerdings nur Menschen, die das Leben Calvins nicht kennen. Bis fast zu seinem Lebensende ist er nicht einmal Bürger Genfs. Mehrfach bittet man ihn darum, aber er sagt Nein, damit niemand ihm vorwerfen kann, er wolle seine eigene Politik machen.
Er ist nie Mitglied des Stadtrates, der allein über politische Dinge entscheidet. Über die meiste Zeit seiner Tätigkeit in Genf ist der Stadtrat sogar gegen ihn eingestellt, sodass er wegen jeder kleinen Reform kämpfen muss. Manche Stadträte wollen ihn sogar vor Gericht bringen und ins Gefängnis werfen. Es ist bekannt, dass eine große Partei, die sich gegen ihn gebildet hat, versucht hat, ihm das Leben durch allerlei Schwierigkeiten unmöglich zu machen.
Einmal ist es so, dass in einem ganzen Sommer viele reiche Genfer, die gegen ihn sind, ihren Hund plötzlich alle Calvin nennen. Dann gehen sie durch die Stadt und sagen „Calvin, sitz!“, wenn er gerade in der Nähe ist, um ihn zu ärgern. Wenn man dann umschaut, sagen sie: „Ich sage das nur zu meinem Hund.“ Ein anderes Mal ist eine Partei so aufgebracht, dass sie nachts mit Musketen und Armbrüsten vor Calvins Haus stehen und ihn lynchen wollen. Zum Glück kommt er heraus, und sie trauen sich nicht. Die Situation geht vorbei. Aber es gibt mehrere Situationen, in denen er stark bedroht wird.
Calvin ist also eher jemand, der darum ringen und kämpfen muss, dass seine Reformation in Genf Bestand hat. Stück für Stück schafft er das auch, indem er sich insbesondere durch Predigten einsetzt. Dabei nimmt er zu nichts Politischem Stellung. Zwingli in Zürich vermischt das mehr mit Politik und stirbt schließlich in einem Krieg gegen die Katholiken. Calvin hingegen versucht, strikt zu trennen.
Eine der ersten Sachen, die er macht, ist, eine Gemeindeordnung durchzusetzen. Das schafft er in der Kirche. Schließlich kann er sogar den Rat der Stadt überzeugen, das durchzusetzen. Das führt beispielsweise dazu, dass jemand, der in Sünde lebt, zurechtgewiesen werden muss und nicht mehr am Abendmahl teilnehmen darf.
Damals gehen ja alle Genfer in den Gottesdienst, deshalb fällt so etwas auf. In der Folgezeit kommt es tatsächlich vor, dass sogar der Bürgermeister öffentlich Ehebruch betreibt. Calvin fordert, dass er auch öffentlich Buße tun muss. Der Stadtrat versucht ihn zu überzeugen und sagt: „Du weißt doch, das ist ein bekannter Mann, das kann doch nicht sein. Wenn der Stadtrat das einbesteht, ist doch alles in Ordnung.“ Calvin aber sagt: „Nein, gleiches Recht für alle. In der Gemeinde gibt es keinen Bürgermeister oder einfachen Bürger, dort sind alle gleich.“
Er fordert, dass der Bürgermeister im Bußhemd erscheinen und Buße tun muss wie jeder andere auch. Dann kann ihm Vergebung zugesprochen werden – aber er muss es tun. Es ist sogar so, dass seine eigene Schwiegertochter, die zwischenzeitlich geheiratet hat, öffentlich in Sünde lebt. Auch sie weist er zurecht. Calvin will keine Vetternwirtschaft zulassen und kein unterschiedliches Recht für unterschiedliche Menschen. Er nimmt das ernst.
Besonders ist das die Aufgabe der Ältesten, der Presbyter in der Gemeinde. Sie sollen regelmäßig die Genfer zuhause besuchen, mindestens einmal im Jahr, um zu sehen, ob geistlich alles gut läuft, und Gespräche führen. Vielfach wirft man ihm später vor, er würde Leute unter Druck setzen. Das stimmt nicht. Es gibt eine relativ neue Doktorarbeit, in der die Protokolle jener Sitzungen der Ältesten ausgewertet wurden. Dabei stellt man fest, dass diese Treffen viel eher der Seelsorge dienten als irgendeiner Gesetzlichkeit.
