Gnade sei mit uns und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt!
Wir hatten begonnen, die Geschichte von dem zwölfjährigen Jesus im Tempel zu besprechen. Es heißt, und das haben wir beim letzten Mal besprochen, dass die Tage des Festes vollendet waren. In Lukas 2 steht: „Die Tage des Festes waren vollendet, und sie gingen wieder nach Hause. Der Knabe Jesus aber blieb in Jerusalem, und seine Eltern wussten es nicht.“
Nun zum heutigen Text: „Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und gingen eine Tagereise weit. Sie suchten ihn unter ihren Freunden und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, gingen sie wiederum nach Jerusalem und suchten ihn.“
Herr, heilige uns in deiner Wahrheit! Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Einführung in die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus
Darf ich kurz fragen: Wir haben eine Änderung vorgenommen. Es hieß immer, unter der Galerie könne man nicht gut verstehen. Jetzt haben wir ein paar Lautsprecher eingebaut. Können Sie mich hinten jetzt gut verstehen?
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde, das ist eine aufregende Geschichte. Einem Jungen, der zum ersten Mal im zwölften Lebensjahr mit seinen Eltern zum Passafest nach Jerusalem fährt. Wie es dann ist, wenn das Fest zu Ende ist, die Eltern ihn im Trubel des Aufbruchs verlieren, wie sie ihn unter Schmerzen an allen möglichen Orten suchen, wie ihre Not wächst und sie ihn schließlich finden – und das in einer wirklich merkwürdigen Situation. Es ist, als ob ich euch wende, unter lauter Bischöfen Unterkunft für alle haben sollte.
Darauf kommen wir später noch zurück. Das bekommen wir vielleicht noch zu sagen.
Man kann diese Geschichte ansehen als die eines Jungen, der unverantwortlich handelt, seine Eltern in Not bringt und sich am Schluss ziemlich früh als reif erweist. Was meinen Sie, wie oft ich das als Jugendpfarrer erlebe? Spätabends das Telefon: „Herr Pastor, unser Junge ist verschwunden.“ „Wie verschwunden?“ – „Er ist seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen.“ „Wo kann er sein?“ – „Das wissen wir nicht, wir haben ihn überall gesucht.“ Wenn ich erzählen wollte, wie oft ich das in meinem Leben erlebt habe.
Man kann diese Geschichte natürlich unter die Rubrik jener Geschichten von Jungen einordnen, die nicht recht wissen, was ihr Alter ihnen zumutet und was sie ihren Eltern damit antun. Aber dann hat man die Geschichte wirklich total missverstanden, gründlich missverstanden.
Die göttliche Identität des zwölfjährigen Jesus
Was ich jetzt sagen möchte, meine Freunde, ist von unendlicher Wichtigkeit und verständlich im Zusammenhang der Geschichte. Ich hoffe, dass Sie gekommen sind, um das zu verstehen.
Der zwölfjährige Knabe, der hier sitzt, ist auch als Zwölfjähriger der Sohn des lebendigen Gottes. In der Bibel steht, dass in ihm die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt, auch im Zwölfjährigen. In der gesamten Geschichte redet und handelt dieser Jesus wie jemand, der seine Gottessohnschaft kennt und um seine Sendung vom Vater weiß.
Auch in der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel haben wir es mit dem Sohn Gottes zu tun. Von ihm heißt es in der Bibel: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.“ Sie haben keine Chance, Kind Gottes zu werden, ohne diesen Jesus anzunehmen. Das gilt bereits für den Zwölfjährigen.
Ich bitte Sie, wie wir kleine Kinder oben abgeben – nicht, dass es furchtbar stößt – wir haben oben einen Kindergarten und geben die kleinen Kinder das nächste Mal oben ab. Im zweiten Stock ist ein Kindergarten, nicht? Wir haben es hier in jedem Fall auch beim Zwölfjährigen mit dem Sohn Gottes, mit dem Heiland der Welt, dem Erlöser zu tun.
