Liebe Geschwister, es ist eigenartig verlaufen. Eigentlich habe ich in meinem Manuskript überlegt, ob ich wirklich so sagen darf, was Ihnen längst bekannt ist: Johann Sebastian Bach hat in seinem Weihnachtssoratorium den Choral „Wie soll ich Dich empfangen“ nicht auf die vertraute Melodie „O Haupt voll Blut und Wunden“ komponiert, sondern gleich nach dem Jauchzen frohlockert. Damit sollte beim Erwarten des Herrn Jesus deutlich werden, dass ein Weg nach Golgatha zum Leiden führt.
Wie gesagt, ich habe überlegt, ob ich diese altbekannte Geschichte erwähnen soll. Und heute Mittag sagt Andreas Schäfer: Er lädt zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums ein. Also ist es gerade recht, dass wir auf Johann Sebastian Bach hinweisen und vor allem auf die Bibel.
Schon im ersten Kapitel des Evangeliums des ehemaligen Zöllners Matthäus leuchtet das Leiden Jesu auf. Dort bekommt Joseph den Befehl von Gott, dem Kind, das Maria erwartet, den Namen Jeshua, Jesus, zu geben. Denn er wird sein Volk von den Sünden retten.
Man kann also nicht bloß Weihnachten feiern mit dem kleinen Kindlein im Stall, umgeben von Rührung, Ochse und Esel – von denen sonst in der Bibel kaum etwas steht – und den lieben Engeln. Diese Engel sind mächtige, starke Helden Gottes.
Vielmehr sehen wir gleich, dass der Jubel der Engel – „Ehre sei Gott in der Höhe“ – dem Gott gilt, der die Rettung der Menschen begonnen hat. So müssen wir nicht im Sumpf stecken bleiben, in dem uns so vieles hinunterzieht.
Der Auftrag Jesu und die Bedeutung der Heilungen
Und deshalb habe ich für diese Bibelarbeit heute Abend Matthäus 8,17 gewählt. Dieser Vers weist darauf hin, wozu Jesus in die Welt gekommen ist.
Ich bitte Sie, Matthäus 8 aufzuschlagen. Der Abschnitt beginnt bei Vers 14: „Jesus kam in das Haus des Petrus und sah, dass dessen Schwiegermutter im Bett lag und Fieber hatte. Da ergriff er ihre Hand, und das Fieber verließ sie. Sie stand auf und diente ihm.“
Am Abend brachten viele Menschen, die von bösen Geistern besessen waren, diese zu Jesus. Das Fieber der Schwiegermutter des Petrus war nur ein Auslöser, damit die Menschen erkannten: Alle Not wollen wir zu Jesus bringen.
Sie brachten viele Besessene zu ihm, und Jesus trieb die Geister aus – nicht durch große Beschwörungen, sondern durch sein Wort. Er sprach kurze Befehle, wie „Sei sehend!“ oder „Fahre aus!“. Er war der, der die Macht hatte. So machte er alle Kranken gesund.
Damit erfüllte sich, was der Prophet Jesaja gesagt hatte: „Er hat unsere Schwachheit auf sich genommen, und unsere Krankheit hat er getragen“ (Matthäus 8,14-17).
Die Passionsgeschichten als Grundlage des Evangeliums
Der große Theologe Martin Kähler, der im 19. Jahrhundert vor allem in Halle gelehrt hat und die Theologie maßgeblich geprägt hat, sagte einmal: Die Evangelienberichte Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind im Grunde genommen Passionsgeschichten mit einer ausführlichen Einleitung.
Zur Einleitung gehört beispielsweise Lukas 2,1: „Es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging.“ Dennoch sind es Passionsgeschichten, die darauf hinführen, dass in der Fülle das erfüllt wird, was geschrieben steht beim Propheten Jesaja.