Die Menschen, die vorgeladen wurden, wenn es um Sünden ging, waren bereit, darüber zu sprechen, wie sie sich besser verhalten sollten. Calvin und die Presbyter waren schnell bereit, Vergebung auszusprechen. Wenn es keine Sünde war, die in der Öffentlichkeit bekannt war, wurde sie auch nicht an die Öffentlichkeit getragen. Aber Calvin wollte es ernst nehmen. Er meinte, Christsein bestehe nicht nur darin, irgendwann einmal bekehrt zu sein, sondern das müsse sich auch im Leben niederschlagen. Die Gemeinde müsse das unterstützen.
Er versuchte auch, einige Regeln durchzusetzen, die im öffentlichen Bereich sichtbar sein sollten. Fast jede Stadt der damaligen Zeit hatte ein Freudenhaus. Wenn man öffentliche Gäste aus dem Ausland empfing, lud man sie ins Freudenhaus ein, zu den Prostituierten. Calvins Forderung war, Prostitution in Genf zu verbieten. Das wurde auch umgesetzt. Prostituierte, die erwischt wurden, wurden vermahnt. Beim nächsten Mal gab es Geldstrafe, und beim dritten Mal wurden sie ausgewiesen.
Bettelei wurde in Genf verboten. Man könnte fragen: „Was machen denn die Leute, die kein Geld haben?“ Calvin überzeugte die Gemeinde und den Stadtrat, Manufakturen einzurichten – die ersten in der Schweiz. Dort bekam jeder, der arbeiten wollte, Arbeit. Er sagte: „Wer arbeiten will, kann arbeiten. Also muss keiner mehr betteln. Wer jetzt betteln will, ist zu faul.“ Und wie lesen wir in der Bibel: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Er forderte, dass solche Menschen Genf verlassen.
Calvin gab also konstruktive Antworten. Das führte dazu, dass immer mehr Menschen nach Genf strömten. Manche mögen sagen: „Wer weiß, ob ich mich dort aufhalten will, wenn alles so überwacht wird.“ Die Menschen der damaligen Zeit waren davon angezogen.
John Knox, der Reformator Schottlands, lebt mehrere Jahre in Genf und wird dort geprägt. Er berichtet später vielleicht etwas überschwänglich: „Seit der Zeit der Apostel gab es keinen Ort, an dem das Evangelium so gelebt wurde wie in Genf.“ Selbst ein Abgesandter aus Wittenberg ist begeistert von den Zuständen in Genf, weil dort viel frommer gelebt wird als in vielen deutschen Ländern.
Das zieht die Menschen an. Die Bevölkerungszahl verdoppelt sich in der Zeit, als Calvin dort ist. Die Wirtschaft beginnt zu blühen, weil die Leute nicht mehr in die Kneipe oder ins Freudenhaus gehen, sondern sich der Arbeit widmen. Die Genfer Bürger sind bekannt für ihre Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und ihren Fleiß.
Max Weber, deutscher Soziologe und Theologe, spricht später von der protestantischen Arbeitsethik – nicht ganz zu Unrecht. Diese soll von Calvin geprägt worden sein. Er definiert Luthers Sicht auf Arbeit neu: Arbeit ist nicht nur ein notwendiges Übel, sondern Gottesdienst. Jeder Christ habe die Aufgabe, zur Ehre Gottes seine Arbeit zu tun. Er tut sie nicht nur, um Geld zu bekommen oder weil der Arbeitgeber es verlangt. Er tut sie so gut wie möglich, weil er sie vor dem Angesicht Gottes tut.
Das führt zu einem Aufblühen der Wirtschaft und einer ernsthaften Lebensweise in Genf. Unter anderem lässt Calvin auch die Kneipen verbieten, die es in Genf gibt. Stattdessen richtet er sogenannte Abteien ein. Das sind Räume, in denen man zwar trinken und essen darf, aber der Wirt muss darauf achten, dass keiner seiner Gäste zu viel trinkt. Außerdem soll in der Mitte des Raumes ein Tisch stehen, auf dem eine offen aufgeschlagene Bibel liegt – falls ein Besucher gerade die Notwendigkeit spürt, in der Bibel zu lesen. Leichtfertiges Tanzen soll ebenfalls vermieden werden.
Man muss sagen, diese Abteien waren kein wirtschaftlicher Erfolg. Sie wurden nach einiger Zeit wieder geschlossen, weil viele Leute, die in die Kneipe gehen, nicht gerade zum Bibellesen kommen, sondern meistens anderen Vergnügungen nachgehen. Auf jeden Fall war es ein gut gemeinter Versuch in diese Richtung.
Theologische Auseinandersetzungen und Gegner
Er hat neben den politischen Anfeindungen auch zahlreiche theologische Gegner. So gibt es einige Katholiken, die ihn angreifen und als Irrlehrer beschimpfen. Aber auch innerhalb seiner eigenen Reihen gibt es Auseinandersetzungen.
