Die Matratze

Jugendgottesdienst
Konrad Eißler

Ein halbes Leben sitzt der Gelähmte bereits am Teich Bethesda, krank und vor allem einsam. Jesus hat die Lösung für seine Krankheit, für seine Einsamkeit und für sein Schuld. Jesus fragt nicht nur ihn, sondern jeden von uns: Willst du auf die Füße kommen? Willst du neu anfangen? Willst du gesund werden? - Jugendgottesdienst aus der Stiftskirche Stuttgart. [Das Manuskript ist nicht wortidentisch mit der Aufnahme.]


Wer kennt nicht den Mann mit der Mütze? Vom Spielfeldrand aus dirigiert er seine Holzhackerbuben. Vorne lässt er schießen, in der Mitte säbeln und hinten die Kiste dicht machen. Für eine Fußball­überraschung ist dieser Bundesligadompteur immer gut. Schlappi natürlich, der Erfolgstrainer von SV Mannheim, ein Mann mit der Mütze. Oder wer kennt nicht den Mann mit dem Schläger? Auf dem Kunstrasen zeigt er seine Kunststücke. Mit rechts serviert er die Asse und mit links kassiert er die Millionen. Jungstars lässt er alt aussehen. Bumm Boris natürlich, der Tenniscrack von Leimen, ein Mann mit dem Schläger. Oder wer kennt nicht den Mann mit dem Auto? Sein erster Benzinmotor mit Glührohrzündung zündete besser als die miese Fernsehshow aus der Schleyerhalle. Er hat klugerweise Sterne nur auf Blech schrauben und nicht Stars so viel Blech schwätzen lassen. O Heimat deine Sterne! Gottlieb Daimler natürlich, der “Diftler” aus Schorndorf, ein Mann mit dem Auto.

Aber wer kennt noch den Mann mit der Matratze? Am heiligen Sabbat rennt er damit durch die Stadt. Wie eine Siegerfahne schwenkt er seine Schlaraffia, überall bleiben die Leute stehen und schütteln die Köpfe. “Der Mann hat nicht nur ein Brett, sondern ein ganzes Bett vor dem Kopf. Weiß denn dieser Penner nichts mehr von Sonntagsruh? Matratzendemos haben uns gerade noch gefehlt.” Den Typ jedoch kratzt das nicht. Er stürmt weiter, auch wenn es Ärger gibt. Wer so viel erlebt, kümmert sich nicht um das Gewäsch der Leute. Unvergessen ist er, der Straßenstürmer von Jerusalem, ein Mann mit der Matratze. Aber damit sind wir schon beim dritten Teil, ohne den ersten und zweiten überhaupt zu kennen. Man soll doch den Gaul nicht am Schwanz aufzäumen und die Predigt nicht mit dem Amen beginnen. Gehen wir also schon der Reihe nach und beginnen mit dem ersten Teil. Überschrift:

1. Der Mann auf der Matratze

“Der lag 38 Jahre krank.” Vor 38 Jahren, also im Jahr 1948, habt ihr noch fröhlich Wolken geschoben. Mit 38 Jahren hat man den Gipfel seiner Kraft überschritten, die Haare machen sich selbständig und die Zähne werden locker. 38 Jahre ist ein halbes Leben. Diese lange Zeit verbrachte der Mann auf der Matratze. Sicher hatten ihn seine Eltern von Quacksalber zu Quack­salber geschleift und auf Besserung gehofft. Als aber die Hände immer mehr versteiften und die Füße nicht mehr trugen, waren sie am Ende mit ihrem Latein. Jetzt konnte nur noch ein Wunder retten. Und so wie es heute eine Grotte von Lourdes gibt, wo man sich Be­freiung von Krückstöcken und Rollstühlen verspricht, so gab es damals einen Teich von Bethesda, wo man sich Entlastung von Ischias und Krebs erhoffte. Fünf Hallen waren rappelvoll, ein Zeichen dafür, dass nur wenige geheilt wurden. Die Chancen waren äußerst gering. Nur wer bei Ausbruch der Heilquelle als Erster ins Wasser stieg, durfte auf Heilung hoffen. Diesen schrecklichen Sprint der Krüppel konnte unser Mann nie und nimmer gewinnen. Nach so viel Jahren war er alleinstehend, besser alleinliegend. Er hatte keinen Menschen, der ihm unter die Arme griff. Er hatte keinen Menschen, der ihn auf den Buckel nahm. Er hatte keinen Menschen, der mit ihm diesen Hoffnungslauf versuchte. Man müsste doch meinen, dass sich Kranke solidarisieren. Man müsste doch annehmen, dass sich Elende einander helfen. Man müsste doch vermuten, dass angesichts solchen Schicksals ein Stück Leidensgemeinschaft praktiziert wird. Aber Pfeifendeckel! Das Recht des Stärkeren gilt auch unter den Schwachen. Immer ist ein anderer schneller, klüger, gescheiter. Immer ist ein anderer jünger, hübscher, stärker. Immer hat ein anderer bessere Beziehungen, bessere Manieren, bessere Noten. Wie mache ich es nur, dass ich als Nächster drankomme bei der Bewerbung? Wie schaffe ich es nur, dass ich als Nächster drankomme bei der Beförderung? Wie packe ich es an, dass ich als Nächster drankomme bei der Gehaltserhöhung? Der Kranke sagte: Ich habe keinen Menschen. Der Elende sagte: Ich habe niemand. Der Mann auf der Matratze war allein.

