Ich grüße Sie zu dieser nachtschlafenden Mittagszeit. Die Mittagspause habe ich sehr genossen: die wunderbare Reissuppe, den guten Kaffee und den süßen Kuchen. Doch am schönsten in der Mittagspause sind immer die Begegnungen.
Begegnungen mit den Schwestern aus Schwäbisch Hall, Begegnungen mit Patrick, einem Tabor-Bruder, der sich in Israel für diesen geistlichen Lebensberuf entschieden hat. Auch eine Begegnung mit einer Frau und Witwe.
Vor über zwanzig Jahren bin ich ihr begegnet, und zwar auf der dänischen Insel Rømø. Damals lud ich meine ganze Kinderschar – es waren sechs Kinder, es war zwar nicht das Ende, aber immerhin waren es damals sechs – aus meinem Auto aus, und wir fingen an zu spielen.
Ungefähr zweihundert Meter entfernt sahen wir eine andere Großfamilie, die ebenfalls spielte, aber immer wieder tuschelnd zu uns herüberschaute. Dann kam plötzlich ein Abgesandter, einer der Jungen, zu uns herüber und sagte, er hätte eine Frage.
„Ja, bitte“, antwortete ich. Er erklärte, sie würden schon länger rätseln. Der Vater habe einen Preis ausgesetzt. Er behaupte, dass wir eine Pfarrfamilie seien. Anderen könne das gar nicht sein.
Ich bestätigte: „Ja, das stimmt, wir sind eine Pfarrfamilie.“ Daraufhin sagte er: „Oh, dann haben wir gewonnen. Wenn er noch den Namen sagt …“
„Ja“, sagte Eisler. Dann fragte ich: „Wie heißt du denn?“ Er antwortete: „Ich heiße Schnebel.“
Das war die erste Begegnung. In der Zwischenzeit ist der Vater heimgegangen, aber die gute Erinnerung an die Großfamilie auf Rømø bleibt.
Die Bedeutung von Begegnungen im Leben
Begegnungen gehören zu unserem Leben. Sie machen ein Leben reich. Ohne Begegnungen gibt es überhaupt kein richtiges Leben. Karthäusermönche sind die allerwenigsten. Begegnungen sind vielfältig und gehören zu unserem Alltag.
Es gibt die verschiedensten Begegnungen, zum Beispiel solche, die von Enttäuschung geprägt sind. Ich zähle gerne meine eigenen Erfahrungen dazu. Mein Lebenswunsch ist nie in Erfüllung gegangen, und er ist auch nie in Erinnerung geblieben. Ich wollte Jugendpfarrer werden – das war mein Ideal.
Deshalb habe ich in Tübingen studiert. Danach zog es mich nach Hamburg, in den Duft der großen, weiten Welt. Anschließend ging ich in die USA. Mit stolz geschwellter Brust kam ich zurück und war überzeugt, der richtige Mann für die Jugendarbeit zu sein.
Als ich dann dem ersten Dekan, Superintendent, in Bad Urach zugewiesen wurde, stellte er sich vor mich hin und sagte: „Aha.“ Er war sofort perdu. „Du übernimmst die beiden Altenheime.“ Für ein Jahr lang versorgte ich die beiden Altenheime Hausamberg und Hochberg.
Freunde, es war meine schönste Zeit. So viel Schokolade habe ich nie mehr bekommen. Ich vergesse nicht die Dame in der ersten Reihe bei der Bibelstunde mittwochmittags. Sie hatte so ein Hörrohr, damals noch nicht elektrisch, eher in der Art eines Katalysators.
Mit diesem Gerät hörte sie mir zu. Doch nach zehn Minuten meiner spannenden Bibelarbeit schickte sie ihr Gerät mit lautem Getöse wieder in ihre Tasche. Als es das dritte Mal passierte, fragte ich sie, was denn los sei. Ob ihr Gerät nicht in Ordnung sei oder ob sie mich nicht verstehen könnte.
