
Dieses Stück könnte gar nicht besser passen: „Ich rufe zu dir, Herr Jesu Christ.“ Genau das werden wir jetzt im nächsten Fallbeispiel erleben. „Ich rufe zu dir, Herr Jesu Christ“ – das wäre eine gute Überschrift dazu. Man könnte es auch „Barrierefreiheit für Blinde“ nennen.
Wir kommen jetzt nämlich zu Bartimäus. Vom Establishment begeben wir uns unter die Armutsgrenze. Vom Juppi kommen wir zum Bettler, denn Gott will alle. Wir bleiben allerdings auf der Straße, was interessant ist.
Von Osten kommend zieht Jesus nun mit seinem Tross weiter. Es ist jetzt ein bisschen hell, aber mit viel Fantasie können Sie es vielleicht erkennen. Rechts sieht man Jericho, im Norden des Toten Meeres gelegen. Nun geht es hinauf nach Jerusalem, circa sechs Stunden Fußweg. Das ist keine erholsame Wanderung auf abgeschiedenen Feldwegen. Zu der Zeit waren die wichtigen Verkehrswege von Pilgergruppen geflutet, die zum Passafest nach Jerusalem unterwegs waren. Das ist jetzt diese Zeit.
Man fragt sich, ob die Jünger überhaupt noch Augen hatten für das Flair, für den Glanz von Jericho. Die Stadt hat durch die Jahrhunderte hindurch eine ganz bewegte Geschichte hinter sich gebracht. Sie schmückte sich mit dem inoffiziellen Titel „Palmenstadt“. Einige Palmen können Sie auf den Bildern noch erahnen. Man genoss dort das Klima einer subtropischen Oase, was wiederum gut für die Landwirtschaft war. Bananen, Datteln, Gewürze und herrliche Blüten gab es dort alles.
Josephus, der große jüdische Historiker des ersten Jahrhunderts, schreibt in seinem Werk „Jüdischer Krieg“ über Jericho: Man würde nicht fehlgehen, wenn man diesen Ort, an dem die seltensten und schönsten Pflanzen so reichlich wachsen, als göttlich bezeichnete. Damit bekommen Sie einen Eindruck von dem Ort.
Zugleich war Jericho ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort. Man profitierte von der strategischen Lage. Viele reiche Kaufleute kamen vorbei, die in dieser Stadt ihre Geschäfte trieben. Es gab gute Straßenverbindungen in alle Himmelsrichtungen. Jericho hatte eine wohlhabende Oberschicht, soweit wir wissen. Die Stadt lag am Westufer des Jordans, nördlich des Toten Meeres – so könnten Sie sich das vorstellen. Heute ist es ein palästinensisches Autonomiegebiet.
Schon das alte Volk Israel hatte hier in Jericho ein großes Wunder erlebt, als die Mauern einstürzten. Joshua hatte damals davor gewarnt, die Stadt wieder aufzubauen. So gab es eine sehr wechselvolle Geschichte. Im ersten Jahrhundert vor Christus soll Marcus Antonius Jericho seiner Kleopatra zum Geschenk gemacht haben. Das ist nun mal ein schönes Geschenk zum Hochzeitstag – so eine kleine Stadt.
Später errichtete Herodes der Große hier seine Sommerresidenz. Er wusste auch, wo es schön war. In der Nähe von Jericho wurde übrigens Augenmedizin hergestellt, mit der Flüssigkeit einer sogenannten Balsampflanze. Das ist für Ophthalmologen interessant und mag manche Blinde angezogen haben.
Aber wie viele Hoffnungen waren hier schon gestorben? Wenn die Hoffnung starb und die Salbe nicht half, was blieb dann? Es blieb nur noch das Betteln für den Lebensunterhalt.
Das war in diesen Tagen vor dem Passafest allerdings ziemlich attraktiv, weil nicht nur Geschäftsleute vorbeikamen, sondern auch Pilger – und zwar in großen Mengen. Diese waren eher in der Stimmung, etwas mehr zu spenden, darf man annehmen. So wird so manche Münze in den Sammelbüchsen der Bettler und Kranken gelandet sein, die das Glück hatten, sich einen Stammplatz vorne an der Durchgangsstraße zu sichern.
Von hier aus waren es zu Fuß gut dreißig bis fünfunddreißig Kilometer. Wer diese Strecke bewältigte, war in der goldenen Stadt. Dort sah man den Tempel, konnte mitfeiern und mitbeten.
Auf dieser Straße von Jericho nach Jerusalem spielt übrigens auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Der Aufstieg von Jericho nach Jerusalem war ziemlich steil. Das sollten wir wissen, denn Jericho gehört zu den weltweit am tiefsten gelegenen Städten – etwa 260 Meter unter dem Meeresspiegel. Das ist das Setting, die Szenerie. Mittendrin sind Jesus und seine Jünger, für die es jetzt in die entscheidende Woche geht, an deren Freitag die Kreuzigung stattfinden wird. Das müssen wir immer im Hinterkopf behalten.
In den nächsten Tagen wird sich mit brutaler Konsequenz erfüllen, worauf Jesus seine Jünger über Monate hinweg vorbereitet hatte. Die letzte der drei Leidensankündigungen finden wir unmittelbar vorher im 18. Kapitel. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, es geht wirklich in die finale Runde.
Kurz davor gibt es noch diese letzte kurze Atempause in Jericho. Hier wird unser Herr zwei beglückende Begegnungen haben. Die eine mit Zachäus, die wir uns morgen genau ansehen werden, und heute noch die andere mit Bartimäus. Wahrscheinlich, so legt Lukas nahe, ist es auch wirklich in der Reihenfolge erfolgt, dass Jesus zuerst dem Bartimäus begegnet ist und dann Zachäus.
Wir sind wirklich in der glücklichen Lage, dass uns die Evangelisten diese kostbaren Momente sehr lebendig berichten. Als Jesus mit seinem Tross, umgeben von der Menschenmenge, ausgerechnet an der Stelle vorbeikommt, an der dieser Blinde Tag für Tag um Almosen bittet.