Und weiter: Alles, was Menschen mit diesem Heiland erleben können, ist keimhaft in dieser Geschichte enthalten. Nehmen Sie sie heraus aus der Kathekese der Lausbubengeschichten. Diese Geschichte gehört in keiner Weise dorthin, sondern in die Kathekese der Geschichte dessen, was Menschen mit Jesus erleben. Dort gehört sie hin.
Überschrift und erster Schwerpunkt: Der verschwundene Jesus
Wenn ich jetzt eine Überschrift für unseren Text suche, könnte sie lauten: Der verschwundene Jesus.
Man möchte dazu drei Dinge sagen. Erstens: Verloren im Trubel der Welt. Tausende Menschen gingen nach Jerusalem zum Passahfest. Dort herrschte ein großes Gedränge, ein Gewühl, ähnlich wie es in diesem Sommer sein wird, wenn hier das Deutsche Sängerfest stattfindet. Stellen Sie sich vor, 150 Sänger mit ihren Begleitungen kommen nach Essen – das ergibt ein großes Gedränge. So viel mehr war der Trubel beim Passahfest in Jerusalem.
Ich kann mir vorstellen, wie tumultartig es zuging, wenn das Fest zu Ende war. Karawanen, Reisegesellschaften, Einzelwanderer und viele andere machten sich auf den Weg. Die Straßen waren verstopft, es herrschte ein großer Trubel in den Häusern, Herbergen und Zeltlagern. Auch aus der Riesestadt kamen große Zeltlager dazu – ein ungeheurer Trubel.
In diesem Getümmel verloren die Eltern, Josef und Maria, ihren Sohn Jesus. Sie verloren ihn. Und genau das erleben Millionen Menschen: Menschen, denen es vielleicht einmal selbstverständlich war, Jesus zu haben. Menschen, die vertraut mit ihm waren, verlieren ihn im Getümmel des Lebens.
Ich kann mir vorstellen, dass manche hier sitzen und es sehr nah an sich heranlassen, weil es ihnen selbst so gegangen ist. Meine frommen Eltern zum Beispiel – da gehörte Jesus einfach dazu. Ich habe erst später verstanden, warum es bei uns zu Hause so schön war, warum es so fröhlich war und warum ein besonderer Glanz über meiner Jugend lag: weil Jesus da war. Das war so selbstverständlich.
Dann kam ich mit siebzehn Jahren von zu Hause weg, in eine ganz gottlose Umgebung, und im Getümmel verlor ich Jesus. Ich habe ihn verloren. Und ich habe gelernt, was ich mit allem Nachdruck sagen möchte: Ein Leben ohne den Versöhner, ohne den Erlöser, ist ein Leben ohne Gnade. Nur in ihm ist die Gnade erschienen. Ein Leben ohne ihn ist ein Leben ohne Halt und ohne Trost.
Vielleicht sagen Sie jetzt: Das ist doch übertrieben, wir kennen viele Menschen, die sehr ordentlich leben. Aber ich sage Ihnen, nach 40 Jahren als Essener Pfarrer: Ohne Jesus ist jedes Leben ohne Halt, ohne Trost und ohne Kraft. Da „sitzt der Wurm drin“. Ich glaube nicht mehr daran, dass man auch ohne ihn ein gutes Leben führen kann.
Hören Sie mich an, wir wollen eine Stunde darüber sprechen und feststellen, wie es aussieht: Es gibt keinen anderen Heiland. Ein Leben ohne diesen Heiland ist ein heilloses Leben. Ich hatte ihn verloren im Getümmel des Lebens, so wie die Eltern Jesus verloren haben.
Darum bewegt mich so sehr, was ich unablässig erlebe: Junge Menschen, die in unserer Gemeinschaft Jesus begegnet sind und denen es selbstverständlich ist, dass sie eines Tages aus unserer Gemeinschaft hinausgehen. Der Weg führt sie hinaus. Wie viele haben im Getümmel Jesus verloren!