Sie sagte: „Doch, doch, ich verstehe schon.“ Dann sagte sie den Satz: „Herr Eisler, ich verstehe kein einziges Wort, aber Sie sprechen wunderbar.“ So hoffte sie, dass es an diesem Mittag auch wieder so sein würde.
Verstehen Sie? Ich spreche wunderbar.
Liebe als Grundlage echter Begegnungen
Begegnungen sind oft von Enttäuschung geprägt. Es gibt viele Arten von Begegnungen, doch vollwertig sind sie erst dann, wenn sie in Liebe geschehen. Vollwertige Begegnungen stehen unter dem Vorzeichen der Liebe.
Die Losung, die bereits das ganze Jahr über galt, beschreibt genau diese vollwertige Begegnung untereinander: „Liebt einander, lebt in der Liebe, so wie euch Christus geliebt hat“ (Epheser 5,2). Lebt in der Liebe, so wie euch Christus geliebt hat – das ist die Begegnung, die vollwertig ist.
Nun sprechen wir also von dieser Liebe. Man kann über die Liebe schreiben, so wie ein Schriftsteller. Mir fiel dabei „Sansibar und der letzte Grund“ ein. In diesem Büchlein berichtet der Autor von einem armen Fischer namens Knudsen, der im Dritten Reich einem jüdischstämmigen Mann half, nach Schweden zu fliehen. Als er gefragt wurde, warum er dieses todgefährliche Unternehmen überhaupt unternommen habe, antwortete er: „Weil ich kein toter Fisch sein will.“
Weil es sonst in meinem Leben stinklangweilig wird, weil ich mir die Lust zur Liebe nicht nehmen lasse – ein gutes Wort in einer Zeit, in der viel von der Last der Liebe die Rede ist. Weil ich mir die Lust zur Liebe nicht nehmen lasse.
Denkt an die Liebe wie ein Schriftsteller oder träumt von der Liebe wie ein Abiturient. Mir fiel Friedmann ein. Mit Mädchen hatte er eigentlich nichts am Hut. Doch eines Tages kannte ich ihn nicht wieder. Ihm war ein Mädchen begegnet, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, vielleicht Eulalia oder so. Wenn er an sie dachte, war die ganze Logik weg. Wenn er mit ihr telefonierte, schien die Zeit stillzustehen. Und wenn er mit ihr ausging, war der Alltag vergessen. Er war einfach ganz weg. Seine Welt war nur noch mit Bassgeigen behängt – ein einziger Traum.
Träumt von der Liebe wie ein Abiturient oder singt von der Liebe wie ein Liedermacher. Mir, als nostalgischem Typ, der ich bei Gruppen wie „BAP“ schlicht umfalle, fiel Schubert ein. Ich würde es ihm ja vorsingen, doch ich kann keine Tränen sehen. Dort heißt es:
„Ich schnitte es gern in alle Rinden ein,
ich krübe es gern in jeden Kieselstein,
ich würde es sehen in jedes frische Beet
mit Kressesamen, der es schnell verrät:
Dein ist mein Herz. Uns soll es ewig bleiben.“
Sing von der Liebe.
Liebe als Lebensprinzip und Herausforderung
Aber hier ist noch einmal von etwas ganz anderem die Rede. Nicht nur denkt an die Liebe, träumt von der Liebe oder singt von der Liebe, sondern lebt in der Liebe. So wie ein Fisch im Wasser, so wie ein Vogel in der Luft, so wie eine Pflanze im Licht – diese Liebe soll zu unserem Element werden.
Damit wir Augustin nicht falsch verstehen, der einmal gesagt hat: Lebt und tut, was ihr wollt, lebt und tut, was euch in den Strumpf passt, lebt und lasst eure Zügel einfach schießen – nein! Lebt in der Liebe so, wie Christus euch geliebt hat.
Und sehen Sie, das geht in dreifacher Richtung, nämlich lebt in der wahren Liebe, lebt in der weiten Liebe und lebt in der werten Liebe. So werden diese wertvollen Begegnungen hier bezeichnet.