Einer seiner engen Mitarbeiter, der Leiter des örtlichen Gymnasiums, möchte ins Pfarramt berufen werden. Er äußert jedoch, dass er das Hohelied nicht als kanonisch betrachtet. Das heißt, er glaubt nicht, dass das Hohelied inspiriert oder von Gott eingegeben ist. Calvin, dessen Protokolle wir haben, schreibt, dass er diesen Mitarbeiter eigentlich schätzt. Er meint, wenn das seine Privatüberzeugung wäre, könne man das eventuell noch gelten lassen. Aber wie solle er vor der Gemeinde rechtfertigen, dass dieser Mann ein Lehrer des Evangeliums sei, wenn er einige Teile der Bibel, wie eben das Hohelied, nicht für von Gott eingegeben hält? Deshalb schickt Calvin ihn schweren Herzens aus Genf weg.
Eine besondere Auseinandersetzung hat Calvin mit Michael Servet, einem spanischen Arzt, den er bereits kurz in Paris kennengelernt hat. Beeinflusst von der Mystik sowie von jüdischer und islamischer Kritik am christlichen Glauben, leugnet Servet die Trinität. Er schreibt mehrfach an Calvin und bezeichnet ihn als Irrlehrer, weil er an ein dreiköpfiges Monster glaube, das er Gott nenne. Dabei gebe es doch nur einen Gott, wie Muslime und Juden lehren.
Da Servet in Frankreich lebt, sind die Katholiken ebenfalls nicht erfreut über ihn. Er wird der Inquisition übergeben und verurteilt. Er kann sich freikaufen, flieht und lebt unter falschem Namen in Südfrankreich. Servet ist ein renommierter und talentierter Arzt und wird Leibarzt eines Bischofs, der nichts von seiner Identität ahnt. Nebenbei schreibt Servet weiter Schriften, die er anonym veröffentlicht. Er schickt sie immer wieder nach Genf, bis seine Tarnung auffliegt.
Er wird in Frankreich erneut eingesperrt und zum Tode verurteilt. Wenige Tage vor der Vollstreckung gelingt es ihm, seine Gefängniswärter zu bestechen und zu fliehen. Wohin wendet er sich? Nach Genf. Dort tritt er auf den Kanzeln auf und versucht, die Pastoren zu überzeugen, sich seiner Reformation anzuschließen. Er fordert, Calvin als Irrlehrer ins Gefängnis zu werfen und zu verbrennen. Denn Irrlehrer sollten verbrannt werden, da war sich Servet sicher. Das war damals in ganz Europa üblich.
Selbst im Staatsgesetz des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, zu dem die Schweiz damals noch gehörte, war es üblich, Irrlehrer zu verbrennen. Warum? Ein Irrlehrer galt als schlimmer als ein Mörder. Ein Mörder könne höchstens den Leib eines Menschen töten, aber die Seele bleibe bei Gott. Ein Irrlehrer hingegen könne die Seele töten und damit die ewige Seligkeit der Menschen gefährden.
Natürlich versuchte man zunächst, einen Irrlehrer zu überzeugen. Weigerte er sich, sah man es als notwendig an, ihn entweder auszuweisen oder, wenn das nicht möglich war, zu töten – zum Schutz der Gemeinde.
Nun war Servet in Genf. Calvin setzte sich mehrfach mit ihm auseinander und sagte: „Geh, wir wollen dich hier nicht haben. Deine Lehre ist falsch, wir glauben nicht, dass sie biblisch ist.“ Doch Servet blieb und versuchte, die Leute gegen Calvin aufzubringen. Schließlich ließ der Rat der Stadt Servet gefangen nehmen und einsperren.
Calvin besuchte ihn regelmäßig, ließ ihm sogar einige seiner Bücher zukommen, disputierte mit ihm und versuchte ihn zu überzeugen. Servet reichte eine Petition beim Rat ein und forderte, Calvin statt ihn einsperren zu lassen, zu enteignen. Als Entschädigung für die Schmach solle man ihm alle Habgüter Calvins aushändigen.
Der Rat der Stadt sah das anders. Er klagte Servet an, und Calvin war lediglich als theologischer Sachverständiger beteiligt. Der Rat fragte Calvin, ob Servets Lehre Irrlehre sei oder biblisch. Calvin fertigte ein ausführliches Dokument an, in dem er begründete, dass Servets Lehre Irrlehre sei und nicht mit der Bibel übereinstimme – auch aus heutiger Sicht zu Recht.