Besonders wichtig ist das große Kapitel Jesaja 53, in dem es heißt: „Er hat unsere Schwachheiten getragen.“
Die Bedeutung von Jesaja 53
Bei den Lesungen im Judentum wird seit dem ersten Jahrhundert nach Christus der Abschnitt Jesaja 53 ausgelassen. Den meisten Juden ist dieses Kapitel gar nicht bekannt. Es ist zwar in ihren Bibeln enthalten, wird aber bei den offiziellen Lesungen nicht vorgetragen. Der Grund dafür ist, dass der Text zu deutlich auf Jesus hinweist.
Viele messianische Juden sind zum Glauben gekommen, als man ihnen gesagt hat, sie sollten Jesaja 53 einmal lesen. Oft hörte man dann: „Das habe ich noch nie gelesen.“ Und wenn sie es gelesen haben, braucht es nicht viel Überzeugung. Denn dort wird Jesus beschrieben – der Messias, der von Gott angekündigt wurde, der Allerverachtetste, der unsere Sünden getragen hat.
Du sollst ihn Jesus nennen, Jeshua. Er wird sein Volk retten von den Sünden. Zwei Worte, die ein Programm ausdrücken: retten von Sünden. Das ist die Antwort auf die Frage, warum der Sohn Gottes überhaupt in die Welt gekommen ist.
Paul Gerhardt hat in seinem großen Choral, der unserer jungen Generation allmählich unbekannt wird, in der zweiten Strophe gesagt: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder.“ Dort heißt es, dass der Vater im Himmel sagt: „Geh hin, mein Kind, und nimm dich an der Sünder, die ich ausgetan zu Straf und Zorn.“
Das steht hinter der Weihnachtsgeschichte. Es ist nicht bloß liebliches Tandradei, sondern der Vater reißt sich den Sohn vom Herzen. „O Liebe, Liebe, du bist stark“, heißt es im gleichen Lied von Borgherd. Du kannst Gott den Sohn abzwingen, diese Liebe. Du musst dich um die Menschen annehmen, damit sie nicht verlorengehen.
Die Erfüllung der Prophezeiungen im Evangelium
Aber jetzt lassen wir uns auf diesen einen Vers ein, der hier zitiert wird, eingeleitet von Matthäus, damit erfüllt würde, was gesagt ist: Er hat unsere Schwachheiten auf sich genommen und unsere Krankheit getragen.
Dieses Stichwort „auf dass erfüllt würde“ begegnet uns immer wieder in den Evangelienberichten. Schon im Kapitel 1, Matthäus 1, Vers 23: „Siehe, eine junge Frau wird schwanger sein, einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist.“
Dann steht es in Kapitel 2, Vers 5: „Auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Micha.“ Weiterhin lesen wir in Kapitel 2, Vers 23: „Er kam nach Nazaret, auf dass erfüllt würde, was geschrieben ist.“
Besonders konzentriert tritt dieser Ausdruck in der Leidensgeschichte auf. Der Menschensohn muss hinauf nach Jerusalem, „auf dass erfüllt würde“. Jesus sprach: „Mich dürstet“, „auf dass erfüllt würde“.
Die biblische Logik der Erfüllung
Ich habe heute Morgen bereits erwähnt: Das ist die biblische Logik. Unsere Logik, die aus dem Griechentum stammt, lautet: Zwei und zwei ist vier. Das verstehen wir, das können wir nach und nach begreifen.
Das Sterben des Herrn Jesus für unsere Sünden hingegen fällt uns schwer zu verstehen. Die biblische Logik besteht darin, dass das, was angekündigt wurde, auch eingetroffen ist. Was Gott vorhergesagt hat, ist erfüllt worden, zur Fülle gekommen und hundertprozentig eingetreten.
Der bayerische Kirchenpräsident Betzel, ein Mann, der in der Bibel verwurzelt ist, hat einmal ein großes Wort gesagt: Was muss das für ein Aufatmen in der Welt Gottes gewesen sein, bei den prophetischen Boten unseres Herrn, als Jesus ihre Weissagungen erfüllte? Die Weissagungen der Propheten, die so oft ausgelacht und geschmäht wurden, deren Worte nicht beachtet worden waren.