Der Apostel Paulus erzählt einmal von einem Freund, in einem kurzen Satz. Er sagt die Geschichte dieses Freundes, der Demas hieß, und schreibt: „Demas hat mich verlassen und diese Welt liebgewonnen.“ Nur ein Satz. Man müsste taub sein, wenn man nicht das Weinen des Paulus spürte – um den Freund, den er verloren hat, um den Freund, der Jesus verloren hat.
Im Getümmel der Großstadt, im Trubel und den Verlockungen der Großstadt hat er Jesus verloren. Er war zu verlockend. „Man kann ja nicht immer so engherzig leben.“ Er hat Paulus verlassen und die Welt liebgewonnen, er hat Jesus verloren.
Meine Freunde, die Jünger Jesu haben ihren Heiland auch einmal verloren, wie die Eltern Jesu hier. Aber die Jünger haben Jesus nicht verloren, weil die Welt sie weglockte. So primitiv waren sie nicht mehr. Da hat Petrus einmal gesagt: „Wohin sollen wir denn gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ Und doch haben sie ihn verloren, als er im Garten Gethsemane verhaftet wurde.
Da verließen sie ihn alle und flohen. Da haben sie Jesus verloren. Es waren Tage voller großer Dunkelheit. Nicht die Verlockung der Welt war schuld, sondern Angst vor Menschen – Verfolgungszeit. Und da war der stumpfe Sinn schuld, der das Kreuz Jesu nicht will und nicht fassen kann.
Es gibt vier Gründe, warum man Jesus im Getümmel verliert. Ich lasse gerade einen sehr interessanten Bericht eines jungen Theologen lesen, der sich mit der modernen Theologie auseinandersetzt. Dabei wird er biografisch und erzählt, wie er während seines Theologiestudiums Jesus verloren hat.
Leute, die verstehen, was moderne Theologie bedeutet: Sie hat viele Könige, aber Jesus nicht mehr. Sie ist eng in der Luft. Und meine Freunde, weil ein Leben ohne Jesus ein Leben ohne Kraft, ohne Halt und ohne Gnade ist, und weil alle Weisheit der Welt die Probleme meines ganz persönlichen Lebens nicht lösen kann, kam dieser junge Mann in große Not und Schuld.
Das ist mir durchaus klar. Er erzählt, dass er eines Tages in seiner Verwirrung einen Seelsorger aufsucht, einen schlichten Bruder. Er nennt ihn den stillen Zuhörer, einen, der zuhören konnte. Dort schüttete er sein Herz aus.
Und dann sagt er wörtlich: „Das ist so wundervoll. Als ich fertig war, sagte mein stiller Zuhörer nur: ‚Und jetzt wollen wir das alles Jesus sagen.‘“ Dann falteten sie die Hände. Der junge Theologe schreibt: „Es gefiel Gott in diesem Augenblick, mir seinen Sohn zu offenbaren, dass da jemand ein persönliches Verhältnis zu Jesus hat. ‚Wir wollen alles Jesus sagen.‘“
Aber verstehen Sie, der junge Mann hat in der Weisheit der Welt als Theologe Jesus verloren. Es gibt viele Wege, Jesus zu verlieren, viele Möglichkeiten.
Ich sage noch einmal: Ich rechne damit, dass hier Menschen sitzen, die Jesus verloren haben. Da war mal etwas, aber das ist lange her. Es ist sehr gnädig von meinem Heiland, dass er die Verlorenen selbst suchen geht. So wie er es bei dem jungen Theologen gemacht hat, wie er es bei den Jüngern gemacht hat, und wie er es bei mir gemacht hat.
Aber er macht es nicht immer. Ich möchte offen sagen: Man kann verloren gehen, weil man Jesus endgültig verloren hat. Jesus hat Judas nicht zurückgebracht. Er hatte Jesus verloren, und dabei blieb es. Zum Graus – dabei bleibt es in Ewigkeit.