Auf dieser Grundlage wurde Servet verurteilt. Da der Rat unsicher war, wie er vorgehen sollte, schickte er Briefe an andere reformierte Städte in der Schweiz und Deutschland, um Rat zu holen. Die Antwort aller Reformatoren war: „Ihr müsst ihn töten.“ Keiner sprach sich dagegen aus. Das war der Zeitgeist und die allgemein gängige Überzeugung.
Calvin setzte sich immerhin dafür ein, dass Servet schnell enthauptet werde. Die Mehrheit der Reformatoren forderte jedoch, ihn zu verbrennen. Man solle ihm kein schnelles Urteil geben, denn ein solcher Ketzer müsse leiden, bevor er sterbe.
Schließlich entschied der Rat der Stadt gegen Calvin, und Servet wurde verbrannt. Bis heute gilt dies als Makel in Calvins Leben. Immer wieder wird gefragt, warum er Servet hat töten lassen.
Ich habe bereits erklärt, dass nicht Calvin den Tod veranlasste, sondern der Rat der Stadt, in dem Calvin weder Sitz noch Recht hatte. Er war lediglich Berater. Außerdem war es damals allgemein üblich, auch unter Reformatoren. Selbst Melanchthon, Luthers Mitarbeiter, schrieb nach Genf und forderte: „Ja, ihr müsst ihn töten.“
Das soll das Verhalten nicht rechtfertigen. Ich glaube, man sollte heute anders mit Irrlehren umgehen. Aber ich möchte zumindest verständlich machen, warum Calvin so reagierte. Wir können ihn nicht mit den Maßstäben unserer Zeit messen, so wenig, wie wir unsere Zeit an der Erkenntnis von in 200 Jahren messen können.
Vielleicht werden Menschen in 200 Jahren auf uns zeigen und sagen: Das war die Generation, die jedes Jahr 140 Babys im Mutterleib töten ließ und nichts dagegen unternahm. Vielleicht werden sie sagen, das war die Generation, die meinte, ab einem bestimmten Alter habe ein Leben keinen Wert mehr und könne getötet werden. Vielleicht werden sie sagen, das waren Menschen, die das Jenseits vergessen und sich nur auf das Diesseits konzentriert haben.
So wenig, wie wir unsere Zeit an der Erkenntnis von 200 Jahren messen können, so wenig können wir Calvins Reaktion verstehen, wenn wir uns nicht mit den Gegebenheiten seiner Zeit vertraut machen.
Calvin war sich sein Leben lang nicht sicher, ob das Urteil richtig war, obwohl er es nicht selbst gesprochen hatte. Vielleicht hätte er mehr unternehmen können. Ich habe auch deutlich gemacht, dass Servet selbst den Tod Calvins forderte. Servet war überzeugt, dass ein Ketzer getötet werden müsse – nur hielt er Calvin für den Ketzer, nicht sich selbst.
Calvins Lebenswerk und geistliches Wirken
In dieser Zeit wird Calvin immer kränker, da er seinem Körper viel abverlangt. Er arbeitet Tag und Nacht. Seine gesammelten Werke umfassen heute 59 Bände – dicke Bände – und das ist nur ein kleiner Teil seiner Schriften.
Während seiner Zeit in Genf legt er fast jedes biblische Buch aus und schreibt dazu Kommentare. Außerdem verfasst er zahlreiche Lehrbücher, zum Beispiel darüber, wie man Kinder unterrichten soll, sowie Gutachten für Gemeinden. Er wird nach Frankreich gerufen und ist dort Mitbegründer der späteren hugenottischen Kirche. Zudem schreibt er deren Glaubensbekenntnis.
Calvin setzt sich für eine Reform des Gemeindeliedguts ein und versucht sogar, einige Lieder zu dichten. Diese werden jedoch bei der zweiten Auflage seines Gemeindeliederbuchs auf seinen eigenen Wunsch hin gestrichen, da er den Eindruck hat, musikalisch nicht besonders begabt zu sein.
Hier ist wichtig zu wissen, dass Calvin eine recht radikale Position bezüglich der Kirchenmusik vertritt. Er ist überzeugt, dass es in der Gemeinde keinen mehrstimmigen Gesang geben soll, weil dieser nur vom Text ablenkt. Auch Sologesang lehnt er ab, da die Aufmerksamkeit dann auf die einzelne Person statt auf Gott gelenkt wird. Gemeinde und Gottesdienst sollen allein zur Ehre Gottes da sein.