Und zunächst müssen wir klären, wie die Geschichte beginnt. In Lukas 18,35 heißt es: Es begab sich aber, als Jesus in die Nähe von Jericho kam, saß ein Blinder am Weg und bettelte. Aus Markus 10,46 erfahren wir seinen Namen: Bar-Timäus, Sohn des Timäus.
Jetzt gilt es, Folgendes zu klären: In Lukas steht, Jesus kam in die Nähe von Jericho. In Markus 10 heißt es jedoch, er zog von Jericho aus. Kommt Jesus also nach Jericho hinein oder verlässt er die Stadt? Wie ist das zu verstehen?
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass viele Fragen nur beantwortet werden können, wenn wir die vollständigen Informationen aller Evangelien betrachten. Dazu müssen wir wissen: Es gab in Jericho eine Altstadt und eine Neustadt.
Das kann man auf diesen Bildern erahnen: Im Vordergrund die Altstadt, im Hintergrund die Neustadt. Hier noch einmal aus einer anderen Perspektive: vorne die Altstadt, hinten die Neustadt. Die Altstadt ist eine ehrwürdige Stadt, von der heute noch Ruinen besichtigt werden können. Die Neustadt wurde wesentlich von Herodes ausgebaut.
Diese Unterscheidung ist wichtig. Offensichtlich bettelte Bartimäus an einer Stelle, an der man vorbeikam, wenn man die Altstadt verließ und auf die Neustadt zusteuerte. Das ist die wahrscheinlichste Erklärung.
Also müsste man Matthäus 20 und Markus 11 so verstehen, dass Jesus die Altstadt Jerichos verließ und in die Neustadt Jerichos hineinging, wie es Lukas 18 beschreibt. Zwischen diesen beiden Stadtteilen saß Bartimäus.
Eine weitere interessante Beobachtung zeigt, wie gut die Evangelien sich ergänzen: Matthäus liefert eine zusätzliche Information. Dort heißt es, dass Bartimäus nicht allein war, sondern noch ein zweiter Blinder bei ihm war.
In Matthäus lesen wir also von zwei Blinden. Offensichtlich war Bartimäus der Wortführer. Deshalb konzentrieren sich Markus und Lukas ganz auf ihn. Diese selektive Darstellung ist historisch legitim.
Vielleicht liegt es auch daran, dass Bartimäus später in den Gemeindekreisen bekannter wurde. Durch die Berichte in Matthäus gewinnen wir das vollständige Bild.
So ist die wahrscheinlichste Erklärung, dass wir beide Stadtteile und alle beteiligten Personen berücksichtigen müssen.
Diese Begegnung zwischen Jesus und Bartimäus an der Straße lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten. Zunächst aus der Sicht von Bartimäus, einem Blinden, der das Licht der Welt erblickt. Dann aus der Perspektive Jesu, wie das Licht der Welt einen Blinden findet.
Wie erlebt ein Blinder das Licht der Welt? Bartimäus, der blind ist, nimmt Jesus als das Licht wahr, das ihm neues Leben schenkt. Für ihn bedeutet diese Begegnung eine tiefgreifende Veränderung, ein Aufbruch ins Helle und Sichtbare.
Andersherum betrachtet: Wie findet das Licht der Welt einen Blinden? Jesus sucht den Blinden, nimmt ihn wahr und ruft ihn zu sich. Er ist aktiv auf der Suche nach denen, die Hilfe brauchen, und bringt ihnen Licht und Heilung.
In beiden Blickwinkeln stellt sich die persönliche Frage: Wie können wir Jesus begegnen? Und wie können wir unseren Zeitgenossen helfen, eine Begegnung mit Jesus zu erleben? Diese Fragen sind zentral für das Verständnis von Evangelisation.
Eine kurze Definition von Evangelisation lautet: Evangelisieren bedeutet, ungläubige Menschen mit Jesus zusammenzubringen. Diese Grobdefinition beschreibt unsere Aufgabe. Es geht darum, Menschen auf ihrem Weg zu Jesus zu begleiten und ihnen den Zugang zum Glauben zu ermöglichen.
Wir müssen Bartimaeus mit Jesus zusammenbringen. Beginnen wir zunächst mit der Perspektive von Bartimaeus. Es ist ganz offensichtlich, dass Bartimaeus bereits vorher von Jesus gehört hatte – von seiner Macht und seinen Wundern. Die Evangelien zeigen, dass Jesus ständig in der Öffentlichkeit wirkte. Es gab zum Teil Massenheilungen, und diese Nachrichten verbreiteten sich in ganz Israel.
Wir müssen folgendes sehen: Unser Text hier beschreibt die letzte spektakuläre Heilung im Dienst Jesu. Bartimaeus ist der letzte, von dem wir erfahren, dass Jesus ihn heilt, bevor sein irdischer Dienst endet.
Ich lese nun den gesamten Text noch einmal vor:
Als der Bettler, also Bartimaeus, die Menge hörte, die vorbeiging, fragte er nach, was das sei. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Er rief: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Die Leute, die vorne gingen, fuhren ihn an und verlangten, er solle schweigen. Doch er schrie noch viel lauter: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er näherkam, fragte Jesus ihn: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Er antwortete: „Herr, dass ich sehen kann.“ Jesus sprach zu ihm: „Sei sehend, dein Glaube hat dich gerettet!“ Und sogleich wurde er sehend, folgte Jesus nach und pries Gott. Alles Volk, das es sah, lobte Gott.
Wir erinnern uns daran, dass Jesu Wundertätigkeit, die hier ihren Höhepunkt erreicht, im Norden begann – in Nazareth und Kana. Das Abschlusswunder findet im Süden statt. So schließt sich gewissermaßen ein Rahmen um seinen Heilungsdienst. Das ganze Land ist von der Wundertätigkeit Jesu umfasst.
Drei Jahre lang hatte Jesus das Land erfüllt mit seiner Botschaft und seinen Wundern. Überlegen wir, in wie vielen Städten und selbst Dörfern die Menschen über seine Macht gestaunt hatten. Sie waren erschüttert von seinem Erbarmen und der vielen Evidenz. So viele offensichtliche Beweise seiner Macht konnten nicht einmal die härtesten Gegner leugnen. Sie versuchten, die Wunder umzudeuten oder zu verdächtigen. Trotzdem weigerten sich die meisten hartnäckig, den einzig logischen Schluss aus diesen Fakten zu ziehen: nämlich dass Jesus wirklich Gottes Sohn ist, dass er Gott selbst ist.