Die wahre Liebe verstehen
Lebt in der wahren Liebe, die nicht falsch ist. Es geht hier darum, ein gängiges Missverständnis abzuwehren, und zwar folgendes: Es wird oft gesagt, Liebe zeige sich in der Erfüllung von Wünschen. Wer meine Wünsche erfüllt, der liebt mich. Wer meine Wünsche so erfüllt, wie ich es mir vorstelle, der hat große Liebe für mich. Und wer meine Wünsche nicht erfüllt, der liebt mich auch nicht.
Das beste Beispiel sind Kinder vor Weihnachten. Sicherlich nicht meine Kinder, die waren alle anständig und so. Aber liebe, die Kinder haben ja unglaubliche Wünsche für Weihnachten. Sie wünschen sich nicht nur Lego, Playmobil, Inline-Skater und einen neuen PC. Ihre Wünsche entsprechen ungefähr den Inventarlisten eines mittleren Spielwarengeschäfts.
Meine Kinder wünschten sich eines Tages, damals, als ich Pfarrer in Stuttgart war – über zwanzig Jahre mitten in der Stadt – ein ausgewachsenes, lebendiges, heufressendes Pony. Sehen Sie sich mal vor: Mitten in der City ein lebendiges Pony zum Viren war das. Aber ich wusste schon, die Kinder wussten, dass der Vater und die Mutter lieb sind, und deshalb wird auch dieser Wunsch erfüllt. Denn Liebe zeigt sich immer in der Erfüllung von Wünschen.
Mir war Angst vor dem kommenden Weihnachtsfest. Es kam auch, wie es kommen musste: Am Heiligen Abend, nachdem wir gesungen hatten „Ihr Kinderlein kommet“ und die Tür zum Christzimmer aufging, da stand unter dem Weihnachtsbaum – unter dem schönen Weihnachtsbaum – ein Pony. Aber leider nur eines von steif ausgingen mit dem Knopf im Ohr. Es war teuer genug, aber es war kein lebendiges, heufressendes Pony.
Sie hätten die Augen der Kinder sehen sollen, wie plötzlich eine Traurigkeit darüber ging, denn ihre Wünsche wurden nicht erfüllt. Der Vater war nicht lieb.
So schreiben wir unsere Wünsche auch für Gott. Das Examen muss gut vorbeigehen, die Partnerschaft muss doch in die Ehe führen, die Familie muss glücklich werden, die Krankheit darf nicht ausbrechen, die Metastasen können doch wunderbar wieder verschwinden. Und, liebe Freunde, unsere Wunschlisten sind endlos.
Und wenn diese Wünsche nicht erfüllt werden, und wenn ich durchs Examen nicht komme, und wenn die Partnerschaft auseinandergeht, und wenn die Kinder Koffer packen und ausziehen und mir die kalte Schulter zeigen, und wenn die Metastasen immer weiter fressen und ich meinen Tod vor Augen sehe – ja, dann werden Fäuste gegen den Himmel geballt. So wie Prometheus, der gesagt hat: „Ich kenne nichts Ärmeres unter dem Himmel als euch Götter.“ Dann war dieser Gott nicht lieb.
Wenn Gott unsere Wünsche nicht erfüllt, dann ist er nicht lieb.
Aber Gott ist doch kein Weihnachtsmann, und Gott ist doch kein Osterhase. Gott ist doch nicht einer, der gekommen ist, um unsere Wünsche zu erfüllen. Gott ist der Herr. Und Liebe zeigt sich überhaupt nie in der Erfüllung von Wünschen.
Liebe zeigt sich in Opferbereitschaft
Ich sage besonders jungen Menschen: Liebe zeigt sich nicht in der Erfüllung von Wünschen, sondern immer nur im Maß ihrer Opferfähigkeit. Nur wer opfert, der liebt auch. Und Gott war hochgradig opferfähig.
Zu Weihnachten gab er nicht nur ein paar Blumen, keinen Fax, keine Glückwunschkarte oder ein Telegramm. Er gab das Größte, Schönste und Beste, was er hatte, nämlich seinen Sohn.