Übrigens lässt sich die gesamte Theologie Calvins mit diesem Kern zusammenfassen: Sein Dreh- und Angelpunkt ist die Ehre Gottes. Alles soll zur Ehre Gottes dienen. Das ist etwas Besonderes, was andere Reformatoren in dieser Weise und Betonung nicht kennen – auch beim Gesang.
Er fordert zudem, dass jede Instrumentalbegleitung wegfallen soll, da auch diese ablenkt. Was bleibt da also noch übrig? Übrigens sollen auch keine selbstgedichteten Lieder gesungen werden – gar keine, egal wie alt. Das Einzige, was gesungen werden soll, ist Bibeltext: die 150 Psalmen, die Seligpreisungen, das Vaterunser und einige weitere Stellen. Diese wurden vertont und gesungen.
Ich weiß nicht, ob Sie eine Position zur Gemeindegesangsreform kennen, die deutlicher oder profilierter ist. Ich möchte nicht sagen extremer, aber deutlicher. Und es spricht durchaus etwas dafür: Seine Argumente sind nicht aus der Luft gegriffen. Auch wenn die reformierte Kirche heute durchaus Orgeln und ein Gesangbuch kennt, ist man nicht bei allem geblieben, was Calvin damals als Idee hatte.
Er will alles vollkommen neu strukturieren – nur anhand der Bibel – und das kann eine Herausforderung sein.
Darüber hinaus gründet er die Universität von Genf und baut sie auf. Viele verspotten ihn und sagen, das wird doch alles gar nichts. Doch innerhalb kurzer Zeit ist die Universität überlaufen. Die Universität von Genf ist dafür bekannt, dass sie ganz anders läuft.
Die Professoren wie die Studenten müssen unterschreiben, dass sie ein evangelisches Leben führen. Jeder Student, der dem Studentenleben mit Weib, Wein und Gesang frönen will, wird der Stadt verwiesen. Dasselbe gilt für Professoren. Die können ja nach Paris gehen, da gibt es so etwas, aber in Genf nicht.
Genf hat damals Verbindungen in alle Welt. Calvin ist der erste der Reformatoren, der eine weltmissionarische Perspektive hat – wahrscheinlich durch seine internationalen Verbindungen. Als es eine Expedition nach Südamerika gibt – wir sind ja gerade in der Zeit, als Nord- und Südamerika entdeckt wurden – schickt er einige seiner Prediger mit, um auch den Eingeborenen das Evangelium zu predigen.
Hier denkt er also an Weltmissionen. Die anderen Reformatoren denken daran noch lange nicht; das kommt erst im Pietismus ins Blickfeld. Bei Calvin ist es schon hier.
Darüber hinaus verändert er einige weitere Dinge in der Stadt, auf die ich jetzt nicht eingehe, damit noch ein bisschen Spannung bleibt, wenn Sie das Buch lesen.
Auf jeden Fall wird er älter. Manchmal beklagt er sich, dass er es nur schafft, gerade noch an seinem Buch zu arbeiten und fünfzehn Briefe zu schreiben, aber sonst im Bett liegt. Er wird zum Teil im Bett in die Gemeinde getragen, um zu predigen, weil er unter so schweren Schmerzen leidet, dass er nicht alleine gehen und aufstehen kann.
Aber auch da beklagt er sich bei Gott nie. Er sagt: Wenn Gott mir das auch zumutet, wird er mir die Kraft geben, es zu tragen.
Er ist zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt. Eines Tages berichten Boten ihm, dass in Noyon, seiner Geburtsstadt, ein Freudenfest gefeiert wurde, weil das Gerücht kursierte, Calvin sei gestorben.
Einer seiner engen Mitarbeiter konvertiert später zum Katholizismus und schreibt eine polemische Biografie über Calvin. Darin wird er als oberflächlicher Mensch dargestellt, der nur den menschlichen Freuden nachgehe und sich ständig betrinke. Kein Wort davon ist wahr, aber diese Polemik wurde immer wieder in der katholischen Kirche gegen den reformierten Glauben verwendet.
Calvin trägt dazu bei, dass in Ungarn, Frankreich, den Niederlanden, im Norden, in England und in der Schweiz die Reformation voranschreitet.
Er besucht regelmäßig Frankreich, hält Predigten, bildet Franzosen in Genf aus, wo sie sicher sind, und schickt sie dann als Prediger zurück nach Frankreich.
In dieser Zeit breitet sich die Reformation aus. Man schätzt, dass etwa 25 Prozent der Franzosen zu diesem Zeitpunkt reformiert waren. Erst während der zehn Hugenottenkriege wurden sie teilweise nach Preußen vertrieben, getötet oder kehrten zum Katholizismus zurück. Auch daran ist Calvin beteiligt.