So viele Wunder – nicht nur Heilungen, sondern auch die Brotvermehrung, die Tausende miterlebt hatten, die Totenauferweckungen, wie die der Tochter des Jairus oder des Sohnes der Witwe aus Nain, die Stillung des Sturmes, Jesu Macht über Dämonen, über den Tod und über die Natur. Diese Evidenz konnte man nicht steigern oder überbieten.
Und das meiste davon geschah nicht in irgendwelchen religiösen Zirkeln oder Hinterzimmern, nicht bei obskuren Sonderveranstaltungen. Jesus wirkte mitten in der Realität, mitten in dieser Welt der Tische und Bänke, unter strengster Beobachtung der Öffentlichkeit. Deshalb muss Bartimaeus davon gehört haben.
Ganz sicher hatte er auch von der Auferweckung des Lazarus gehört, von der Johannes 11 berichtet. Das lag noch gar nicht so lange zurück und geschah nur wenige Kilometer von seinem Bettelplatz entfernt. Wenn man von Jericho nach Jerusalem läuft und sich dem Ölberg nähert, gibt es kurz vor Jerusalem eine Abzweigung nach Bethanien. Dort, auf dem Friedhof von Bethanien, war es geschehen. Es dürfte keinen Tag gedauert haben, bis sich diese Sensation auch an der Durchgangsstraße von Jericho herumgesprochen hatte.
Alles lag also ganz eng beieinander. Vieles hatte Bartimaeus gehört und viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Deshalb ist es ganz klar, dass ihn diese Nachricht elektrisierte, dass sie ihn wie ein Blitzschlag traf, als er plötzlich mitbekam, dass Jesus im Anmarsch war – Jesus immer noch auf dem Gipfel seiner Popularität. Was würde Jesus in Jerusalem tun? Wie würden die Pharisäer reagieren? Würde es jetzt zum großen Zusammenprall kommen? Jesus ante portas – Jesus vor den Toren Jerusalems.
Bartimaeus hat ein Problem: Er kann, anders als Zachäus morgen, nicht Ausschau halten. Deshalb auch unser Titel: „Barrierefreiheit für Blinde“. Wie kommt er da ran? Wir haben einen Glaubensbruder in unserer Gemeinde, der selbst blind ist und sich sehr dafür engagiert, seiner Community vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, auch an christliche Sendungen heranzukommen. Er ist ein treuer Streiter für Barrierefreiheit für Blinde.
Bartimaeus ist auf sein Gehör angewiesen. Er ist darauf angewiesen, dass die Leute in seiner Nähe ihm einen Tipp geben. Und genau das passiert in Vers 36: Als er die Menge hörte, die vorüberging – ja, da war immer Betrieb, Pilgergruppen –, forschte er, was das sei. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber.
Und dann ist es so weit, Vers 38: Er rief: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Bartimaeus hat nur eine einzige Chance, auf sich aufmerksam zu machen: nämlich zu schreien. Deshalb passte das Bach-Bousoni-Stück auch so schön – es drückt das Schreien aus.
Ich erinnere mich, dass in den Achtzigerjahren Bundeskanzler Helmut Kohl einen Staatsbesuch in einem sozialistischen Land machte. Im Fernsehen zeigte man eine Szene, in der viele Menschen dicht gedrängt hinter Absperrungen standen. Plötzlich hörte man jemanden rufen: „Herr Kanzler, helfen Sie mir!“ Die Polizei oder Wachleute versuchten, ihn abzudrängen. Doch Helmut Kohl bekam das mit, machte sich sofort frei, ging zu dem Zaun und sagte: „Lassen Sie, lassen Sie, kommen Sie mal her!“ So ähnlich war die Situation von Bartimaeus.
Er darf diesen Moment nicht verpassen, in dem Jesus vorbeigeht. Er hat nur dieses kleine Zeitfenster. Auffällig sind die Worte, mit denen er nach Jesus ruft: „Jesus, du Sohn Davids!“ Das war die Bezeichnung für den Messias. Dieser Titel wurde ausführlich im Alten Testament angekündigt.
Der Nachkomme aus der Dynastie Davids ist groß ausgeführt in 2. Samuel 7. Das war der bekannteste Messias-Titel: der Sohn Davids. Das sehen wir auch an den Stammbäumen Jesu in Matthäus 1 und Lukas 3. So wurde Maria angekündigt: Gott wird ihm den Thron seines Vaters David geben.
Über diesen Davids Sohn, den Messias, hatten die Propheten Folgendes angekündigt: Jesaja 35, Vers 5 sagt: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet.“ In Jesaja 42 wird über den Gottesknecht gesprochen – ein anderer Titel für den Messias. Dort heißt es: „Ich, der Herr, habe dich gerufen“ (Jesaja 42,6-7). „Ich halte dich bei der Hand und mache dich zum Bund für das Volk und zum Licht der Heiden, damit du die Augen der Blinden öffnest und die Gefangenen aus dem Gefängnis führst, die da sitzen in der Finsternis und im Kerker.“
Als Jesus in der Synagoge von Nazareth predigte, kombinierte er diese Stellen mit Jesaja 61. Bei dieser Gelegenheit sagte Jesus in Lukas 4, Vers 18: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, das Evangelium den Armen zu verkündigen. Er hat mich gesandt, den Gefangenen Freiheit zu bringen, den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen frei und ledig zu machen und das Gnadenjahr des Herrn zu verkündigen.“
Das lag alles im Hintergrund. Bartimaeus glaubt daran. Nach allem, was er mitbekommen hat, glaubt Bartimaeus, dass Jesus wirklich der Messias ist – der Helfer und Retter, so wie er es bisher verstanden hat.
Deshalb nimmt dieser Blinde alle Kraft, die ihm geblieben ist, alle Hoffnung, die er noch hat, und wirft sie auf Jesus. Worum bittet er? Um Erbarmen. Deshalb werden wir morgen im Gottesdienst in der Liturgie wieder singen: Kyrie eleison – Herr, erbarme dich! Wir stimmen ein in diesen Ruf nach dem Erbarmen des Kyrios, des Messias.
