Liebe Gemeinde,
in Traugesprächen weise ich die beiden Kandidaten in der Regel auf folgenden nüchternen Grundsatz hin:
Ich sage Ihnen immer, glauben Sie ja nicht, dass Sie Ihren künftigen Ehemann oder Ihre künftige Ehefrau im Laufe der Ehe grundsätzlich verändern können. Glauben Sie das nicht.
Wenn Sie ihn oder sie heiraten wollen, müssen Sie bereit sein, ihn oder sie ein Leben lang so zu ertragen, wie er oder sie jetzt ist – in allen Facetten. Manchmal sehe ich dann ein freundliches Lächeln oder ein kleines Erschrecken, wenn ich feststelle, wie viele Ehen daran gescheitert sind, dass einer von beiden dachte: „Ach, wenn wir erst mal verheiratet sind, werde ich ihm das und das schon noch abgewöhnen. Dann werde ich sie noch nach meinem Bild prägen. Das kommt schon noch.“
Liebe Gemeinde, nichts ist so schwer zu verändern wie das Herz und die Eigenarten eines lebendigen Menschen.
Die Bedeutung der Taufe als Zeichen der Verheißung
Darum verweist das Zeichen der Taufe auf eine ganz unerhörte Wahrheit. Man hat gesagt, dass mit dem Zeichen der Taufe und der Salbung der lebendige Gott seine Verheißung verdeutlicht, die er uns mit dem Wort gegeben hat.
Dieses Taufwasser hat eine starke symbolische Aussagekraft. So wie Wasser Schmutz abwäscht, will Christus uns den inneren Schmutz unserer Sünde vergeben. Deshalb sagte der Apostel Petrus auch in seiner Predigt: "Lasst euch taufen zur Vergebung eurer Sünden" (Apostelgeschichte 2,38). Damit meinte er nicht, dass durch die Taufe automatisch die Sünde vergeben wird, sondern dass Gott in der Taufe seine Verheißung bekräftigt, dass der, der an ihn glaubt, Vergebung seiner Schuld empfängt.
Wie man in Wasser ertrinken kann, so soll unser altes Leben ohne Gott ertränkt werden. Es soll in den Tod gegeben werden, um zu einem neuen Leben mit Jesus Christus aufzuerstehen. Darum sagt der Apostel Paulus in Römer 6,3: "Wir sind mit Christus begraben durch die Taufe in den Tod, damit wir auch in einem neuen Leben wandeln."
Dieses neue Leben, die Taufe in den Tod des alten Lebens, folgt nicht automatisch aus der Taufe. Weder beim mündigen Täufling noch beim unmündigen Täufling. Aber die Taufe unterstreicht und besiegelt, was Gott jedem schenken will, der in seine Nachfolge eintritt: ein neues, ein verändertes Leben in der Nachfolge Jesu Christi.
Die Spannung zwischen altem und neuem Leben im Glauben
So steht es in Römer 6. Aber nach Römer 6 folgt bekanntlich Römer 7. In Römer 7 spricht Paulus von einem Problem, das auch zu unserem Christsein gehört. Nicht nur Römer 6 gilt, sondern auch Römer 7.
Unser altes Leben meldet sich noch sehr stark zu Wort, auch wenn wir Christen sind. Martin Luther hat es klassisch formuliert: Er sagt, der alte Mensch, der alte Adam, muss auch als Christ täglich neu ersäuft werden. Er fügt hinzu: „Aber das Biest kann schwimmen.“ Jemanden zu ersäufen, der schwimmen kann, ist gar nicht so einfach.
Das ist die Spannung, in der wir leben – die Spannung zwischen dem, was wir von Gott her eigentlich sind als Christen, und dem, was man im Alltag oft noch an uns sieht oder was wir an uns selbst wahrnehmen. Diese Spannung, diese Diskrepanz ist oft noch erschreckend groß. Und das war sogar beim Apostel Paulus so; er hat darunter sehr gelitten. Jesus weiß das.
Aber Jesus gibt sich damit nicht zufrieden. Er lässt uns mit diesem Problem nicht allein. Jesus will und kann uns weiter verändern. Darum ist Christsein absolut nichts Statisches. Manche denken: „Dann bin ich Christ, und dann geht das Leben immer so weiter.“ Doch Christsein enthält eine innewohnende Dynamik, die wir sonst nirgendwo finden.
Darum beginnt für einen Menschen, der Christ geworden ist, eine spannende Reise. Für ihn beginnt eine aufregende Lehrzeit. Jesus nimmt uns unter seine Fittiche, in seine Schule, und er fängt an, uns zu erziehen.
Das Leben als Jünger und die Verantwortung zur Veränderung
Die Jünger Jesu wurden Nachfolger genannt. Jünger bedeutet, dass sie Schüler waren – wörtlich übersetzt: Schüler Jesu Christi. Dabei handelte es sich jedoch nicht um Schüler, die vormittags von 8:15 bis 13:35 die Schulbank drückten. Vielmehr waren es Schüler, die in einer Lebensgemeinschaft von morgens bis abends mit ihrem Herrn unterwegs waren.