Calvin hat übrigens auch starke Auswirkungen auf Amerika. Viele der dort entstehenden Freikirchen sind viel stärker durch die Theologie Calvins geprägt als durch die Theologie Luthers.
Viele Ideen, wie beispielsweise die Grundzüge einer heilsgeschichtlichen Auslegung oder die Konzentration auf die Ehre Gottes, stammen von ihm. Auch die Frage, warum Jesus auf die Erde gekommen ist, wird bei Calvin anders beantwortet.
Luther würde eher sagen, Jesus sei gekommen, um die Sünde der Menschen zu tragen. Calvin sieht das nur teilweise so. Für ihn ist Jesus auf die Erde gekommen zur Ehre Gottes. Gott will dem ganzen Universum und der ganzen Welt seine Liebe demonstrieren, und deshalb ist Jesus auf die Erde gekommen.
Es geht bei der Errettung nicht in erster Linie um den Menschen, sondern um Gott. Warum sind wir Kinder Gottes? Nicht, damit wir in den Himmel kommen, sondern damit Gott sich an uns verherrlicht – in unserem Leben durch das, was er tut.
Warum hält sich der Christ an die Gebote? Nicht aus Angst vor Strafe, sondern zur Verherrlichung Gottes.
Wenn man diese Idee im Hinterkopf hat, kann man auch verstehen, warum Calvin einen besonderen Wert auf die Prädestinationslehre legt, die Erwählungslehre, wie wir sie in Epheser 1 lesen: „Ihr seid erwählt vor Grundlegung der Welt“ (Epheser 1,4).
Allerdings gibt es manche Calvinisten, die calvinistischer sind als Calvin selbst. Sie machen daraus eine radikale Lehre. Das führt sogar dazu, dass einige Menschen, die nicht erlöst oder nicht calvinistisch sind, später als von Gott nur als Brennmaterial für die Hölle geschaffen beschrieben werden.
Das ist jedoch, und ich betone es, nicht Calvin. Das sagen manche seiner Schüler und geistigen Enkel, die ihn damit karikieren.
Ich zitiere in dem Buch auch eine Stellungnahme Calvins in seiner Institution, in der er schreibt, man solle von der Prädestinationsrede gar nicht so viel predigen und lehren. Denn für diejenigen, die sie nicht verstünden, würde sie zu einem tödlichen Labyrinth werden.
Wenn man mit Menschen spricht, so sagt er, solle man sie direkt auf Christus hinweisen und nicht von Prädestination reden.
Das war Calvin.
Er ging davon aus, dass es eine Erwählung Gottes gibt, viele Menschen diese aber nicht verstehen oder begreifen können. Deshalb solle man sie nicht damit irreführen.
Auch die Prädestination sei letztlich ein Ausdruck der Ehre Gottes: Dass nicht der Mensch vor Gott auftrumpfen kann und sagen kann, ich habe mich bekehrt oder bin zu dir, Gott, umgekehrt, sondern dass selbst diese Bekehrung Gottes Werk ist.
Gott ist derjenige, der zuerst den Menschen anspricht, der ihn erkennen lässt, dass es ihn gibt. Dabei stützte er sich unter anderem auf die Aussage Jesu, der sagt: „Niemand erkennt den Vater außer dem Sohn und wem der Sohn es offenbart“ (Matthäus 11,27).
Er sagt, es könne kein Mensch von sich aus zu Gott kommen, denn der Mensch sei von Grund auf schlecht. Hier muss Gott den Schritt zum Menschen tun. Denjenigen, den er anspricht, wird sich auch bekehren, denn diese Gnade Gottes ist unwiderstehlich.
Für Calvin ist die Prädestinationslehre also vor allem ein Ausdruck der Ehre Gottes. Alles läuft auf Gott hinaus. Gott steht hinter allen.
Die Prädestinationslehre war von ihm nie als Mittel gedacht, bestimmte Menschen abzuschreiben oder sich als besser zu fühlen. Das nicht.
Er ging jedoch davon aus, dass sich diese Erwählung Gottes auch im Leben der Menschen zeigen müsse.
Luther hatte mehr die Gnade betont, die spielt bei Calvin auch eine Rolle, aber Calvin betonte, dass der Mensch, der sich bekehrt hat, auch ein verändertes Leben führen müsse.
Das finden wir auch bei Luther, aber eben nicht so deutlich. Das führt in der Folge, wiederum nicht bei Luther, sondern bei seinen geistigen Enkeln, zu einer Position, bei der beispielsweise jemand sagt, gute Werke seien sogar schädlich für den Glauben.