Und was passiert? Es kommt, wie es kommen muss. Alle, die vorne angingen, schreibt Lukas ganz knapp und nüchtern, fuhren ihn an (Vers 39). Die, die vorne angingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Sie wollen die Aufmerksamkeit Jesu nicht stören.
Einigen ist es wahrscheinlich peinlich, dass dieser Blinde so laut um Hilfe ruft. Andere wollen Jesus vielleicht keine Bühne geben, ihm keine Chance, seine Macht zu erweisen. Es gab ja diese typische theologische Einordnung: Blindheit ist ein Fluch. Ein Blinder muss ein schlimmer Sünder sein. Es muss eine schlimme Strafe sein, die ihn getroffen hat.
Deshalb fragen die Jünger bei der Heilung des blind Geborenen in Johannes 9: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ (Johannes 9,2). Das war ein besonderes Verdikt, ein Makel, ein Stigma. Am Ende von Johannes 9 sagen die Leute, als sie erschüttert sind, dass Jesus diesen Mann heilt: „Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe“ (Johannes 9,32).
Es gab viele Heilungsberichte über alles Mögliche, aber nicht, dass einem, der blind geboren wurde, die Augen wieder geöffnet wurden. Möglicherweise hat der blinde Bartimäus selbst gedacht, dass er in irgendeiner Weise unter einem Fluch steht. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – ruft er um Erbarmen.
Das ist so schön: Er lässt nicht locker. Sie versuchen, ihn auszubremsen und zum Schweigen zu bringen. Doch dann geht der Bericht bei Lukas weiter: „Die aber vorne angingen, fuhren ihn an. Er aber schrie noch viel mehr: ›Du, Sohn Davids, erbarme dich meiner!‹“ (Lukas 18,39-40). Er hat sich nicht einschüchtern lassen, sondern mit allem, was ihm noch blieb, dagegengehalten.
Was hat er auch zu verlieren? Er setzt alles auf diese eine Karte. Er hat begriffen: Es gibt für meine Not nur eine einzige Hoffnung, und die heißt Jesus – sonst nichts. Er hat keine Optionen. Es gibt nicht mehrere Wege, die nach Rom oder anderswohin führen. Es gibt nur Jesus. Wenn er seine Hilfe nicht bekommt, wird er nie mehr Hilfe erhalten.
Das stand ihm radikal und brutal deutlich vor Augen. Deshalb dieses beharrliche, fast peinliche Insistieren, dieses sich daran Klammern, dieses verzweifelte Nicht-loslassen-Wollen. Das ist seine letzte Chance.
In diesen Momenten sehen wir klar, mit welcher Herzenshaltung Bartimäus Jesus begegnet. Er setzt auf den Einen als den Einzigen. So ist es immer, wenn ein Mensch sich zu Jesus bekehrt. Er sagt nicht: „Du, ich probiere mal mit Jesus.“ Oder: „Ich gebe Jesus eine Chance.“ Das wäre lächerlich.
Er klammert sich an Jesus, setzt auf Jesus, schreit zu Jesus, hofft auf Jesus – auf den Einen als den Einzigen. „Dein Glaube hat dich gerettet.“
Die Frage ist jetzt: Kann man hier noch von Evangelisation sprechen? Ist er nicht schon bekehrt durch das, was er vorher von Jesus gehört hat? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. „Dein Glaube hat dich gerettet.“
Der Begriff „Glaube“ hat im Neuen Testament viele Facetten. Er kann von einem ersten Nachdenken über Jesus bis hin zu einem Scheinglauben oder zu einem echten Herzensglauben reichen. Wenn da steht, „er glaubt ihm“, muss man genau auf den Kontext achten, was gemeint ist.
Und wovon will er gerettet werden? Man kann auch übersetzen: „Dein Glaube hat dir geholfen“, „dein Glaube hat dich gerettet.“ Wovor will er gerettet werden? Nur von seiner äußeren Krankheit oder von mehr?
In wenigen Minuten, denke ich, werden wir die Antwort haben.
Und, liebe Leute, hier stoßen wir wieder auf den Unterschied der evangelistischen Situation bei Jesus und bei uns. Bartimäus befindet sich ebenfalls in diesem Übergangsfeld. Bei uns ist die Sache jedoch viel eindeutiger.
Das liegt daran, dass die Woche, in die Jesus mit seinen Jüngern jetzt hineingeht, für uns längst Geschichte ist. Sie ist abgeschlossen und geschehen. Deshalb sollten wir an dieser Stelle, bevor wir weitermachen, kurz zusammenfassen, was heute zur evangelistischen Botschaft dazugehört. Das müssen Sie wissen.
Sie müssen wissen, was zur evangelistischen Botschaft gehört, damit Sie, wenn Ihnen heute Nacht um drei Uhr ein Eimer kalten Wassers über den Kopf geschüttet wird – ich will hier niemandem irgendwelche Ideen einreden –, auf Knopfdruck sagen können, was das Gerüst der evangelistischen Botschaft ist.
Wir können das ja mal testen. Ich habe das hier in fünf Thesen zusammengefasst. Wenn Sie mein Buch schon haben, können Sie sie auf Seite 223 nachlesen, also in meinem Buch über die Rechtfertigung. Falls Sie das Buch noch nicht haben, müssen Sie es eben kaufen.
Jedenfalls können Sie auf Seite 223 diese fünf Thesen nachlesen, und ich will sie hier kurz entfalten:
Das größte evangelistische Predigtgerüst besteht aus fünf Punkten:
Wir leben vor einem heiligen Gott, dem wir unser Leben verdanken. Er hat es uns geschenkt, und wir schulden ihm Rechenschaft. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Der Mensch ist ein Feind Gottes. Im Urteil dieses Gottes sind wir Feinde. Wir stehen unter seinem Zorn, weil wir mit unserem praktisch gelebten Leben gegen ihn rebellieren.
