Gottesdienst

Konrad Eißler
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Wenn jemand in den Gottesdienst hereingeschneit käme, was kann er erwarten? Was können wir erwarten? Was sollen wir erwarten? Konrad Eißler gibt den Hörern der Stiftskirche in Stuttgart drei Antworten.


Wenn jemand in den Gottesdienst hereingeschneit käme, was kann er erwarten, liebe Gemeinde? Paulus denkt zum einen an einen Ungläubigen, also an einen, der nicht getauft, nicht konfirmiert, nicht kirchlich getraut ist und auch sonst mit der Kirche nichts am Hut hat. Heute befindet er sich mit seinem Kegelclub auf Jahres­ausflug und benützt den ersten Busstopp nicht zum Frühschoppen, sondern zum Frühbummel durch die City. Zufällig kommt er durch die Stiftsstraße und entdeckt, dass diese Kirchentür nicht verschlossen ist. Zögernd kommt er herein und schaut durch die Glastüren. Erst kürzlich hat er von einer Schauspielerin gelesen, die nach 20 Jahren wieder einmal einen Gottesdienst ihrer Heimatstadt besucht hat und dann bemerkte: “Ich habe mir die Gesichter der Leute angeschaut und gedacht: Denen möchte ich nicht in die Hände fallen.” Der Ausflügler kann diesen Eindruck nicht bestätigen und setzt sich für eine Viertelstunde in die letzte Stuhlreihe.

Wenn jemand in den Gottesdienst hereingeschneit käme, was kann er erwarten? Paulus denkt zum andern an einen Unkundigen, also an einen, der nichts Grundsätzliches gegen die Kirche hat, aber immer wieder betont: “Ich bin eben kein Kirchenspringer.” Heute jedoch hat er so etwas wie den Moralischen. Vielleicht kann mich ein Gottes­dienst wieder motivieren, sagt er und kommt nach Jahren in die Stiftskirche. Aber vieles ist ihm fremd. Beim Lied stehen nicht die Seitenzahlen auf dem Anschlagbrett, sondern die Nummern der Lieder. Beim Psalm dürfen nur die eingerückten Zeilen gesprochen werden. Beim Gebet muss man aufstehen, nicht bei der Schrift­lesung. Wie hat Martin Walser in seinem Roman “Halbzeit” geschrieben? “Wieder einmal in der Kirche. Die feierliche Amtssprache klang fremd. Kunstgewerbevokabular. Ich kann mich nicht mehr so verrenken.”

Wenn jemand in den Gottesdienst hereingeschneit käme, was kann er erwarten? Paulus denkt zum dritten an einen Unbekannten, der zwar immer wieder auftaucht, aber anscheinend anonym bleiben will. Er meidet den Kontakt nach links und rechts. Ihm liegt das überhaupt nicht, wenn einer auf ihn zufliegt und zu schwätzen beginnt: “Wie heißen Sie? Woher kommen Sie? Wo arbeiten Sie? Was treibt Sie hierher?”

Wenn jemand in den Gottesdienst hereingeschneit käme, was kann er erwarten? Paulus rechnet damit, dass die Kirche nicht zum Lokal verkommt, in dem sich allwöchent­lich eine Stammtischrunde zusammenfindet. Paulus hofft darauf, dass die Kirche nicht zum Salon entartet, in dem sich eine geschlossene Gesellschaft wohlfühlt. Paulus geht davon aus, dass die Kirche nicht zum Parteitag ausufert, auf dem die Delegierten ein Wahlprogramm verabschieden. Kirche ist open house. Kirche ist offenes Haus. Kirche ist offen für alle, auch für Ungläubige, Unkundige und Unbekannte.

Wenn jemand in den Gottesdienst hereingeschneit käme, was kann er erwarten? Fragen wir umfassender: Was können wir erwarten? Was sollen wir erwarten? Was dürfen wir erwarten? Auf diese Frage gibt der heutige Briefabschnitt mit drei Begriffen klare Antwort, nämlich Herzlichkeit, Verständlichkeit, Barmherzigkeit.