Einer der Erben Luthers begründet das so: Wenn man gute Werke habe, fühle man sich besser vor Gott. Dann brauche man weniger Gnade, und umso größer sei Gott.
Hier wurde Luther überinterpretiert. „Alles aus Gnade“ wurde überinterpretiert, was so nicht Luthers Rede war.
Bei Calvin führte die Überinterpretation zur extremen Lehre der doppelten Prädestination und zur Aufforderung, man müsse gar nicht mehr missionieren – ebenfalls eine Missdeutung.
Calvin selbst legte Wert darauf, dass der Mensch ein verändertes Leben führen müsse.
Deshalb war für ihn der Jakobusbrief keine „strohende Epistel“. Wenn dort steht: „Der Glaube ohne Werke ist tot“ (Jakobus 2,26), meinte Calvin das auch so.
Im Leben der Menschen müsse sich etwas verändern. Wenn das nicht der Fall sei, sei das ein Zeichen dafür, dass der Mensch gar nicht Kind Gottes sei.
Das zeichnet die reformierte Reformation stärker aus.
Calvins Lebensende und Vermächtnis
Nun möchte ich zum Ende von Calvins Leben abschließen. Nachdem er monatelang im Krankenbett lag, rief er die Ältesten der Gemeinde zusammen, mit denen er eng zusammengearbeitet hatte. Er entschuldigte sich bei ihnen für alle Fehler und manches aufbrausende Anfahren. Bis zum Ende seines Lebens war er sich bewusst, dass er in manchen Punkten auch falsch gehandelt hatte. Deshalb bat er sie um Vergebung.
Er brachte sein Leben in Ordnung mit Gott, und kurze Zeit später, im Jahr 1564, starb er. Vor seinem Tod gab er noch einige Anweisungen für seinen Nachlass. Diesen verteilte er unter einigen Armen, auch seine beiden Kinder erhielten noch etwas davon. Der Großteil ging an die Kirche. Außerdem forderte er, dass er ohne großes Aufsehen bestattet wird. Nicht, weil er etwas gegen Bestattungen hatte, sondern weil er nicht zulassen wollte, dass sich irgendein Kult um seine Person entwickelt. Immerhin hätte das als Führer und langjähriger Leiter der Reformation in Genf passieren können.
Er hatte Vorbilder dafür, wie in der katholischen Kirche die Heiligenverehrung blühte. Das wollte er nicht, weshalb wir bis heute nicht genau wissen, wo Calvin beerdigt ist. Hier zeigt sich wieder ein Ausdruck seiner Bescheidenheit. Lebenslang stellte er sich nicht in den Mittelpunkt. Deshalb wissen wir auch nicht genau, wie es mit seiner Bekehrung war. Über seine Ehe wissen wir relativ wenig, weil er sich nicht in den Vordergrund stellte.
Nach der Reformation setzten die Genfer ihm dennoch ein Denkmal. Wer nach Genf kommt, kann es im Stadtpark besichtigen: überlebensgroße Figuren von vier Reformatoren – Pharrell, sein enger Mitarbeiter der frühen Zeit, Calvin, John Knox und Theodor Bezer, sein Nachfolger, der die Arbeit weiterführte.
Seine Briefe und Werke beeinflussen die Christenheit bis heute, ebenso seine theologische Prägung. Wo genau Calvin beerdigt ist, wissen wir nicht, aber ich glaube, er kann uns bis heute eine geistliche Herausforderung sein. Viele Dinge, die er damals gesehen hat, sind auch heute noch überlegenswert.
Beispielsweise die Frage, die ich erwähnt habe: Ist nicht etwas dran an der These, dass alles, was Gott tut, zu seiner Herrlichkeit und Ehre geschehen soll? Ist es nicht auch wichtig, dass in unserem Leben Veränderung sichtbar wird?
Wie steht es mit der Frage, ob Christen sich auch in öffentlichen Angelegenheiten zu Wort melden sollen? Dabei geht es nicht um eine Vermischung mit dem Staat, sondern darum, dass Christen als Christen sagen dürfen, wenn etwas falsch läuft. Die lutherische Kirche hatte damit Probleme. Deshalb wurde selbst im Nationalsozialismus lange darüber gerungen, ob Christen Hitler kritisieren dürfen.
Derjenige, der maßgeblich für das Barmer Bekenntnis verantwortlich war, ist Karl Barth, ein reformierter Theologe aus der Schweiz. Er war von der reformatorischen Prägung her eher der Überzeugung, dass Christen auch sagen dürfen, wenn geistlich etwas nicht in Ordnung ist. Hier steht eine Herausforderung vor uns.