Ich vergesse nicht die Besuche, die ich immer wieder in der Libanonstrasse in der Stuttgarter Innenstadt gemacht habe. Im fünften Stock wohnte ein alter Mann. Seine Frau war schon längst gestorben, und sein Gedächtnis ließ nach. Jedes Mal nach meinem Besuch kam immer dasselbe: Er zeigte auf ein Bild, das hinter ihm hing. Auf dem Bild war ein junger Mann in Soldatenuniform zu sehen, vielleicht achtzehn Jahre alt. Dann sagte er immer zu mir: „Herr Pfarrer, wissen Sie, wer das ist?“ Und er fügte hinzu: „Herr Pfarrer, das ist mein Sohn, der ist in Stalingrad geblieben.“ Als letzten Satz sagte er dann: „Herr Pfarrer, es war mein einziger, es war mein einziger.“
Man kann keinem größeren Schmerz zufügen, als den einzigen Sohn zu verlieren. Haben Sie auch Kinder? Den einzigen Sohn zu verlieren, das ist unermesslich schwer.
Gott hatte nur einen einzigen Sohn. Er hatte keinen zweiten, keinen dritten. Diesen einzigen Sohn gab er, und zwar auf die Erde. Nicht ein Krieg zwang ihn dazu, sondern er gab ihn freiwillig. Er gab ihn ans Kreuz.
Krippe und Kreuz sind aus gleichem Holz geschnitzt, und dort hängt er. Seht die Liebe, die sich endlich als Liebe zeigt. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.
Wenn heute immer wieder so fordernd gefragt wird: „Wo ist denn die Liebe Gottes in dieser Welt?“ – dann schaut auf dieses Kreuz! Und wenn Sie fragen: „Wo ist denn die Liebe Gottes in meinem Leben?“ – dann schaut auf dieses Kreuz! Wenn Sie krank sind und im Bett liegen und fragen: „Wo war denn die Liebe in meinem Leben?“ – dann schaut auf dieses Kreuz! Denn dort gibt es ein Leben für seine Freunde.
Alles andere ist falsche Liebe. Nur wer hergibt, der liebt auch. Nur wer hergibt, der liebt auch.
Begegnungen als Ausdruck gelebter Liebe
Erst kürzlich konnte ich auf Neuguinea eine eindrückliche Erfahrung machen. Die Liebenzeller Mission schickte mich, einen älteren Mann, dorthin, um dort auf der Insel Manos eine Bibelwoche mit den Liebenzeller Missionaren zu halten.
Nach dieser für mich sehr beeindruckenden Woche luden mich die Missionare und Missionarinnen ein, ihre Stationen zu besuchen. So kam ich auch nach Westneubritannien, in das kleine Dorf Laim. Durch den Dschungel fuhren wir hinauf in dieses Dorf, das wie eine Zeitreise dreitausend Jahre zurück in die Geschichte wirkte. Dort oben, zwischen den ärmlichsten Hütten und Menschen, die noch nie an der Küste waren und außer den Missionaren keine weißen Menschen gesehen hatten, standen sie herum.
Besonders fiel mir einer auf. Er war früher ein Häuptling und heißt jetzt Noah oder hatte diesen Namen. Im Jahr 1984 sind in dieses Dorf die Missionarenschwestern Helene Held und Missionar Karl Kambach eingewandert und haben das Evangelium verkündet. Dieses Evangelium wurde von diesem Stamm angenommen. Äußerlich hatte sich nichts verändert, aber innerlich waren es andere Menschen geworden.
Noah stand vor mir. Er fiel nicht durch seine Größe auf – die Papuas sind alle etwa einen Meter sechzig groß –, auch nicht durch sein Alter, denn die Papuas wissen oft nicht, wie alt sie sind. Auch nicht durch seine Ohren, denn sie hörten ohnehin viel nicht. Er war sogar verletzt. Nach seiner Geburt wurde er in eine Rauchwolke gehalten, wegen eines Rituals, und dabei wurde die halbe Lunge zerstört. Mit elf Jahren musste er beim Initiationsritus eine dunkle, schwarze Flüssigkeit trinken, wodurch sein Gebiss zerstört wurde.