1. Im Gottesdienst ist Herzlichkeit zu erwarten

Denken Sie an die Geschichte vom großen Abendmahl, an das Evangelium für diesen Sonntag. Der Herr deckt den Tisch. Der Herr bittet zu Tisch. Der Herr will keine Trauergesellschaft, sondern eine Tischgesellschaft. Deshalb gehen Einladungen hinaus. Deshalb läuten die Glocken. Deshalb stehen die Türen offen. Gott lädt uns ein zu seinem Fest. Aber die herrschaftlichen Boten kehren zurück und erstatten Fehlanzeige: Herr, die Gäste sind amtlich abgehalten, geschäftlich unterwegs, dienstlich verhindert. Sollen wir den Tisch wieder abdecken? Aber der Herr gibt ihnen neue Adressenlisten: Sagt’s den Armen und Abgestempelten: Kommt. Sagt’s den Krüppeln und Behinderten: Kommt. Sagt’s den Blinden und Kaputten: Kommt. Sagt’s einfach allen: Kommt, denn es ist alles bereit. Gottes Veranstaltung fällt nicht ins Wasser. Wo die Genies versagen, holt Gott die Nullen. Ein Fest wird es geben, dass das Herz lacht. Und dann kommen sie. Ist das ein herrliches Bild! Wie sie von den Hecken und Zäunen herbeiströmen, nicht wissend, ob sie wach sind oder träumen. Wie sie verlegen und verschämt die Schuhe abreiben, mit den Händen oder dem Taschentuch. Wie sie sich genieren, der arme Tropf vor dem größeren Lump und alle miteinander vor dem herzlichen Gastgeber. Ist das ein fröhliches Bild! Wie sie sich nun setzen, nicht dort, wo die Ehrenplätze, sondern wo die vollen Schüsseln sind. Wie sie an die Tischbeine stoßen, dass die Vasen wackeln. Wie sie ohne Tisch­manieren zugreifen, weil sie den feinen Benimm noch nicht heraus­ haben. Ist das ein erquickendes Bild! Wie sie auftauen und zutrau­lich werden! Wie sie den Mund aufmachen! Wie sie zu singen anfangen, aus rauen Kehlen, vibrato und crescendo, falsch und ohne Takt, aber von Herzen: das Lob dieses Herrn! Das Lob seiner Freundschaft. Das Lob seiner Gnade.

Liebe Freunde, wollen Sie nur von ferne beobachten? Wollen Sie nur schrecklich ernüchtert Ihres eigenen Weges ziehen? Wollen Sie weiterhin dem schlimmen Irrtum aufsitzen: Gottes Fest ja, aber nicht für mich? Oder wollen Sie sich doch nicht endlich anstecken lassen von jener weinenden und lachenden Seligkeit, die keine andere Ehre kennt als die: Hab die Ehre, dabei sein zu dürfen? Strebt nach der Liebe, sagt der Apostel. Streckt euch nach dieser Liebe Gottes aus. Lasst nicht locker, bis ihr dabei seid und seine Herzlichkeit erkennt. Beim Gelehrtenkongress drüben im Hegelsaal könnte es sein, dass ich deplatziert bin, weil ich kein Wissen­schaftler bin. Beim Sportmeeting in der Schleyerhalle könnte es sein, dass ich fehl am Platze bin, weil ich ein unsportlicher Mensch bin. Bei der Jubelfeier der Partei im Ratskeller könnte es sein, dass ich schief angesehen werde, weil ich das falsche Parteibuch habe. Beim Gottesdienst in der Stiftskirche ist jeder goldrichtig, ob alt oder jung, ob tief gebeugt oder hochgestimmt, ob kerngesund oder todkrank: Wie du bist, so darfst du kommen, und wirst herzlich angenommen. Im Gottesdienst ist Herzlichkeit zu erwarten.

2. Im Gottesdienst ist Verständlichkeit zu erwarten

Denken Sie wieder an die Geschichte vom großen Abendmahl. Leider hört die Bildgeschichte dort auf, wo das Fest beginnt. Ob die Musik gespielt hat, ob ein Menü mit drei oder fünf Gängen aufgefahren wurde, ob es anschließend noch Kaffee mit Kuchen gab, das alles wissen wir nicht. Aber davon können wir ausgehen, dass der Herr einmal ans Glas klopfte, aufstand und eine Tischrede hielt. Er ist kein stummer Teilnehmer, sondern ein redender Gastgeber, der seinen Leuten etwas zu sagen hat. Und dann wählte er ganz bestimmt die Sprache, die seine Gäste auch verstanden. Weil sie sich aramäisch unterhielten, sprach er nicht Lateinisch, die Sprache der Gebildeten, nicht Hebräisch, die Sprache der Schriftgelehrten, nicht Arabisch, die Sprache der Wüstenvölker. Er hätte auch nicht Französisch oder Englisch oder Deutsch gesprochen, sondern er wählte ihre Muttersprache. Jeder sollte verstehen können. Keiner durfte sprachlich ausgegrenzt werden. Alle waren angesprochen.