Auch die hohe Bedeutung der Laien in der Gemeinde, die bei Calvin viel stärker war als bei Luther in jener Zeit, kann uns herausfordern. Selbst der Pastor musste sich jedes Jahr dem Presbyterium zur Verantwortung stellen und sein Leben sowie seine Lehre rechtfertigen. Das Presbyterium, also die Ältesten, bildeten die Gemeindeleitung – nicht der Pfarrer oder Pastor, sondern die Ältesten.
Auch das ist, glaube ich, eine Herausforderung für uns heute. Nicht auf eine starre Orientierung, bei der es wenige unhinterfragbare Personen gibt, sondern auf die Gemeinde als Ganzes, die Verantwortung trägt – jede einzelne von Gott begabt.
Die Idee der Demokratie, die daraus abgeleitet wurde, ist für uns heute ebenfalls herausfordernd. Ebenso seine Stellung zur Bibel: Zahlreiche Humanisten seiner Zeit stellten die Bibel in Frage, doch Calvin legte immer wieder Wert darauf, dass jeder Teil der Bibel wahr ist, jedes Wort wahr.
Seine Predigten zeigen das deutlich. Calvin ist kein Vorbild für moderne Bibelkritik, im Gegenteil. Auch hier kann er uns herausfordern.
Er fordert uns heraus in der kreativen Anwendung biblischer Gebote und Anweisungen für das tägliche Leben. Zum Beispiel trug er zur Reform des Bettelwesens bei. Dabei verbot er nicht nur, sondern bot auch Alternativen an. Das ist eine Herausforderung: Wenn wir sehen, dass in unserer Welt manches schiefläuft, sollten wir nicht nur kritisieren, sondern auch Antworten formulieren, wie das Problem gelöst werden kann.
Auch hier ist Calvin eine Herausforderung.
In meinem Buch formuliere ich noch einige weitere Herausforderungen, bei denen wir mit Calvin ins Gespräch kommen können. Sicherlich gibt es auch Punkte, die ich erwähne, bei denen wir sagen können, dass sie überholt sind, dass er ein Kind seiner Zeit war und wir nicht auf ihn hören müssen.
Aber ich hoffe, dass Sie heute Abend einige Anstöße mitnehmen konnten und dass Ihnen Johannes Calvin in seiner Vielfältigkeit etwas nähergekommen ist – unter anderem auch in seiner Korrekturfähigkeit. Mehrfach in seinem Leben ließ er sich durch andere korrigieren und stellte seine Pläne zurück. Auch davon können wir lernen.
Gerade an diesem Reformationstag möchte ich Ihnen das mitgeben: Lassen Sie sich herausfordern. Calvin will nicht vergöttert werden, und das soll er auch nicht. Aber in mancher Hinsicht kann er durch seine Wirkung und Konsequenz uns heute Anregung und Ermutigung sein.
Schlussgebet
Ich möchte an dieser Stelle gerne mit Ihnen beten und lade Sie dazu ein, aufzustehen.
Vater im Himmel, wir danken dir, dass du in der Geschichte deiner Kirche immer wieder Menschen berufen hast, die auf Irrtümer und Fehler aufmerksam gemacht haben. Diese Menschen haben zu einer Erneuerung deiner Gemeinde beigetragen.
Wir danken dir auch für das Leben Karl Wiens, das von vielen Anfechtungen und Schwierigkeiten geprägt war. In vielen Angriffen, in denen er sich rechtfertigen musste, und in mancher eigenen Ungewissheit hat er versucht, dir zu folgen. Heute haben wir den Eindruck, dass es ihm in vielen Punkten gelungen ist.
Wir möchten dich bitten, dass du ihn und sein Leben uns zur Herausforderung werden lässt. Lass uns fragen, was heute verändert werden muss und wo wir uns mehr an deinem Wort orientieren sollen. Zeige uns, wo du uns in deiner Gemeinde und Kirche gebrauchen willst.
Wir bitten dich auch, uns davor zu bewahren, Fehler zu begehen, wie Calvin sie begangen hat. Besonders die Verfolgung von Andersdenkenden, von der wir heute wissen, dass sie nicht richtig war.
Begleite uns in unserem Alltag und rufe uns die Lehren dieses Abends und das Leben Calvins in Erinnerung. Hilf uns, dass uns dies in unserer Beziehung zu dir weiterhilft und auch unsere alltäglichen Lebensentscheidungen beeinflusst.
Danke, dass du da bist und deine Gemeinde auch heute nicht alleine lässt. Amen.