Judas hat sein Heil verloren. Darum ist es so unerhört wichtig, dass die, die heute in Manhattan sind, zu Jesus zurückkehren. Es sitzen hier Menschen, denen ich nur sagen kann: Kehren Sie heute um und bekehren Sie sich von ganzem Herzen!
Und darum ist es so wichtig, dass die, die ihm gehören, bei ihm bleiben. Es gibt einen Vers: „Bei dir, Jesu, will ich bleiben.“ Jesus sagt selbst: „Bleibt in mir, und ich bleibe in euch.“ Er gebraucht dafür ein ganz unerhörtes Bild: wie die Rebe am Weinstock, wie die Rebe am Weinstock.
Zweiter Schwerpunkt: Die Grenzen der Vernunft im Glauben
Nun, ich muss weitergehen. Der verschwundene Jesus – im Trubel war er verloren gegangen. Jetzt komme ich zu meinem zweiten Punkt: Die Vernunft führt in die Irre. Das muss ich deutlich sagen, denn wir treten in eine neue Zeit der Aufklärung ein, und das darf nicht übersehen werden. Die Vernunft führt in die Irre – oder besser gesagt, die Vernunft führt in die Ehre. Habt ihr den zweiten Teil verstanden? Vernunft führt in die Ehre.
Ich möchte, dass alle das begreifen, damit es keine Missverständnisse gibt. Sehen Sie, wir kehren zurück zur Geschichte: Da haben also die Eltern Jesu auf einmal ihren Sohn verloren. Der Pflegevater Josef und Maria – er ist weg. Zuerst herrschte panisches Entsetzen. Ich kann mir das gut vorstellen, so wird es gewesen sein. Glauben Sie mir, ich kenne die Männer. Dann hat Josef gesagt: „Also jetzt mal keine Panik, erst mal Ruhe bewahren. Wir wollen dreimal tief durchatmen.“ Vielleicht meinte das auch die Frau, und die Männer waren völlig in Panik. Das gibt es auch, nicht wahr? Da muss doch jemand die Ruhe bewahren. Also eins von beiden ist immer da – derjenige, der in dem Augenblick sagt: „Jetzt keine Panik, wir atmen dreimal tief durch und überlegen, ehe wir lossuchen. Man muss erst überlegen.“
Dann hatten sie vorzügliche Gedanken, und der erste Karawanenführer war natürlich schon losgereist mit den Leuten, die nach Nazareth reisen. Ganz klar: „Ja, da müssen wir hinterher.“ Meine Freunde, es ist immer gut, wenn man nichts überstürzt und erst mal ruhig überlegt. Meine Freunde grinsen, weil sie denken, Pascal Wusch hätte sich in seinem Leben sehr viel Mühe erspart, wenn er das immer gemacht hätte. Und meine Jungs hätten sich manchen Blödsinn erspart, wenn sie dreimal tief geatmet hätten und erst die Vernunft eingeschaltet hätten. Das ist immer eine gute Sache.
Nur, liebe Freunde, gegenüber Jesus genügt das nicht. Unsere unerleuchtete Vernunft genügt nicht gegenüber Jesus. Die Eltern waren tagelang gereist, kamen zu der vorgereisten Karawane und fanden ihn nicht. Die Überlegung war vergeblich, oder wie man sagen könnte, sie war für die Katz. Das scheint mir das Entscheidende an dieser Geschichte zu sein: Unsere klugen Überlegungen, die für das ganze Dasein außerordentlich brauchbar sind – oh, die kopflosen Leute, wir sind ja alle nicht fürchterlich dumm – unsere klugen, vernünftigen Überlegungen genügen nicht, wenn es um Jesus geht, wenn es um das Seligwerden geht, wenn es um Gott geht. Dann genügt unsere Vernunft nicht. Das kann ich gar nicht laut genug betonen.