Nun liebe Freunde, wir können doch in Stuttgart diese Story von Jerusalem mit ruhigem Puls anhören. Solche vereinigten Hüttenwerke des Jammers wären schon längst von der Gesundheitspolizei geschlossen worden. Allein in Stuttgart gibt es 47 Krankenhäuser mit 7000 Betten und 50 Altenheime mit 5000 Betten. 12000 mal Platz für solche, die liegen müssen. 12000 mal Hilfe für solche, die nicht mehr können. 12000 mal Heimat für solche, die Pflege brauchen. Bethesda ist out. Aber stimmt das? Ein Langzeit­kranker bekennt: Ich habe einen Arzt, der einfach Spitze mit Spritzen ist, aber bei der Visite bleibt keine Zeit für ein Gespräch. Ich habe Schwestern, die sich rührend um mich kümmern, aber wegen der Schaukelschicht sehe ich immer wieder andere Gesichter. Ich habe Verwandte, die nach mir schauen, aber das Mitleid erlahmt und der Besuch wird zur Routine. Ich habe Versorgung, ich habe Pflege, ich habe Betreuung, aber ich habe keinen Menschen. Ich habe niemand. Ich bin allein.

Um die gleiche Erfahrung zu machen, musst du gar nicht auf der Matratze liegen. “Die ganze Welt ist ein Lazarett” hat Heinrich Heine gesagt. Du kannst zuhause am Tisch sitzen und sagen müssen: Ich habe Eltern, die mich versorgen, aber verstehen tun sie mich nicht. Du kannst in der Schule auf dem Stuhl hocken und sagen müssen: Ich habe Lehrer, die etwas drauf haben, aber persönlich lernen kann ich nichts. Du kannst in der Disco im Sessel knutschen und sagen müssen: Ich habe Kumpels, die was los machen, aber mitfühlen tun sie nicht. Du kannst sogar in der Kirche unter der Masse auftauchen und sagen müssen: Ich habe Pfarrer, die einen runterschwätzen, aber keinen blauen Dunst haben von dem, was in mir vorgeht. Ich habe Futter. Ich habe fun. Ich habe money, aber ich habe keinen Menschen. Ich habe niemanden. Ich bin allein. Mögen sich die Verhältnisse geändert haben, die Not ist geblieben. Ob Hüttenwerk oder Betonklötze, ob Tümpel oder Mineralquellen, ob Hygiene oder Schmutz, der Mensch ist derselbe, der verlassene und allein gelassene Mensch. Bethesda ist in. Das ist also das Erste: der Mann auf der Matratze. Nun der zweite Teil. Überschrift:

2. Der Mann von der Matratze

“Der nahm sein Bett und ging hin.” Leidensgenossen sperrten Mund und Augen auf. “Uns tritt das Pferd. Der hat doch keinen Sprint gewonnen. Wie kommt der Mann von der Matratze?” Ihnen ist anscheinend entgangen, dass plötzlich der Herr in diesen Buden aufgetaucht war. Jesus diskutiert nicht nur in kirchlichen Kreisen, wo er biblisches Wissen voraussetzen kann. Jesus konferiert nicht nur mit politischen Spitzen, wo er entscheidende Dinge bewegen kann. Jesus diniert nicht nur an höfischen Tafeln, wo er feine Pinkel ansprechen kann. Jesus proklamiert seine Hoffnung unter den Hoffnungslosen. Für ihn gibt es keine hoffnungslosen Orte. Alle Orte sind Gottes Orte. Für ihn gibt es keine hoffnungslosen Leute. Alle Leute sind Gottes Leute. Für ihn gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Alle Fälle sind Gottes Fälle, auch dein Fall. Als Jesus den liegen sah, machte er es nicht wie jener Priester, der einem Zusammengeprügelten begegnete. “Mein Gott, nichts wie weiter”, sagte der sich: “Ich sehe Räuber 100 Meter weiter, wie sie mir den Schädel eindellen. Ich sehe meine Familie, wie sie ohne den Papa auskommen muss; ich sehe meine Kollegen, wie sie allein im Tempel räuchern.” Der Priester sah fern. Der Gottesmann hatte eine Mattscheibe. Der Theologe war der erste Fernseher. Jesus aber ist Nahseher. Der Sohn Gottes sieht das vor seinen Füßen. Der Heiland nimmt sich der Elenden an. “Willst du gesund werden?”, fragte er. Bitte, das war keine Suggestionsfrage, die den erschlafften Willen des Kranken stimulieren will. Das war auch keine Initialfrage, die irgendein Gespräch in Gang setzen will. Nein, das war eine Testfrage, die den tiefen Willen des Kranken erkennen will. Es gibt nämlich ein Verliebtsein und eine Flucht in die Einsamkeit, die man letztlich gar nicht geändert haben will. Willst du gesund werden oder nur befreit von den Schmerzen? Willst du gesund werden oder nur befreit von dem Druck? Willst du gesund werden oder nur befreit von den Problemen? Willst du gesund werden, an Leib und Seele gesund? Unserem Langzeitkranken blieb die Spucke weg. Er vergaß schlicht “ja” zu sagen. Stattdessen legte er seine alte Platte auf und begann seine Krankheitsgeschichte herunterzuspielen. Jesus ging darüber hinweg. Jesus geht immer darüber hinweg. Er fragt dich: Willst du aus dem Loch heraus? Willst du auf die Füße kommen? Willst du neu anfangen? Willst du gesund werden? Willst du? Schieb’s nicht weg. Wink’ nicht ab. Sag einfach “ja, Herr, tausendmal ja!” Und darauf sagt Jesus: “Glaub mir. Steh auf! Geh hin!” Der Mann kam von der Matratze. Einsamkeit ist nicht unser Schicksal. Wir müssen nicht elendiglich verkommen. Es gibt Hoffnung auf Heilung und Heil. Kurz unser letzter Teil. Überschrift:

3. Der Mann mit der Matratze

Der krönte seine Demo mit einem “go-in” im Tempel. Ich könnte mir vorstellen, dass die Türsteher blass wurden: “Was ist das für eine Sperrgutabfuhr? Hier werden nur Turteltauben und Lämmer und Kälber geschlachtet, aber keine Matratzen. Die Müllkippe befindet sich auf dem andern Hügel.” Aber der Mann ging mit dem Kopf durch die Wand und mit der Schlaraffia durch den Tempel. So wie ein Gipfelstürmer sein Fähnchen auf die Bergspitze pflanzt, so hisste er sein Siegeszeichen an diesem Ort. Und dort traf er noch einmal mit Jesus zusammen, fast zufällig und überhaupt nicht erwartet. Der gibt ihm ein letztes Wort mit: “Siehe, du bist gesund geworden, sündige hinfort nicht mehr, dass dir nichts Schlimmeres widerfahre.” Für einen Augenblick setzt er sein Bett ab. Fragend schaut er diesen Heiland an. “Was soll das heißen? War 38 Jahre Bethesda nicht schlimm genug? War 38 Jahre Krüppel nicht schlimm genug? War 38 Jahre Einsamkeit nicht schlimm genug? Herr, gibt es noch etwas Schlimmeres?” Aber dann geht es ihm auf und dir muss das auch aufgehen: Leiden und Schmerzen sind schlimm, aber schlimmer ist das Bleiben in der Sünde, in der Entfernung von Gott. Zweifel und Verzweiflung sind schlimm, aber schlimmer ist das Weitersündigen des Gesunden. Krankheit und Einsamkeit sind schlimm, aber schlimmer ist die unvergebene Schuld. Weh mir, wenn ich im Sumpf der Schuld weitersuhle.

Lieber Freund, das Schlimmste besteht nicht darin, dass einer 38 Jahre lang auf dem Schragen liegen muss, sondern darin, dass einer ewig verlorengehen kann. Und das Herrlichste besteht nicht darin, dass einer nach 38 Jahren seine Matratze schultert, sondern dass Jesus für ihn die Schuld auf den Buckel nimmt. Gott sei Dank, dass es den Mann mit dem Kreuz gibt, Gott sei Dank.

Amen