Aber Gott will uns retten. Deshalb hat er seinen geliebten Sohn Jesus Christus in die Welt geschickt als den Retter. Er ist an das Kreuz gegangen, um dort den Sühnetod für unsere Schuld zu sterben und stellvertretend unsere Strafe auf sich zu nehmen.
Diesen Bereinigungsvorgang hat er endgültig dokumentiert, beglaubigt und vollmächtig abgeschlossen, indem er real von den Toten auferstanden ist. Er ist auferstanden, stärker als Sünde, Tod und Teufel. Er lebt.
Das ist das, was in den nächsten Tagen hier in Jerusalem passieren wird und was zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist.
Aufgrund dieses dritten Punktes, Kreuz und Auferstehung, erfolgt dann der vierte Punkt: der Ruf Gottes an alle Welt.
Dieser Ruf ist ein Ruf zur Umkehr und zum Glauben an Jesus. Bekehre dich, erkenne deine Schuld an, gib Gottes Urteil über dein Leben Recht und stürze dich mit deiner ganzen Verzweiflung und Schuld auf den Einen, in dem er deine Not gelöst und deine Schuld getragen hat.
Glaube an den Herrn Jesus Christus, stürze dich auf ihn, hänge dich an ihn und vertraue darauf, dass sein Sühnetod für deine Schuld geschehen ist, damit du nicht auf ewig verdammt werden musst.
Denn, und das ist der fünfte Punkt, es wird einen doppelten Ausgang geben: Himmel oder Hölle. Es gibt keine dritte Möglichkeit. Gerettet oder verloren – das ist das, was dich am Ende erwartet.
Das sind zusammengefasst die fünf Punkte, die das Gerüst der evangelistischen Botschaft ausmachen: heiliger Gott, der Mensch ein Feind Gottes, Gott schickt seinen Retter, Kreuz und Auferstehung, der Ruf Gottes zu Glaube und Umkehr und der doppelte Ausgang Himmel oder Hölle.
Von daher ist für uns die Situation viel klarer. Diese Botschaft haben wir den Menschen nahezubringen, um sie dadurch zu einer Begegnung mit Jesus zu führen.
Es ist nicht in jedem Gespräch möglich, alle diese Punkte zu benennen. Es ist nicht in jeder Situation der Weg dazu frei. Aber es muss unser Ziel sein, dass die Menschen das erfahren. Dass sie wissen: Es gibt den heiligen Gott, vor dem wir als Menschen, als Sünder, als Verlorene stehen.
Doch Gott hat das Entscheidende getan zur Erklärung und Bereinigung dieser Situation. Auf der Basis dessen ruft er jetzt jeden Menschen persönlich zu Bekehrung und Glauben. Und es wird ein doppelter Ausgang geben: Himmel oder Hölle.
Das ist das Grundgerüst der evangelistischen Botschaft.
Wir wissen schon: Vor der Kreuzigung, ja bereits im Alten Testament, konnte Gott Sünden vergeben, weil Jesus einmal die Strafe tragen würde. Die Tieropfer waren das Versprechen.
Alle Vergebung, die im Alten Testament dem zugesprochen wurde, der glaubte, der Gott das glaubte, was Gott bis dahin offenbart hatte, ist endgültig ratifiziert worden durch jenes Ereignis, das diese vorauslaufende Vergebung erst möglich machte – nämlich ratifiziert durch den Sündetod Jesu am Kreuz.
So ist das Wichtigste bei Bartimäus damals und bei allen heutigen Bekehrten: Jeder braucht Jesus. Jeder braucht Jesus ganz persönlich. Jeder braucht Jesus ganz persönlich als meinen Retter von der Sünde und ihren Folgen.
Deshalb ist es noch kein rettender Glaube, zu glauben, dass Jesus am Kreuz für Sünder gestorben ist und auferstanden ist. Das glaubt der Teufel auch, das weiß er auch.
Es kommt darauf an, dass diese Tatsachen, die Gott geschaffen hat, mich persönlich an Jesus wenden und sagen: Bitte, lass das für mich gelten! Das ist rettender Glaube.
Rettender Glaube ist nicht, zu sagen: Ich bestreite nicht, dass Jesus am Kreuz für Sünder gestorben ist. Rettender Glaube ist, dass ich mich persönlich an diesen Jesus wende und ihn von Herzen bitte:
Erbarme dich, Jesus, du Sohn Davids, du wahrer Gott und wahrer Mensch, du Retter, du, der am Kreuz starb und auferstand, erbarme dich über meine Schuld, vergib mir, rette mich! Du sollst mein Herr und Erlöser sein für Zeit und Ewigkeit.
Das ist rettender Glaube.
Dieser rettende Glaube verbindet beides: das Akzeptieren der objektiven Inhalte, der von Gott geschaffenen Wahrheit, und die persönliche Hinwendung zu diesem Herrn, der das für mich getan hat.
Wenn jemand irgendwo auf der Welt gerettet wird, dann geschieht das allein dadurch, dass Jesus sich ihm zuwendet und ihm darauf antwortet.
Und so geschieht es hier.
Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Wissen Sie, dieses Wort, das bei Luther mit „ließ ihn zu sich führen“ übersetzt wird, heißt eigentlich wörtlich: Jesus befahl, ihn zu sich zu führen. Wie wunderbar! Jesus sagt sozusagen: „Jetzt bringt ihn her, ich will mit ihm sprechen.“ Genau so macht es Jesus hier. Er sagt, er will jetzt mit diesem Mann reden, also bringt ihn her. Und er lässt nicht zu, dass sich irgendjemand noch dazwischenwirft.
Wir merken, dass sich plötzlich auch der Umgangston der Umstehenden ändert. Sie können es sich jetzt nicht mehr leisten, ihn einfach abzubürsten. Vielleicht knirschen sie innerlich mit den Zähnen. Gerade eben haben sie noch gesagt: „Halt die Klappe!“ Doch jetzt sagen sie etwas anderes. Die Information haben wir von Markus 10,49: „Sei getrost, er ruft dich.“ Das steht hier nicht bei Lukas, aber bei Markus. Jetzt ist die Situation schon verändert, weil Jesus ein Wort gesprochen hat.
