Der Hahnenschrei

Konrad Eißler

Petrus ist an sich selbst zerbrochen. Aber Jesus fängt mit denen neu an, die mit sich am Ende sind. - Passionsandacht aus der Stiftskirche Stuttgart


Täglich erleben wir Zusammenbrüche, liebe Gemeinde, nicht nur von Bankfirmen, Baufirmen und Betrieben. Wir erleben Zusammenbrüche von Menschen. Mit Blaulicht und Martinshorn werden sie ins Krankenhaus gebracht oder in eine Spezialklinik. Die einen zerbrechen an einer Krankheit, die plötzlich auftritt und wichtige Funktionen des Körpers lahmlegt. Die andern zerbrechen an den Verhält­nissen, in denen sie leben müssen; sie sind dem Stress im Geschäft oder dem Leistungsdruck im Büro nicht mehr gewachsen. Die Dritten zerbrechen an den Menschen, die um sie herum sind; Un­treue, Lieblosigkeit, Hass können einen Menschen kaputtmachen.

Hier ist auch einer zusammengebrochen. Petrus kann nicht mehr. Die andern Evangelisten berichten, dass er bitterlich weinte, ein Ausdruck dafür, dass einer am Ende ist. Dieser Mann zerbricht aber an keiner Krankheit. Auch die Verhältnisse in der Gefolg­schaft dieses Herrn waren nicht kräfte- und nervenraubend. Ihn, den Felsenmann, machten keine anderen Menschen kaputt. Nein, Petrus zerbrach an sich selbst. Wenn einer die Schuld nicht mehr auf andere wegschieben kann, wenn einer die Verantwortung nicht mehr auf andere abwälzen kann, wenn einer die Ursache nicht mehr bei andern finden kann, wenn einer an sich selbst zerbricht, dann ist das der schlimmste Zusammenbruch.

Petrus meinte, auf ihn sei Verlass. Ja, er meinte das nicht nur, sondern er handelte auch danach. Als es im Garten Gethsemane ernst wurde und die Polizeiaktion gegen Jesus anlief, da blieb er als einziger neben seinem Herrn stehen, während sich alle andern ängstlich aus dem Staube machten. Als Einziger folgte er dem gefangenen Jesus bis in den hohepriesterlichen Palast. Er wagte mehr als einen verstohlenen Blick über die Mauer. Von einem uns unbekannten Jünger ließ er sich in den Hof einschleusen. Und dort drückte er sich nicht hinter Säulen herum, sondern mischte sich unter die Leute, beteiligte sich trotz seiner galiläischen Mundart an den Gesprächen und setzte sich dem hellen Licht eines Wachfeuers aus. “Auf mich ist Verlass”, wusste Petrus, und dann war er auf einmal wie von allen guten Geistern verlassen. Was den schwerbewaffneten und furchterregenden Kriegern nicht gelang, das gelang einer Magd mit dem Putzeimer, dass er nämlich zu einer Notlüge griff und seinen Herrn verleugnete: “Ich gehöre nicht zu dem. Ich bin’s nicht!” Dann krähte der Hahn. Petrus sah, wie seine Treue und sein Glaube eingebrochen war. Ihm ging auf, dass nichts in seinem Leben unzerbrechlich ist. Weil er keinen Halt mehr in sich sah, deshalb verlor er die Haltung und weinte wie ein Kind.

Liebe Freunde, es braucht gar keinen hohepriesterlichen Palast und ein paar Söldner, um die Erfahrung des Petrus auch zu machen. Da genügen schon ein Klassenzimmer und ein paar Mitschüler, um nicht am Gebetskreis in der großen Pause teilzunehmen, weil man sich vor dem Grinsen und überheblichem Lächeln der andern fürchtet. Da genügt schon ein Speiselokal und ein paar Gäste am Nebentisch, um das sonst geübte Tischgebet zu unterlassen, weil man jenes mitleidige Lächeln der Gegenüber nicht ertragen will. Da genügt schon eine einfache Diskussionsrunde, um selber den Mund zu halten, obwohl man unbedingt einen Satz zur Ehre dieses Herrn sagen müsste. Wie oft ist unsere Treue und unser Glaube schon eingebroch­en? Petrus in uns. So müssen wir doch diesen Abschnitt lesen und meditieren: Petrus in uns.

Trotzdem hat Gott mit Petrus, gerade mit Petrus seine Kirche gebaut. Die Berufung wurde nicht hinfäl­lig! “Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen.” Er stand am Pfingstmorgen furchtlos und wie ein Fels in der Menge und verkündigte die Auferstehung seines Herrn. Überall hat er Gemeinden gegründet und Menschen zu diesem Herrn geführt. Bei einem Paulus war es nicht anders. Erst nachdem er vor Damaskus zusammengebrochen war, erst als er in seinem Brief an die Römer schrieb: “Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leib dieses Todes”, kam es zu der entscheidenden Wende, die ihn als Völkerapostel tauglich machte. Ein Martin Luther durchlitt diese Tiefen und ein Ludwig Hofacker und ein Friedrich von Bodelschwingh. Lauter Menschen, die lernen mussten, dass in uns nichts ist, was durchträgt. Wir haben keine Kräfte, die nicht eines Tages zerbrechen, so wie Glas zerbricht. Wir haben keine Werte, die nicht eines Tages wertlos werden, so wie abgestempelte Brief­marken. Wir haben keine Quellen, die nicht eines Tages vertrocknen, so wie Wasserläufe im Sommer nicht mehr zu sehen sind. Was wir aber haben, Freunde, ist dieser Herr, der selber unter dem schweren Kreuzesbalken zusammenbricht, der als ein wertloser Verbrecher hingerichtet wird und am Kreuz so austrocknet, dass er mit letzter Kraft schreit: “Mich dürstet”. Aber gerade dieser Herr schreibt uns kraftlose, wertlose und oft ausgetrocknete Menschen nicht ab. Er stellt uns nicht auf die Seite. Er schneidet uns nicht, Jesus will uns, gerade uns zu Leuten machen, die von ihm neue Kraft, einen neuen Wert und ein neues Leben bekommen. Mit uns und durch uns will er seine Gemeinde heute bauen und erhalten. Er fängt mit denen neu an, die mit sich am Ende sind.

Amen