Sehen Sie, wie heißt es hier? „Sie meinten aber, er wäre bei Gefährten.“ Es gibt unzählige Menschen, die an Jesus ihr Leben lang vorübergelaufen sind, weil sie etwas Kluges meinten und sich von der unerleuchteten Vernunft leiten ließen. Ganz Essen ist religiös, es gibt keine Atheisten in Essen, nicht wahr? Der Gottlose sieht den Glauben an den Herrgott. Aber sie lassen sich von der Vernunft leiten, von der unerleuchteten Vernunft.
Ich habe auf meinem Weg jetzt deutlich gesagt: Hier kann ich gar nicht deutlich genug rote Signalflaggen aufziehen. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. Die Pharisäer zur Zeit Jesu meinten – und das meinen die Pharisäer heute auch unter Ihnen: „Ich bin doch gut. Der alte Kant hat Recht gehabt: Nichts ist wichtiger als der gute Wille.“ Damit müsse man zufrieden sein, und damit müsse Gott zufrieden sein. Und dann meinen sie, sie könnten vor Gott bestehen und selig sterben, weil sie in ihren eigenen Augen gut sind. In ihren eigenen Augen meinen sie, in den Augen Gottes Recht zu haben.
Was wird das für ein Schrecken sein, wenn am Jüngsten Tag die Toten auferstehen – wir alle! Und wenn Sie nicht glauben, dann warten Sie mal ab, wenn die Toten auferstehen und die Bücher aufgetan werden, das Buch Ihres Lebens aufgetan wird und alle Sünden an den Tag kommen. Wenn Sie nicht glauben, warten Sie ab! Ich glaube dem Wort, wir trauen seinem Wort, wir haben es ja eben gesungen: Wir trauen seinem Wort. Was wird das für ein Schrecken sein? Wir werden am Jüngsten Tag Welten zusammenbrechen sehen, wenn die Menschen merken: „Mein, mein, das war eine große Naht! Ich habe mich von der Vernunft leiten lassen, wenn es ums Seligwerden ging, und meine Vernunft hat mich verführt.“
Sehen Sie, Maria und Josef liefen tagelang hin und her, weil sie meinten, ihre Überlegung könnte sie zu Jesus führen. Aber wo es um Jesus geht, genügt unsere Vernunft nicht. Verzeihen Sie, wenn ich sage: Das habe ich jetzt schon 25 Mal gesagt, man könnte es heute 55 Mal sagen – und der Mensch glaubt es noch nicht.
Sehen Sie, die Geschichte wird in der Bibel erzählt, wie der Apostel Paulus nach Athen kommt und auf dem Marktplatz den Stoikern und Epikureern predigt, dass Gott in Jesus zu uns gekommen ist, dass unsere Sünde ans Kreuz getragen wurde, dass Jesus auferstanden ist, der Richter der Welt ist. Es wird erzählt, dass diese klugen Leute, diese Philosophen, ihn einfach auslachten. „Was will dieser Quatschkopf, dieser Lotterbube sagen?“ Sie meinten, ihre Religion und Philosophie sei dem Evangelium Gottes haushoch überlegen.
Als ich neulich in Göttingen Vorträge hielt, war ich erstaunt. So etwas habe ich in meinem Leben schon lange nicht mehr erlebt. Sie meinten, so dumme Sachen könne man heute nicht mehr vertreten. Ihre Vernunft verführt sie, sodass sie nicht wissen, dass es kein anderes Heil gibt als in Jesus, dem gekreuzigten und auferstandenen Heiland.
Wie kann die Vernunft einen Menschen verführen? Genau wie die Leute unserer Tage. Meine Freunde, die Menschen unserer Tage – und viele sitzen so hier – meinen, mit ein bisschen natürlicher Religion, Herrgott und so, ein bisschen Vernunft und ein bisschen Tüchtigkeit, so ein Cocktail, schön gemischt, das genügt doch, um selig zu werden. Ich sage Ihnen: Es genügt, um in die Hölle zu kommen!