In dem Moment geschieht noch etwas scheinbar Nebensächliches, das ebenfalls von Markus berichtet wird. Interessant! In dem Moment, in dem Jesus den Blinden ruft, heißt es in Markus 10,50: „Er rief ihn her, und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: ‚Sei getrost, steh auf, er ruft dich!‘“ Da warf der Blinde seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.
Verstehen Sie das? Sie müssen wissen, was dieser Mantel für Bartimäus bedeutete. Dieser Mantel war unheimlich wertvoll. Der Mann besaß nicht viel Vermögen, und diesen Mantel brauchte er, wenn es mal kühler wurde. Doch er weiß nicht, ob er in diesem Chaos – er kann ja nicht sehen – diesen Mantel, den er jetzt von sich wirft, jemals wiederbekommt. Das ist völlig unklar.
Jetzt fragen wir uns: Warum reißt er sich den Mantel vom Leibe? Im Griechischen steht wörtlich „apoballo“ – er warf ihn weg. Warum? Weil dieser Mantel ihn in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätte, schnell zu Jesus zu kommen. Ist das nicht krass? Er sagt sich wohl: „Bevor ich diese einmalige Chance verpasse – und das geschieht ja in Sekunden – weg mit dem Mantel, hin zu Jesus!“
Ich möchte Sie fragen: Welchen Mantel müssen Sie möglicherweise wegschmeißen, um endlich auf kürzestem Wege zu Jesus zu kommen? Welchen Mantel müssen Sie wegwerfen? Wenn Sie etwas daran hindert, zu Jesus zu kommen, dann werfen Sie es weg – und zwar mit Schwung. Apoballo! Glaube setzt auf den einen als den einzigen.
Und schauen Sie, wie Jesus jetzt – jetzt sind wir wieder bei Lukas 18 – auf den Mann eingeht. Als er näherkam, fragte er ihn: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ (Lukas 18,40-41). Bartimäus antwortet ganz einfach und direkt mit dem, was ihn unmittelbar bewegt. Er sprach: „Herr, dass ich sehen kann.“
Jesus sagte zu ihm: „Sei sehend, dein Glaube hat dich gerettet.“ Zugleich wurde er sehend und folgte Jesus nach. Er pries Gott, und das ganze Volk sah es und lobte Gott.
Markus beschreibt es noch etwas ausführlicher. Er schreibt in Markus 10,52: „Und er folgte ihm nach auf dem Wege.“ Hier zeigt sich, dass bei Bartimäus viel mehr verändert wurde als nur sein äußerer Gesundheitszustand. Er folgt Jesus nach und bindet sich persönlich an ihn. Bartimäus nimmt Jesus nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern es ist ganz offensichtlich, dass er bei Jesus bleiben will. Von nun an will er mit Jesus mitgehen.
Er folgte ihm nach und pries Gott. Jesus sagt: „Dein Glaube hat dich gerettet.“ Überlegen Sie mal: Wie viele Menschen wurden damals geheilt, aber niemals gerettet? Geheilt zu sein heißt nicht automatisch, gerettet zu sein. Denn viele verachteten das Entscheidende, was Jesus ihnen schenken wollte: seine Vergebung, die persönliche Verbindung zu ihm.
Die Nachfolge Jesu war ihnen egal. Denken Sie an die zehn Aussätzigen in Lukas 17. Einer kam zurück, im Gegensatz zu den neun anderen, die mitgeheilt wurden. Und was sagte Jesus zu diesem einen, der zurückkam? „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Lukas 17,19). Das ist das gleiche Wort, das er auch Bartimäus sagt. Die anderen waren zwar körperlich wiederhergestellt, doch sie haben sich nicht bekehrt.
Liebe Leute, das hat Jesus immer wieder klargestellt: Nicht die äußere Heilung ist das Wichtigste, sondern die innere. Nicht die körperliche Krankheit ist das Schlimmste, sondern die Sünde. Nicht die medizinische Blindheit ist tödlich, sondern die geistliche Blindheit. Nicht unser Körper ist entscheidend – der wird sowieso irgendwann vergehen und dann bekommen wir einen neuen Körper von Gott. Wichtig ist nicht unser Körper, sondern unser Herz.
Ich habe schon manchmal von unserem Freund aus Kalifornien erzählt, Karl Traber, der in einer sogenannten Gated Community lebt. Er ist weit über achtzig und sagt immer wieder: „Mein Koffer ist gepackt, aber hier ist noch unser Platz zurzeit.“ Das ist ein Typ! Vor einiger Zeit erzählte er, wie er in dem Fitnessraum dieser Gated Community einen Chinesen getroffen hatte, der dort regelmäßig trainiert. Karl macht natürlich auch seinen Workout dort.
Karl sagte zu dem Chinesen: „Gut, dass Sie Ihren Körper trainieren, aber wissen Sie, dass dieser Körper einmal von Würmern gefressen wird?“ Hat er wirklich gesagt. Und der Chinese war ganz verwirrt und fragte: „Wie meinen Sie das?“ Darauf antwortete Karl: „Wir brauchen auch ein inneres Workout.“ Der Chinese verabschiedete sich höflich.
Ja, Bartimäus hat viel mehr bekommen als nur das äußere Augenlicht. Das zeigt uns Markus noch durch ein letztes Detail: Er nennt uns den Namen dieses Mannes. Schauen Sie sich die Heilungsberichte aus den Evangelien an – es ist sehr selten, dass ein Name genannt wird. Das ist ein starker Hinweis, und bibeltreue Ausleger sind sich ziemlich einig, dass Bartimäus in der Gemeinde offensichtlich bekannt war, zu der Zeit, als Lukas das schrieb.
Bartimäus war bekannt – man wusste: „Ah, das ist der Bartimäus.“ So hilft uns sein persönlicher Fall bis heute, dass wir an ihm ablesen können, was Hingabe an Jesus bedeutet. Echter Glaube setzt auf den einen als den einzigen.
Und jetzt noch ganz kurz zum Schluss die umgekehrte Perspektive, wie Jesus sich Bartimäus zuwendet. Jesus, Vers 40, blieb stehen. Diesen Satz kann man gar nicht stark genug gewichten, wenn wir uns die Situation noch einmal vor Augen führen.