Nun kam der Augenblick, in dem Jesus – so hat Betzel gesagt – „das fleischgewordene Wort Gottes sich in die Buchstaben der Schrift hineingezwungen hat, damit alles erfüllt würde.“ Ein tolles Bild! Jesus hat sich in die Buchstaben dessen hineingezwungen, was angekündigt war, damit alles erfüllt wird.
Das Unverständnis der Jünger und die Erleuchtung durch den Heiligen Geist
Es ist uns aber genauso deutlich aus den Berichten der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes bekannt, dass die Jünger zunächst gar nicht verstanden haben, warum es notwendig sein sollte, dass ein Retter auf die Welt kommt, der ans Kreuz geht und die Sünden der Menschheit trägt.
Gleich zu Beginn des Johannesevangeliums, wo von der Tempelreinigung berichtet wird, heißt es, dass die Jünger dies zuerst nicht verstanden. Erst nachdem Jesus auferstanden war, dachten sie darüber nach, was das für eine Bedeutung hatte. Selbst die Jünger des Herrn Jesus – von ihm ausgesucht, zu Aposteln eingesetzt und drei Jahre lang im Unterricht ihres Herrn – hatten Schwierigkeiten, das zu erfassen. Jesus hatte ihnen gesagt, dass das Weizenkorn in die Erde fallen und sterben müsse, damit es Frucht bringt. Ebenso müsse auch er sterben. Er erklärte, dass es so sein werde wie mit dem Stein, den die Bauleute verworfen haben, der aber zum Eckstein gemacht wird. So würde der neue Bund geschlossen.
Dennoch waren die Jünger wie vernagelt und verstanden es erst nach und nach. Meine liebe Frau, die meine beste Kritikerin ist, sagt immer, ich spreche viel zu schnell und überstürme die Leute. Sie kann es dann nicht verstehen und kommt nicht mit. Dann sage ich ihr, sie solle abwarten – vielleicht erschließt ihr der Heilige Geist, was ich nicht deutlich machen kann.
Wir dürfen also auch geduldig sein, wenn die Jünger Zeit brauchten, bis ihnen innerlich vom Geist Gottes erschlossen wurde, was Jesus meinte. Petrus sagt später: „Gott gebe euch erleuchtete Augen des Herzens.“ Genau das brauchen wir, um zu verstehen, was uns an Geistlichem mitgeteilt wird.
Persönliche Erfahrungen mit dem Wirken des Heiligen Geistes
In Ulm hatte ich ein Gemeindeglied, eine ältere baltische Dame. Sie hatte ihren Mann verloren, der von den Bolschewisten erschossen wurde. Sie waren gerade vier Wochen verheiratet gewesen. Diese Frau war fest im Glauben verwurzelt und konnte im Gottesdienst im Ulmer Münster manchmal während der Predigt laut sagen: „Aha, das war wie ein Peitschenknall.“
So etwas kann der Heilige Geist bei uns bewirken. „Aha, so gehört das zusammen.“ Solche Erlebnisse können auch nachts nach einer Bibelarbeit oder nach unserem Bibellesen auftreten, wenn uns plötzlich etwas klar wird.
Von einem solchen Erlebnis hören wir heute bei Matthäus. Zuerst hat er gesehen: „Aha, da hat Jesus sich um die vielen Kranken gekümmert, die von bösen Geistern besessen waren.“ Jesus hat hier das Wort wahr gemacht, dass er unsere Schwachheiten getragen und unsere Krankheiten auf sich genommen hat.
Jesu Mitgefühl und das Tragen der Lasten der Menschen
Ich möchte darauf hinweisen, wie oft bei den Heilungen erwähnt wird, dass Jesus im Geist seufzte.
Da wurde ein verschlossener Mensch, der blind und stumm war, zu Jesus gebracht. Bevor Jesus sagte: „He, Vater, tu dich auf“, heißt es, dass Jesus im Geist seufzte. Er hat unter der Krankheit gelitten.