Liebe Freunde, im Gottesdienst sind alle angesprochen. Keiner darf sprachlich ausgegrenzt werden. Jeder soll nicht nur Bahnhof verstehen. Deshalb braucht es eine verständliche Sprache. Und Paulus sagt: Die Muttersprache der Christen ist die prophetische Rede und die Fremdsprache der Christen ist die Zungenrede. Natürlich gibt es die Zungenrede, diese lobpreisende, kindlich vertrau­ende, sieh selbst vergessende Rede der Versenkung in Gott. Natür­lich gibt es die Zungensprache, diese entfesselte, für die andern unverständliche, sich selbst überschlagende Sprache des Lobes Gottes. Natürlich gibt es das Sprachengebet. Paulus selbst hatte diese Gabe, aber er benützte sie nicht vor andern. Er hielt sie sogar für eine geringe Gabe. Wenn schon, dann gehöre sie ins stille Kämmerlein. Zungenrede ist Rede für Gott, prophetische Rede aber ist Rede von Gott. Prophetisch nicht im Sinne des Vorauswissens der Zukunft, sondern im Verstehen der Gegenwart. Prophetisches Reden meint Reden von Gott, von Gottes Wort, von Gottes Wort in der Bibel. Das meinte auch Christoph Blumhardt, wenn er schrieb: “Aufpassen, was er sagt.”

Gott sei Dank redete Gott nicht in Zungen. Auf dem Feld von Bethlehem konnten es die Hirten verstehen: “Siehe, ich verkündige euch große Freude.” Auf dem Berg von Galiläa konnten es die Herumstehenden verstehen: “Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.” Auf dem Wasser des See Genezareth konnten es die Verängstigten verstehen: “Warum seid ihr so furchtsam?” Auf dem Ölberg konnten es die Vertrauten verstehen: “Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?” Am Kreuz auf dem Calvarienhügel konnten es alle verstehen: “Es ist vollbracht.” Und vor der Grabkammer am Ostermorgen konnten es die Traurigen verstehen: “Friede sei mit euch.” Alle Evangelien berichten keine Silbe von einem Sprachengebet Jesu. Dieser Herr spricht zu uns in der Muttersprache, sodass wir auch verstehen und nachsprechen können: “Fürchte dich nicht. Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein. Wenn du durch Feuer gehst, sollst du nicht brennen. Denn ich bin der Herr,dein Gott, der Heilige Israel. Ich habe viel für dich gegeben, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe” (Jer.43). Keiner soll sagen können, diese Fremdsprache verstehe ich nicht. Er spricht zu jedem in seiner Muttersprache. Seine Sprache ist nicht Zungen-, sondern Herzenssprache. Im Gottesdienst ist Verständlichkeit zu erwarten.

3. Im Gottesdienst ist Barmherzigkeit zu erwarten

Denken Sie noch einmal an die Geschichte vom großen Abendmahl. Nach einigen Stunden sind die Schüsseln leer. Die Kerzen sind heruntergebrannt. Die Gäste sind satt. Das schöne Fest geht zu Ende. Und dann? Dann stehen sie auf, dann schütteln sie dem Gastgeber dankend die Hand, dann verlassen sie das gastfreie Haus. Und dann ist alles so, wie es vorher gewesen ist: das Übergangsheim hinter der Hecke, das Notquartier am Zaun, das Dunkel der Nacht, die Kälte der Stadt. Das Fest war Zwischenspiel, Pausezeichen, Gedankenstrich, mehr nicht.

Liebe Freunde, ob wir nachher nicht ähnlich aufstehen, uns mit einem Opfer artig bedanken und dann das gastfreie Gotteshaus verlassen? Ob nachher nicht alles so ist, wie es vorher gewesen: die Dreizimmerwohnung im Hochhaus, das Einzelzimmer im Heim, das Dunkel im Herzen, die Kälte in der Welt? Der Gottesdienst war Zwischenspiel, Gedankenstrich, Pausezeichen, mehr nicht?

Paulus schreibt zum Schluss davon, dass sich Leute bei Gott nicht verabschieden, sondern vor ihm niederfallen, ihn anbeten und ihren Glauben bekennen. Dann gehen sie auch hinaus, aber wissen, dieser Gott geht mit. Auf der Straße bin ich nicht allein unterwegs. In der Wohnung sitze ich nicht allein in meinen vier Wänden. An meinem Arbeitsplatz muss ich nicht allein meine Aufgaben bewältigen. In jedem Augenblick kann ich es wissen: “Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß (Klagelieder 3)”. Von diesem Gott können wir nie zu viel erwarten.

Amen.

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]