Ich habe es schon gesagt: Für Jesus geht es jetzt rein in die Höhle des Löwen, und er weiß das. Jesus weiß genau, was in den nächsten Tagen auf ihn zukommen wird. Er hat genug zu tun mit dieser schweren Aufgabe – denken Sie an Gethsemane. Jesus muss sich um seine eigenen Leute kümmern und sie noch weiter vorbereiten. Das war auch schwer genug mit dieser Truppe, das wissen wir doch. Sie waren ihm keine Hilfe in diesen letzten Tagen, sondern im Gegenteil eher eine Last.
Und dann hört Jesus die schreiende Stimme eines ihm völlig unbekannten Mannes. Es wäre so leicht gewesen, in diesem Gewühle und Geschrei einfach weiterzugehen. Aber Jesus blieb stehen und befahl, den zu sich zu führen.
Matthäus liefert uns auch noch das Motiv Jesu. Matthäus sagt in Matthäus 20,34: Es jammerte Jesus. Verstehen Sie, so sieht Jesus den Verlorenen. Es jammerte Jesus, er erbarmte sich.
Der englische Theologe Nelson Darby hat es gut getroffen, was in dem Moment passierte. Darby sagt: „Joshua bat einst die Sonne, am Himmel stillzustehen. Doch hier geschieht Größeres: Hier steht auf Bitten eines blinden Bettlers der Herr der Sonne, des Mondes und des Himmels still.“ Jesus sieht diesen einen, und nur diesen einen, der ihn jetzt braucht, und er lässt nicht locker. Er befiehlt, dass er zu ihm gebracht wird.
So sehen wir, das gilt jetzt auch umgekehrt: Jesus behandelt den einen, als wäre er der einzige. Der eine klammert sich an ihn als den einzigen, und Jesus behandelt ihn, als wäre er der einzige, um den es noch geht. Schon sind den Kritikern die Hände gebunden.
Wenige Stunden später – auch für unsere Bibeltage – wenige Stunden später, also morgen früh um zehn Uhr dreißig und dann noch mal um fünfzehn Uhr, noch mal in derselben Stadt, begegnet uns dann noch so ein armseliger Typ. Wenn wir morgen sehen, Zacchaeus ist nicht blind, aber Zacchaeus ist gebranntmarkt, ausgestoßen, total verachtet. In den Augen der Leute ist er noch erbärmlicher und schlimmer als dieser Blinde. Er klettert auf diesen Maulbeerbaum und guckt sich die Augen aus nach Jesus.
Jesus geht wieder an Pilgermengen vorbei an diesem Baum, und dann steht es auch in Kapitel 19, Vers 5: „Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf.“ Das heißt auch wieder, er bleibt stehen. Er bleibt stehen, weil da dieser fragwürdige Zöllner im Baum sitzt, und behandelt den einen, als wäre er der einzige.
So löst das hier auch die Zunge bei Bartimäus, das haben wir ja gesehen. „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ – „Herr, dass ich sehen kann.“ Matthäus ergänzt noch: „Und Jesus rührte seine Augen an.“ Das hat Jesus auch noch gemacht. Er konnte das ja mit einem Machtwort klären, aber Jesus hat ihm noch diese Zuwendung gegeben. Er hat ihm noch mal die Hand auf die Augen gelegt und gesagt: „Bartimäus, jetzt wirst du sehen können.“ Und das ist kein Zufall.
Diese beiden traurigen Typen, diese Lost Souls – und das waren sie wirklich – das werden die letzten beiden Bekehrten sein, bevor Jesus in die Kreuzigungswoche hineingeht. Und ich denke, das kann uns nicht unbewegt lassen.
Vielleicht will Jesus gerade noch mal sagen: Für solche Leute gehe ich ans Kreuz, um ihre Sünden wegzutragen. Für die Bartimäusse und die Zachäusse. Der eine in den Fesseln seines Geldes, der andere in den Fesseln seiner Krankheit – und beide in den Fesseln ihrer Sünde. Beide nimmt Jesus mit in seine Nachfolge: einen Zollbetrüger und einen Bettelmann. Und beiden sagt er: „Dein Glaube hat dich gerettet.“
Bartimäus wird dabei gewesen sein die ganze Woche hindurch. Er geht ja jetzt mit, das schreibt Lukas ja extra. Er wird mitgebangt haben, als sie Jesus hinrichteten. Er wird mitgejubelt haben, als klar wurde, dass der Tod besiegt ist. Er wird dabei gewesen sein, als Jesus, der Auferstandene, den 500 Gläubigen in Galiläa begegnet ist, wovon Paulus berichtet.
Bartimäus wird offensichtlich ein treues Mitglied der ersten Gemeinde gewesen sein, so dass Lukas dreißig Jahre später ganz selbstverständlich seinen Namen in diesen Bericht reinschreiben kann. Mit jedem weiteren Tag wird Bartimäus mehr begriffen haben: Ich konnte nur deswegen gerettet werden, weil Jesus seit jenen Tagen von Jericho, als ich ihm zum ersten Mal begegnen durfte, den ganzen Weg weitergegangen ist.
Jesus ist nicht in Jericho stehen geblieben. Er ist raufgegangen nach Jerusalem, den ganzen Weg bis nach Jerusalem, bis zum Kreuz und schließlich am dritten Tag wieder heraus aus dem Felsengrab, das ihn nicht festhalten konnte.
Bartimäus konnte das alles miterleben. Die Begegnung mit Jesus hat ihn auf einen völlig neuen Lebensweg gestellt. Von da an waren die Wege von Jesus und Bartimäus nicht mehr zu trennen. Es heißt wörtlich: „Und er folgt ihm nach auf dem Wege.“ Von da an ist er ihm gefolgt bis ans Ende seiner Tage.
So ist es mit jedem von uns gegangen, den Jesus irgendwo am Straßenrand seines Lebens aufgegabelt hat. Jeder von uns ist irgendwo so aufgegabelt worden.