Es ist schon sehr viel, wenn wir bei unseren Ärzten und Krankenschwestern, wenn wir einmal krank sind, ein echtes Mitleiden spüren und nicht nur eine geschäftsmäßige Erledigung. Ich erinnere mich noch gut an eine Zeit vor dreieinhalb Jahren, um die Weihnachtszeit herum, als ich eine sehr intensive Bestrahlungsserie hinter mich bringen musste. Eine der Krankenschwestern kam zu mir, weinte rettungslos und sagte, sie könne es nicht mitansehen, wie schwer krank ich sei. So ein Mitgefühl hat mir sehr gutgetan.
Das Evangelium berichtet, dass Jesus nicht einfach nur das Wort sprach: „Sei gesund, Herr Vater“, sondern dass er seufzte. Er hat darunter gelitten und die Lasten auf sich genommen.
Als Jesus das Volk sah, heißt es in Matthäus 9, dass es ihn jammerte, denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie Schafe ohne Hirten. Wenn wir manchmal in unserer Schwäche denken, niemand versteht mich und was mich umtreibt, macht uns das Evangelium deutlich: Jesus versteht uns. Es jammert ihn; es geht ihm durch und durch.
Weiter wird berichtet, dass eine große Volksmenge sich um Jesus gedrängt hatte. Sie wollten alle ihn hören und Heilung von ihm erwarten. Eine Frau, die achtzehn Jahre lang vergeblich Heilung bei Ärzten gesucht hatte, berührte sein Gewand, weil sie hoffte, dass eine Kraft von Jesus ausgehen könnte und ihr helfen würde.
Jesus fragte: „Wer hat mich berührt?“ Petrus antwortete: „Herr Jesus, da drängen dich alle, die haben ja alle berührt.“ Doch Jesus sagte: „Nein, nein, da hat mich jemand berührt; eine Kraft ist von mir ausgegangen.“
Jesus heilte nicht einfach nur schnell und oberflächlich. Ich erinnere mich an Tommy Hicks, einen Heilungsprediger aus Amerika, der einmal sagte, der Platz vor dem Podium in der Ulmerhalle sei wie der Teich Bethesda, und jeder, der dort durchgehe, sei geheilt. So hat Jesus nicht geheilt. Er seufzte mit jedem Einzelnen.
Fragen nach Heilung und das Tragen der Schwachheit
Wir fragen manchmal: Warum heilt er mich nicht? Gott schenkt wunderbare Heilungen und Bewahrungen. Er verschiebt die Krankheit oder hilft durch die Krankheitszeit hindurch.
Doch wir leiden auch unter denen, die sich auf dem letzten Weg befinden und große Schwachheit erfahren. Zinzendorf hat einmal zu den Schönen im Gesangbuch die Zeile gesagt: „In den ersten Gnadentagen wird man von dem Lamm getragen.“ Wieder wird dieses Verb verwendet.
So hilft Jesus uns oft, in den Glauben hineinzukommen, indem er uns Bewahrungen schenkt. Heute Mittag hat der liebe Bruder, der neben mir saß, erzählt, was er im Krieg erlebt hat: Engel seien erschienen, die ihn und seine Kompanie aus der Umklammerung befreit, vor der Gefangenschaft bewahrt und seinen Weg geebnet haben.
In den ersten Gnadentagen darf man sehr viele Wunder erleben. Das führt dann so weit, dass manche fragen: Warum nicht dauernd? Die erste Stufe ist, dass das Heil in Jesus uns begegnet und er auch die Last unserer Krankheit und Schwäche trägt.
Gottes Fürsorge und das Tragen der Gläubigen
Es wird wahr, was schon Mose von Gott gesagt bekam: „Ihr habt gesehen, wie ich euch getragen habe, wieder das Werk getragen auf Adelsflügeln und habe euch zu mir gebracht.“
Wie viele merkwürdige, unerklärliche Hilfen hat Gott gegeben, damit wir zu seinem Volk gefunden haben, in den Glauben hineingefunden sind! Wie oft hat er uns berührt mit seiner heilenden Kraft?
Jesaja 46 sagt: „Ich habe euch getragen von Mutterleib an, ja, ich will euch tragen bis ins Alter und bis ihr grau werdet. Ich will heben, tragen und erretten.“ Ebenso steht in 5. Mose 31: „Wie ein Mann seinen Sohn trägt, das ist der Stolz eines Vaters, der seinen Sohn trägt, der nicht mehr kann auf der Wanderung.“ So hat Gott uns oft getragen. Wir wollen es oft gar nicht wahrhaben, wie oft er uns getragen hat.