Hier gilt nicht Ihre gute Meinung, sondern das Evangelium sagt: Wir sind allzumal Sünder und können nur gerecht werden durch den, der am Kreuz starb. Nur da war Ruhe vor unserer Meinung, unserer gefährlichen Meinung. Da war in Korinth eine Gemeinde, die begriffen hatte, dass nur der Glaube an den gekreuzigten Sohn Gottes retten kann. Das hatten sie begriffen.
Schön. Und nun haben Sie weitergemacht. Von da an haben Sie gemeint: „Ja, Mensch, dann ist es eine einfache, schöne Sache. Dann glauben wir an Jesus und können von da an leben, wie wir wollen. Da können wir unseren Trieben alle Zügel schießen lassen, Jesus vergibt ja, Jesus vergibt ja, nur nicht auf die Werke vertrauen, Jesus vergibt.“ Und dann kamen die schändlichsten Sachen vor. Sie meinten, das ginge auf.
Da hat Paulus mit aller Strenge sagen müssen: „Nur wer vom Geist Gottes getrieben ist, ist ein Kind Gottes.“ Welche Christus angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden. Haben Sie gehört? Welche Christus angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden.
Oh, meine Freunde, wie sehr verführt das Denken, dass wir an Jesus vorüberkommen! Ich hoffe, Sie haben verstanden: Bei ihm genügt nicht die Vernunft. Da müssen wir – das müsste ich jetzt auch 55 Mal sagen – erleuchtet werden durch den Heiligen Geist Gottes.
Brüder, die Welt macht sich religiös oder was sie will, es bleibt bei dem Wort: Der natürliche Mensch von sich aus, ohne den Geist Gottes, ist ihm eine Torheit. Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren gehen. Uns aber hat es Gott geoffenbart durch seinen Geist.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie die stolzen Worte mitsprechen können, in dem Ruf: „Welche Gnade ist uns zuteil geworden! Uns hat es Gott geoffenbart durch seinen Geist.“ Gott schenke uns erleuchtete Augen und das Verständnis durch den Heiligen Geist.
Dritter Schwerpunkt: Die Enttäuschung über das Fehlen Jesu in der Gemeinschaft
Der verschwundene Jesus, im Trubel verloren – die Vernunft führt irre. Ja, es ist schlimm, aber ich bin gleich fertig, keine Bange.
Drittens muss ich noch von einer schlimmen Enttäuschung sprechen. Joseph und Maria meinten, Jesus wäre unter den Gefährten. Im Griechischen steht dafür ein interessantes Wort in der Einzahl. Es bedeutet eigentlich die Straßengemeinschaft, man könnte auch sagen die Reisegesellschaft oder die Karawane – eine geschlossene Gruppe. Sie dachten, Jesus müsse bei der Reisegesellschaft der Nazaretener nach Hause sein. Das hätte ich auch gedacht.
Welche Enttäuschung, wo man Jesus mit Recht vermuten konnte, war er nicht. Haben Sie verstanden? Dort, wo man Jesus mit Fug und Recht vermuten konnte, war er nicht – welch eine Enttäuschung!
Sehen Sie, in meiner lieben Wahlheimat Württemberg hat es durch die Jahrhunderte viele Väter im Glauben gegeben, richtige Männer, von denen jahrzehntelang eine geistliche Durchwirkung ausging. In der Lebensgeschichte eines dieser einfachen Männer, eines Vaters im Glauben, las ich als Junge in eurem Alter von seiner Abscheu vor den schmutzigen Vergnügungen seiner Kameraden. Er hatte einen unbestimmbaren Hunger nach Freiheit, Kraft und einem neuen Leben – einfach einen vom Geist Gottes geweckten Hunger nach Gott.
Aber es war die Zeit der Aufklärung am Anfang des vorigen Jahrhunderts, und niemand verstand ihn. Eines Tages kam er an einer Kirche vorbei, gerade als die Glocken läuteten. Da dachte er so ungefähr: „Da drin ist doch eine Karawane, die zum Himmel reist.“ Was sonst könnte eine Versammlung in der Kirche sein? Eine Synode, eine Weggenossenschaft, die zum Himmel zieht.