Doch das Schlimmste war, dass er noch im Jahr 1984 den Brauch seines Stammes durchführen musste. Wenn dort der Vater starb, musste die Mutter mitbeerdigt werden. So lösten sie das Witwenproblem – ohne Rentenkassen. Es war die Aufgabe des ältesten Sohnes, die Mutter mit einer Liane umzubringen. Und dieser Noah hat das vollzogen. Er nahm eine Liane, ermordete seine Mutter und sagte: „Da drüben liegen sie.“
„Ich bin Muttermörder“, sagte er, „ich bin Muttermörder.“ Doch dann ging ein Strahlen über sein Gesicht. „Aber Jesus hat mir vergeben. Sie wissen doch nicht mehr, was Vergebung ist. Sie Deutschen wissen nicht mehr, was Vergebung ist“, sagte der Papua.
Dann nahm er mich mit in seine Hütte. Es war eine arme Hütte, in der er mit einer Frau und einem kranken Sohn zu dritt lebte. Auf dem offenen Feuer in der Mitte lag die Tagesration: drei Süßkartoffeln, die gar waren. Er griff hinein, nahm eine und gab sie mir. Ich wollte ablehnen, doch die Missionarin Marianne Cirol sagte: „Take it, nehmen Sie es, nehmen Sie es.“
Ich nahm die Süßkartoffel, und dann brannte sie in meiner Hand. Ich spürte in meiner Hand die heiße Liebe dieses Mannes. Das war eine wertvolle Begegnung. Er gab ein Drittel der Tagesration seiner Familie ab.
Was geben denn Sie? Wer hergibt, der liebt auch. Wer opfert, der liebt auch. Das ist die wahre Liebe der Menschen, die sich begegnen.
Die Weite der Liebe Gottes
Wahre Liebe lebt in der wahren Liebe. Und das andere lebt in der weiten Liebe, die nicht eng ist. Es könnte sein, dass einige sagen: „Na, diese Aufforderung aus dem Epheserbrief ist ja gar nicht an meine Adresse geschickt. Sie richtet sich an irgendwelche Gemeinden in Kleinasien, vielleicht an eine frühe Kirche oder einen frommen Zirkel. Aber es besteht doch der berechtigte Verdacht, dass ich nicht auf dem Verteiler stehe.“
Liebe Freunde, „lebt in der Liebe“ ist eine Postwurfsendung an alle Haushalte. Der Komponist Schütz hat einmal die Kantate oder Motette „Auf dass alle, alle, alle, die in ihn glauben, nicht verloren werden“ geschrieben. Er meint alle: diesen Herrn, die Geliebten und die Ungeliebten, die Großen und die Kleinen, die Frommen und die Gottlosen. Nikodemus ist genauso gemeint wie der Lieblingsjünger Johannes.
Sehen Sie, dieser Gott sieht keine weißen Menschen, keine schwarzen Menschen. Einer sagte: „Gott ist farbenblind.“ Er sieht keine gelben Menschen, er sieht nur Menschen mit einer unvorstellbaren Sehnsucht nach Liebe. Und wenn Sie glauben, dass Sie davon nicht betroffen sind, so hören Sie es doch noch einmal: Gott liebt jeden so. Augustin hat es so formuliert: Gott liebt jeden so, als ob es außer ihm keinen mehr gäbe, dem er seine Liebe schenken könnte, als ob es außer ihnen in der fünfhundertzwanzigsten Reihe niemand mehr gäbe, dem er seine Liebe schenken könnte.
Oh, so liebt er uns! Das ist die weite Liebe, die wir nicht verengen können.