Ich denke an einen jungen Mann in Osnabrück, der mit seiner Familie zu unserem Fahrbezirk gehörte, wo ich in den 90er Jahren Pastor war. Nennen wir ihn Manfred. Er hatte viele seelische Probleme und war wirklich depressiv. Er kam mit seiner Existenz nicht zurecht, und eines Tages warf er sich vor einen Zug.
Ich erinnere mich noch, wie sein Vater weinend ins Pfarramt kam. Er gehörte eigentlich nicht zur Gemeinde, sondern nur nominell, stand aber in den Listen. Er kam weinend ins Pfarramt und hatte jede Hoffnung für seinen Sohn aufgegeben. Er sagte mir: „Es bringt doch sowieso nichts mehr, er hat keine Zukunft.“
Dann fuhren wir zusammen ins Krankenhaus, gingen auf die Intensivstation und erfuhren, dass Manfred wirklich beide Beine verloren hatte. Damit begann eine lange, schwere Zeit. Wir beteten weiter für ihn. Irgendwann konnten wir ihm eine Bibel geben, als er wieder aufnahmefähig wurde.
Jesus schenkte ihm Schritt für Schritt die Kraft, immer mehr aus diesem tiefen Loch herauszukommen. Manfred lernte Jesus kennen, konnte Gott, den Vater, vertrauen und fand schließlich nach vielen Jahren der Leidenszeit einen lebendigen Glauben an Jesus. Auch er war so ein „Lost Soul“.
Manfred begann, anderen in seiner Einrichtung von Jesus zu erzählen. Er las sogar seiner ungläubigen Mutter aus der Bibel vor. Noch vor einiger Zeit sagte er am Telefon zu meiner Frau: „Ich weiß nicht, ob ich so zum Glauben gekommen wäre, wenn ich meine beiden Beine noch hätte.“ Jesus hatte ihn gefunden.
Manfred begegnete demselben Jesus wie Bartimäus. So war es bei jedem von uns, der heute zu Jesus gehört. Wenn du zu Jesus gehörst, kam Jesus irgendwann an dein Leben vorbei. Vielleicht war es ein bestimmter Tag oder eine Entwicklung über Jahre hinweg. Aber du hast begriffen: Ich brauche ihn.
Dann hast du nach ihm geschrien – nicht alle so laut wie Bartimäus. Bei den meisten war das wahrscheinlich viel, viel, viel undramatischer als bei Manfred oder Bartimäus. Aber uns allen war bewusst, dass Jesus der Einzige ist, der uns retten kann.
Wir durften auch erfahren, dass wir uns tagtäglich darauf verlassen können, dass Jesus sich um jeden von uns kümmert. Wir dürfen wissen, dass Jesus für jeden von uns sorgt, als wären wir die Einzigen, für die er zu sorgen hätte. Jesus kümmert sich um den Einzelnen so, als wäre er der Einzige. Und Jesus kümmert sich um dich so, nicht nur um Bartimäus.
Deshalb bin ich so froh, dass uns Matthäus noch von einem zweiten namenlosen Bettler berichtet hat. Dieser saß dort gewissermaßen als Platzhalter für uns. Für diesen hatte Jesus auch noch Zeit, diesen hat er auch gerettet und mitgenommen.
Möglicherweise sitzen heute auch einige hier, die das von sich noch nicht so bezeugen können. Vielleicht denkt der eine oder die andere: „Bei mir ist Jesus noch nicht so vorbeigekommen. Wenn ich damals in Jericho dabei gewesen wäre, das wäre etwas anderes gewesen.“
Aber ich darf Ihnen sagen: Als Bote des Evangeliums weiß ich, dass Jesus immer noch unterwegs ist. Jesus ist immer noch unterwegs und hat versprochen, immer dort vorbeizukommen, wo sein Wort verkündigt wird.
In Lukas 10,16 sagt Jesus zu denen, die sein Wort verkündigen: „Wer euch hört, der hört mich.“ Jesus hat versprochen, dort vorbeizukommen, wo man ihn durch die Verkündigung seines Wortes hören kann.
Das ist die Dienstanweisung für jeden Christen: Du sollst Jesus in deinem Umfeld hörbar machen, damit deine Freunde, Kollegen, Angehörigen und Nachbarn ihm begegnen können. Es kommt darauf an, dass jemand Jesus begegnet. Daran hängt alles.
Alle, die hier sitzen, haben heute die Möglichkeit, dieses Wort zu hören und zu lesen. Jesus kommt heute an deinem Straßenrand vorbei. Wirst du nach ihm schreien oder stumm bleiben? Wirst du dich weiterhin an deinen Mantel klammern oder ihn wegwerfen und schnell zu Jesus kommen?
Herr Jesus, dafür danken wir dir, dass du kommst und versprochen hast, dort zu sein, wo dein Wort verkündigt wird. Du hast versprochen: „Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“ Auch wenn wir dich mit unseren Augen nicht sehen können und unser Vorstellungsvermögen begrenzt ist, wissen wir durch dein Wort, dass du da bist.
Wir danken dir, dass wir zu dir reden dürfen und dass du durch dein Wort zu uns redest. Du hörst jeden, der sich in innerem Druck an dich wendet, dich anruft, um dein Erbarmen bittet, um deine Vergebung, um deinen Schutz oder auch jemanden, der vielleicht schon lange mit dir lebt, um deine Hilfe in einer schweren Situation, durch die er gerade gehen muss.
Danke, dass du da bist, Herr. Wir wollen dich loben, ehren und anbeten und mit unserem Leben dir zur Verfügung stehen, du lieber, guter Herr. Amen. Amen!
Jetzt schauen wir, wie es weitergeht. Wir wollen nun ein Lied singen, das sehr gut passt: „Ich flieh zum Herrn“. Im Grunde genommen hat Bartimäus genau das gemacht – er ist zum Herrn geflohen.
Dieses Lied wollen wir jetzt gemeinsam singen. Während des Liedes wird auch die Kollekte eingesammelt. Es handelt sich dabei um die Bibeltagskollekte zur Begleichung der Kosten.
Greifen Sie bitte schnell in Ihr Portemonnaie, damit Sie sich anschließend ganz auf das Lied konzentrieren können. „Ich flieh zum Herrn“ – es ist wichtig, dass wir dieses Lied jetzt ganz bewusst singen.