Die erste Stufe dessen, dass wir die Gnade Gottes spüren, ist, wenn Jesus uns trägt in unserer Schwachheit. Ist Ihnen auch schon einmal aufgegangen, wie oft bei Matthäus, Markus, Lukas und Johannes erzählt wird, dass die Menge Jesus drückte, und er trotzdem kam?
Ich will Ihnen gerade beim Markus-Evangelium, Kapitel 3, ein paar Stellen lesen. Dort ist es ganz gehäuft, und wir lesen oft darüber hinweg, weil es uns vertraut ist:
Markus 3: Jesus entwich mit seinen Jüngern, und es kam eine große Menge zu ihm, die von seinen Taten gehört hatte. Er sagte zu seinen Jüngern, sie sollten ihm ein kleines Boot bereithalten, damit die Menge ihn nicht bedränge. Denn er heilte viele, und alle, die geplagt waren, fielen über ihn her, um ihn anzurühren.
Unsere Schwachheiten erträgt auch die Schwachheit seiner Jünger. Kennen Sie das schöne, aber auch schreckliche Wort, das Jesus zu seinen Jüngern gesagt hat? „Wie lange muss ich euch ertragen?“ Vielleicht sagt er es auch über uns so: Wie lange muss ich euch in eurem Kleinglauben ertragen, wo euch so viel anderes wichtiger ist? Wie lange ist das Ertragen des Herrn Jesus, wenn er trotzdem seine Hand nicht abzieht?
Dann folgen zwei Geschichten, ebenfalls in Kapitel 3: Jesus ging in ein Haus, und es kam so viel Volk zusammen, dass sie nicht einmal essen konnten. Als seine Angehörigen das hörten, machten sie sich auf und wollten ihn festhalten. Sie sagten: „Er ist von Sinnen, er spinnt. Der hat ja gar keine Zeit mehr zum Essen.“ So hat Jesus die Schwachheiten der Menschen getragen.
Achten Sie einmal darauf, wie oft in den Evangelienberichte geschildert wird, dass die Menschen und die Menge zusammenkamen. Beim Gichtbrüchigen zum Beispiel war es so voll, dass er ihn nicht durch die Tür zu Jesus bringen konnte, sondern nur durchs Dach. Solche Szenen werden immer wieder beschrieben.
Wenn Jesus predigte, musste er oft ins Boot steigen, um vom Wasser aus zu sprechen. Er hat die Menge ertragen. Selbst wenn er in die Stille gehen wollte, um zu seinem Vater zu beten, sind sie ihm in die Wüste nachgewandert. Sie wollten bei ihm sein, und er hat es ertragen.
So erfüllte sich, was beim Propheten geschrieben steht: „Er hat unsere Schwachheiten auf sich genommen, unsere Krankheiten getragen.“
Das ist die erste Stufe: In den ersten Gnadentagen wird man von dem Lamm getragen.
Zweifel und die zweite Stufe der Erfüllung
Aber dann kommt die merkwürdige Geschichte, an der Sie vielleicht auch schon gescheitert sind. In Matthäus 11 wird berichtet, dass Johannes der Täufer im Gefängnis von den Werken des Herrn Jesus hörte: dass er Kranke heilte, Aussätzige reinmachte und Blinden wieder das Sehen gab.
Als Johannes von den Werken Jesu hörte, sandte er zwei seiner Jünger zu Jesus und ließ ihn fragen: Bist du der, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? Diese Frage wird meist so ausgelegt, besonders in guter evangelischer Tradition, dass jetzt selbst Johannes der Täufer gezweifelt habe.
Ich glaube das einfach nicht, sagt Jesus später. Ihr seid zu Johannes gegangen und habt ihn für einen Propheten angesehen. Ja, er war ein Prophet, mehr als ein Prophet. Es gibt kein Wort der Kritik an Johannes dem Täufer von Jesus, kein Bedauern darüber, dass er am Schluss noch ein bisschen gezweifelt hat.