Sehen Sie, ich möchte es Ihnen erklären. Ich bin im Jahr 1945 oder 1946 in der französischen Besatzungszone am Rande des Schwarzwaldes aufgewachsen. Dort hatten wir entsetzlich Hunger. Meine Mutter, wir waren sechs Kinder, konnte uns eigentlich nicht mehr ernähren. Ich sehe noch, wie sie uns zum Frühstück Kartoffeln auftischte, in der Pfanne ohne Fett gebraten. Ich rieche es heute noch, aber auch davon hatten wir nicht genug. Während sie austeilte, hatte sie Tränen in den Augen, weil es ihr so weh tat, ihre heranwachsenden Burschen nicht ernähren zu können.
Verstehen Sie, welche Freude bei uns einkehrte, als die ersten Care-Pakete, Liebesgabenpakete aus Amerika, eintrafen? Auch in unser Haus wurde ein solches Paket gebracht, und wir stürzten uns darauf wie die Geier. Wir rissen es auf, und drinnen waren jene drei berühmten K’s: Kaffee, Kakao und Kaugummi. Wir wussten damals nicht, was Kaugummi ist, wir dachten, das sei zum Fahrradfliegen. Inzwischen haben wir es gelernt.
Unglaublich, aber obendrauf lag ein Neues Testament, damals gedruckt in Amerika in deutscher Sprache. Die erste Seite war als Widmung Johannes 3,16 abgedruckt: „So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab.“ Statt „alle“ standen Punkte, und darunter stand: „An dieser Stelle soll man seinen Namen eintragen.“
Ich, als bescheidenster von sechs Kindern, riss dieses Testament unter meinen Nagel und schrieb mit dickem Bleistift hinein – so, dass ich es noch heute vor mir sehe: „So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, auf dass Konrad Eisler, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat.“
Sie sind an diesem Nachmittag eingeladen, zum ersten Mal oder wieder Ihren Namen dort einzutragen: „auf dass Frau Schulze oder Herr Kechele, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat.“
Und dann noch eins: Nun denken Sie an die Person, mit der Sie es nicht können, die Ihnen senkrecht auf den Geist geht, die jede Begegnung zur Qual macht. Denken Sie an diese Person, und wenn Sie es wissen, dann tragen Sie den Namen dort auch ein: „So hat er geliebt, auf dass alle, auch die Ungläubigen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Das ist die weite Liebe, die nicht eng ist.
Die Herausforderung einer wertevollen Liebe
Und auch diese letzte, nämlich eine wertvolle Liebe, die nicht billig ist. Es geht um ein letztes Missverständnis.
Ich würde sagen, die Liebe macht nur einen verrückten, einen vertretenden, einen neugierigen Kopf. Das ist wahr, aber zu billig. Wohl macht auch die göttliche Liebe einen verrückten Eindruck, einen verrückten Punkt. Doch nur so, dass sie meinen bisherigen Schwerpunkt, um den ich kreiste, herausrückt. Plötzlich kreise ich um einen anderen Herrn und fahre nicht mehr nur Karussell um das eigene Ich.
Und sie macht auch vertretend, insofern als ich auf einmal in eine andere Richtung schaue und mir ganz Neues aufgeht. Ich werde aus dem Staunen über Jesus nicht mehr herauskommen. Ich bekomme einen neugierigen Kopf, einen neugierigen Kopf, der immer mehr wissen will von diesem Herrn, der auf diese Erde kam, der den Leuten seine Hand auflegte und sie segnete, der gestorben, der begraben, ja, der auferstanden ist und der wiederkommen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten.
Die Liebe zu ihm ist die wertvolle Liebe, die nicht billig ist.
Liebe Freunde, ein letztes: Sehen Sie, ein Rabbi wurde gefragt: Wann ist denn eigentlich morgen? Ist es dann morgen, wenn man eine Hütte von einem Haus unterscheiden kann, einen Baum von einem Strauch oder einen Esel von einem Pferd?
Und dann sagte er: Morgen ist dann, wenn ich das Angesicht meines Nächsten ausmache, dann ist Tag. Wenn Sie das Gesicht des Anderen erkennen als das eines Menschen, der Ihre Liebe bedarf, dann ist morgen, dann ist Tag. Dass es wieder Tag bei Ihnen werde, das wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen. Amen.