Vielleicht finde ich dort Rat, dachte er, und ging in den Gottesdienst. Es ist erschütternd geschildert, ich erzähle es euch. Er drängte sich auf die Galerie der Dorfkirche. Zuerst war es erschütternd, dass alle Leute sich über schrecklich belanglose Dinge leise unterhielten. Er dachte, diese Reisegesellschaft müsste jetzt von großen Dingen erfüllt sein.
Doch er hörte hinter sich, wie zwei sich ganz scheußlich zankten, leise und aufgeregt. Er sah ein paar Mädchen, die offenbar nur gekommen waren, um Jungs zu treffen und sich mit Gekicher bemerkbar zu machen. Er war ziemlich entsetzt.
Dann begann der Gottesdienst, und es erklang ein klägerischer Gesang. Die Hälfte der Leute war gar nicht mit dabei. Er dachte: „Ist das der Gesang der Kraft, der Reisegesellschaft zum Himmel? Der Gesang der Erlösten?“ Sie saßen da, hielten den Mund und hörten zu, wie schön der Organist spielte.
Als die Predigt begann, war sie ein wirres Gemisch aus Religion und Lebensweisheit. Da stand er leise auf, ging hinaus und wusste: Es ging ihm wie den Eltern Jesu. Sie dachten, er sei unter der Karawane, der Reisegesellschaft nach Hause gezogen. Sie suchten ihn, fanden ihn aber nicht.
Verstehen Sie, was ich sagen will? Das Erschreckendste, was geschehen kann, ist, dass Jesus nicht in der Karawane ist, wo man ihn suchen müsste.
Man muss jeden unserer Gottesdienste, Jugendkreise, Abteilungen und Mädchenkreise fragen: Ist Jesus bei euch? Nicht: Ist bei euch was los? Sondern: Finden hungrige Seelen bei euch Jesus? Begegnet hier der Mann mit den Nägelmalen, der von Erlösung spricht, den hungrigen Seelen?
Unser ganzer kirchlicher Betrieb, meine Freunde, dreht sich um die Frage: Ist Jesus dabei? Die Reisegesellschaft, die nach Hause zieht – und er ist gar nicht dabei, wo man ihn suchen könnte.
Die Frage an die Kirche ist nicht, ob sie modern ist – ach du lieber nicht, das erfolgt ja –, sondern ob Jesus dazwischen ist, der wirklich existierende Heiland.
Und das ist die Frage an unsere Gemeinschaft hier, an unseren Gottesdienst, an unsere Bibelstunde: Ist Jesus heute hier? Sonst wäre es besser, die ganze Sache zu beenden.
Wenn Jesus nicht da ist, wo man ihn mit Recht und Fug suchen sollte – ich weiß von Diakonanstalten, Missionshäusern –, da könnte man Jesus doch vermuten, und er ist nicht dabei.
Ist Jesus hier? Ist Jesus in eurer Abteilung? Ich frage nicht aus dem Schaum, den ihr macht, sondern ernsthaft: Ist Jesus dabei?
Meine Freunde, wenn das der Fall ist, dass der Heiland der Welt da ist, dann soll es uns völlig gleichgültig sein, ob die satten Leute, die Selbstgerechten oder Sünder uns verachten und verspotten. Das soll uns dann gleichgültig sein.
Ich möchte in der Karawane reisen, wo er dabei ist, mit seinem Geist umgeben.
Schlussgebet und Bitte um Gottes Gegenwart
Lassen wir uns beten.
Ach Herr, ich bin Dir so dankbar, dass man Dich nicht vergeblich sucht, so wie Maria Dich fand. Dürfen auch wir Dich finden!
Ich möchte Dich bitten: Gib, dass hier Menschen Dich finden und bei Dir bleiben. Wirke hier wiedergebuchte Durchbrüche, die bleiben – bis ins ewige Leben.
Gib, dass wir hier nicht nur zur Schau stellen, sondern dass hier wirklich Dein Reich gebaut wird! Amen!