Johannes der Täufer war doch der, der gesagt hat: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ Und gleich ein paar Verse weiter in Johannes wird er als das Lamm beschrieben, das von Gott bestimmt ist – ganz wie in Jesaja 53, wo von einem Lamm die Rede ist, das zur Schlachtbank geführt wird. Fürwahr, er hat unsere Sünde getragen.
Oft wird gesagt, als Johannes im Gefängnis hörte, habe er darauf gewartet, dass er selbst befreit wird. Nein, er fragte: Wann ist es endlich so weit? Du gibst dich ab mit Heilungen, mit Gesundmachen und Blinden das Gesicht zu geben. Aber das Entscheidende fehlt doch noch.
Was hilft es, wenn jemand sehen kann oder keine Schmerzen mehr hat, aber ein Sünder bleibt und dem ewigen Tod entgegengeht? Jesus, was ist denn los? Ich habe dich angekündigt als das Lamm, das der Welt Sünde trägt, und du gibst dich ab mit Heilungen. So verstehe ich diesen Bericht.
Die zweite Stufe ist plötzlich in Gang gekommen. Die erste Stufe der Erfüllung war, dass Jesus unsere Lasten getragen hat – mit den Heilungen und den Hilfen, die er gab. Die zweite Stufe ist, dass Jesus zielstrebig den Weg ins Leiden ging.
In Johannes 17 – ich überschütte Sie mit der Fülle von Bibelstellen, aber wir müssen oft die Bibel so miteinander lesen, dass die Stellen zueinanderfinden – sagt Jesus: „Vater, die Stunde ist da, dass sich der Sohn verherrlicht. Ich habe das Werk, das du mir anvertraut hast, getan.“
Das Werk, von dem auch Jesus dem Johannes ausrichten ließ: Blinde sehen, Lahme gehen, Tote stehen auf – habe ich abgeschlossen. Jetzt wurde die große Sprechstunde des Herrn Jesus abgeschlossen. Jetzt kam die zweite Stufe der Erfüllung des Wortes: „Er hat unsere Schwachheit getragen.“
Dankbarkeit trotz Krankheit und Schwachheit
Und wenn Sie je darunter leiden, unter Ihrer Schwachheit und Krankheit, unter den Schmerzen und natürlich wieder die Frage aufkommt: Warum nimmt mein Heiland die Last nicht von mir? Er könnte es doch.
Dann werden Sie zuerst einmal dankbar, dass es auch für Sie gilt: Jesus nimmt die Sünder an. Mich hat er auch angenommen, mir den Himmel aufgetan, damit ich ewig zu ihm komme und auf den Trost sterben kann. Jesus nimmt die Sünder an. Das hat Jesus in Erfüllung gebracht. Das andere war eine Vorstufe, um aufmerksam zu machen: Ich bin der Retter, der von Gott gekommen ist.
Und dann hat Jesus begonnen, in seiner großen Sprechstunde die eigentliche Krankheit zu heilen. Die eigentliche Not von uns allen ist der Eliphas von Themann. Wir haben es neulich erst in der täglichen Bibellese gelesen, dieser Freund von Hiob. Jeder hat ausgerufen: Wie kann ein Mensch gerecht sein vor dem, der ihn geschaffen hat? Eine große Erkenntnis.
Wir können unheimlich viel Gutes tun, unsagbar viel Hilfreiches. Als ich als junger Theologe gesagt habe, unser Leben ist voll von Sünde, wir können nichts Gutes tun, hat mein Vater, der im öffentlichen Leben stand – auch als Abgeordneter im Schulwesen – gesagt: Junge, man kann unendlich viel Gutes tun. Wir dürfen nie so sein, dass man gar nichts tun kann, sondern sehr viel Gutes tun.
Aber selbst wenn wir sehr viel Gutes tun, werden wir erfahren, was am Schluss des Jesajabuchs steht: Unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Gewand. Ich sage es immer etwas drastisch, vielleicht mit einem dummen Beispiel: Wenn ich zur Bibelstunde oder zum Gottesdienst gehen will, dann kann meine Frau, meine treue Frau, sagen: Also Entschuldigung, ich hole mal zuerst die Bürste, so kannst du nicht unter die Leute gehen, du musst zuerst auch einiges bei dir ausbessern. Oder: Du hast einen Fleck auf der Krawatte, so kannst du nicht unter die Leute.
Das heißt, das 99,6 Prozent sauber, perfekt, wunderbar sind, aber es ist ein beflecktes Gewand – ein tolles Bild des Propheten Jesaja: Unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Gewand. Da fehlt immer etwas. Und wenn meine Frau sagt: So kannst du nicht unter die Leute, wie kann ich denn vor Gott treten?
Jesus hat gesagt: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich bemüht haben, vor Gott gerecht zu sein, so viel Gutes als möglich zu tun, dann kommt ihr nicht in den Himmel. Wenn eure Gerechtigkeit nicht noch besser ist als ihre, wie kann sie denn besser werden?
Dadurch, dass Jesus mich überkleidet – so heißt es in der Offenbarung, wo den Heiligen das weiße Gewand gegeben wird –, wird man mit der Gerechtigkeit überkleidet. Paulus sagt: Jesus Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung, von Gott gemacht zur Gerechtigkeit, dort, wo es bei mir fehlt.
Das hat Jesus mit seinem Tod erworben. Ich habe schon in den letzten beiden Tagen immer wieder gesagt: Unser Verstand will es nicht hineinlassen, aber zur Logik der Bibel gehört es, dass es einen Vorgang gibt.
Stellvertretung und das stellvertretende Leiden
Auch diesen Vorgang habe ich bereits erwähnt. Schwester Marianne Wienand war damals noch nicht anwesend, deshalb darf sie nun zuhören. Ich grüße herzlich all die Mitkämpfer in der Synode sowie die Mitleidenden in der Krankheit, die Heilung durch Gott erfahren.
Es geht um den Vorgang, dass Gott in großem Erschrecken sein Volk aus Ägypten geführt hat. Kaum sind sie in der Freiheit, machen sie sich ein goldenes Bild, das sie anbeten – das goldene Kalb. Gott zeigt sich darüber sehr enttäuscht und sagt, mit diesem Volk sei nichts anzufangen. Sie gehen immer den falschen Weg. Lieber Mose, so spricht Gott, will ich dieses Volk ausrotten und mit dir noch einmal neu anfangen. So wie ich mit Abraham begonnen habe, beginne ich mit dir neu. Du bist das neue Volk.
Mose antwortet: Nein, lieber Gott, du darfst dein Volk, das du befreit hast, nicht vernichten. Es wäre eine Schande für alle Völker, die das erlebt haben. Das kannst du nicht tun. Lieber tilge mich aus dem Buch des Lebens und lass die anderen frei. Mose stellt sich stellvertretend für das Volk hin, als Gottgesandter und Gottbegnadeter. In 2. Mose 32 ist das beschrieben. Er tritt als Bürge ein und wirft sich in die Bresche, wie es in den Psalmen heißt.
Gott aber sagt: Nein, ich will die Sünde heimsuchen, wenn meine Zeit gekommen ist. Dann wird der Bogen gespannt auf den Augenblick am Hügel Golgatha, damit einer für die Vielen stirbt. Nach menschlicher Logik ist das nicht zu begreifen, aber nach Gottes Plan. Mose hat gesagt, es wird noch einmal ein Prophet kommen wie ich. Auf ihn sollt ihr achten. Einer, der bereit ist, sein Leben für die anderen hinzugeben, damit sie frei sind.
Seitdem ist Jesus Christus, in seiner Kraft, jedem von Ihnen und mir zur Gerechtigkeit gemacht. Lang bevor Zinzendorf die Strophe gedichtet hat: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehen, wenn ich zum Himmelwert eingehe“, gab es in Deutschland diesen Vers. Zinzendorf hat ihn ein wenig verändert: „Christi Sterben und Gerechtigkeit ist mein Ernat.“
Wenn im Bundesverfassungsgericht die Richter ihre Roben anziehen, ihren Ernat und auch nur ihren Kopfschmuck, dann heißt das, jetzt wird ein endgültiges Urteil gesprochen, das nicht mehr angefochten werden kann. So ist auch das Sterben Jesu ein endgültiges Urteil, durch das Sünder gerecht werden können mit diesem Jesus. Er hat unsere Schwachheiten getragen, deshalb ist er in die Welt gekommen.
Die Bedeutung des stellvertretenden Leidens im Gottesdienst
Bei der Abendmahlsfeier, wie sie im alten kirchlichen Sinne in allen großen Kirchen üblich ist, singen wir oft das Lied „All Sünd hast du getragen, sonst müssten wir verzagen, erbarm dich unser, o Jesus“. Dieses wunderbare Verb „Er hat's getragen“ steht dabei im Mittelpunkt.
Bei einer der großen Kirchenkonferenzen in Nairobi 1975, bei der viele Nichtigkeiten verhandelt wurden, habe ich mich von den engen Delegiertenplätzen auf die Empore der Journalisten geflüchtet. Die meisten Journalisten hatten die Empore bereits verlassen, da sie die Resolutionen schon schriftlich erhalten hatten und nicht mehr anwesend sein mussten.
Vor mir saß Eberhard Stammler, einer der großen evangelischen Journalisten, der theologisch eine andere Position vertrat als ich. Während die Schlusserklärungen verlesen wurden, beugte er sich zu mir und sagte: „Chefbuch, warum musste für all das eigentlich Jesus sterben? Dafür wäre es doch gar nicht nötig gewesen. Dass Jesus in die Welt kam, um normal zu denken, dass kein Krieg mehr sein soll, dass wir die Umweltverschmutzung beheben – das kann jeder vernünftige Mensch selbst regeln. Wozu haben wir überhaupt noch Jesus? Warum musste Jesus sterben?“
Die einzige Antwort darauf ist: „Geh hin, mein Kind, und nimm dich der Sünder an, denen Gerechtigkeit fehlt. Werde du ihre Gerechtigkeit, werde du der Bürge!“
Liebe Schwestern und Brüder, das ist die eigentliche Weihnachtsfreude. Wenn das alles aufwacht – seit einigen Jahren weiß ich nicht, wie das im Alter ist –, dann wird bis in die Träume hinein, bis in schlaflose Stunden der Nacht, eine Fülle von Versäumnissen bewusst, die man vorher weggedrängt hat.
Wenn man dann nur sagen kann: „All Sünd hast du getragen, jetzt, lieber Heiland Jesus, lass es auch für mich gelten und für die vielen Pannen meines Lebens. Überkleide du mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit!“
Die bleibende Bedeutung Jesu und der Trost des Glaubens
Lassen Sie diese große Freude auch in diesen weihnachtlichen Tagen lebendig sein. Ich werde sie mitnehmen nach Korntal, auch zu den Diensten, die ich dort tun will. Mein Jesus ist nicht nur für ein paar stimmungsvolle Augenblicke da.
Herr Paulus sagt im Galaterbrief, der uns errettet hat von dieser gegenwärtigen argen Welt, gleich am Anfang: Dieser Brief hat uns nicht nur gezeigt, dass die Welt schlimm zugeht, sondern hat uns auch errettet von der gegenwärtigen argen Welt, damit wir heimkommen können zu ihm.
Lieber Heiland Jesus Christus, du unser großer König und Erbarmer, vielen Dank, dass du den Plan des Vaters erfüllt hast. Du bist Mensch geworden und Bürger geworden für uns, bist in die Bresche getreten. Du hast dein Leben gegeben, damit Sühne geschehen ist für uns, die wir es selbst nicht hätten schaffen können.
Wir dürfen uns jetzt darauf berufen: Du bist zu uns gekommen, wir sind die Adressaten, und uns gilt es. Hilf uns, dass wir es bewusst und dankbar annehmen können. Du bist unser Heil jetzt und erst recht dann, wenn wir dich einmal schauen werden in deiner himmlischen Herrlichkeit. Amen.