So nimmt Jesus uns in seine Schule auf. Dabei macht er uns nicht zu Marionetten, sondern übernimmt uns voll in die Verantwortung. Wir sollen nicht einfach nur da sitzen und sagen: „Nun, Herr, jetzt wollen wir mal sehen, wie du uns veränderst, wie du mich veränderst.“ Stattdessen zeigt uns Jesus in der Bibel Schritte, die wir gehen sollen – Schritte der Veränderung und des Wachstums.
Jesus baut seine Leute verbindlich in eine Gemeinde ein. Unsere Aufgabe ist es, einander dabei zu helfen, diese Schritte des Glaubens zu gehen. Dabei geht es nicht darum, einander auf die Pelle zu rücken oder sich gegenseitig zu belauern, sondern sich gegenseitig zu unterstützen.
Unser Predigttext heute Morgen zeigt uns einen solchen ganz wichtigen Schritt. Er zeigt uns die wohl wichtigste Hilfe, die wir einander auf diesem Weg leisten können.
Die Kraft des Gebets füreinander als Unterstützung im Glaubensweg
Diese Hilfe besteht schlicht darin, dass wir füreinander beten. Wenn wir einander dabei unterstützen wollen, dass in unserem Leben immer mehr Römer 6 und immer weniger Römer 7 zum Ausdruck kommt, also immer mehr das neue Leben und immer weniger die Schuld des alten Lebens, dann ist das Gebet füreinander eines der wichtigsten, ja das absolut wichtigste Hilfsmittel.
Paulus macht es uns vor. Er betet für seine Mitchristen in Ephesus und Umgebung. Es ist gut, dass er dieses Gebet aufgeschrieben hat, denn damit gibt er uns ein Vorbild. Er zeigt uns, wie wir füreinander beten können und sollen – und auch für uns selbst. Zugleich macht Paulus deutlich, was wir so dringend brauchen, wonach wir uns sehnen und wonach wir uns ausstrecken sollen. Es zeigt uns, was wir so sehr ersehnen sollen, dass wir den Herrn dringend darum bitten.
Dieses Gebet finden Sie aufgeschrieben im Epheserbrief Kapitel 3, Verse 14 bis 21. Am letzten Sonntag haben wir den ersten Teil untersucht. Dabei haben wir festgestellt, dass so viel darin steckt, dass man es in einer Predigt kaum schaffen kann, alles zu behandeln. Deshalb wollten wir uns heute in der Predigt den zweiten Teil anschauen.
Ich habe Ihnen den ersten Teil noch einmal klein gedruckt beigefügt, damit wir den ganzen Zusammenhang haben.
Zwei zentrale Bitten im Gebet des Paulus
Wir haben gesehen, dass das, was Paulus hier bittet, sich in zwei Hauptbitten bündeln lässt. Dieser ganze Gedankengang kann im Grunde genommen in zwei großen Bitten zusammengefasst werden. Zwei Bitten, zwei Ziele, die wir für uns selbst, für unsere Gemeinde und füreinander erbitten sollen.
Ich möchte die erste Bitte noch einmal kurz in Erinnerung rufen. Sie steht in den Versen 14 bis 17. Paulus schreibt: „Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem die ganze Familie im Himmel und auf Erden ihren Namen hat.“ So wird dieser Satz am besten übersetzt. Damit meint Paulus die ganze Familie der christlichen Gemeinde.
In Kapitel 2 hatte ich bereits erwähnt, dass Gott Juden und Heiden durch Jesus Christus zu einer neuen Familie zusammengefasst hat. Diese neue Familie besteht aus denen, die Gottes Kinder sein dürfen, die zu ihm Vater sagen dürfen und die als seine Erben eine großartige Zukunft vor Augen haben. Gott hat so viel Macht, dass er diese Familie gegründet hat.
Paulus schreibt weiter: „Ich beuge meine Knie vor dem Vater, von dem die ganze Familie im Himmel und auf Erden ihren Namen hat, dass er euch Kraft gebe, nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.“
Die erste Bitte: Stärkung des inneren Menschen
Sie können, wenn Sie das ausführlich noch einmal studieren wollen, sich dazu die CD vom letzten Sonntag noch einmal anhören. Wir hatten gesehen: Diese Bitte lässt sich folgendermaßen zusammenfassen.
Worum bittet Paulus? Er bittet um Folgendes: Er sagt, gebt ihnen Kraft, dass sie stark werden am inneren Menschen. Gebt ihnen Kraft, dass sie stark werden am inneren Menschen.
Wir hatten gesehen, dass der innere Mensch das Gegenstück zum äußeren Menschen ist – zum körperlichen, zum sichtbaren. Paulus hat an anderer Stelle gesagt: Darum werden wir nicht müde. Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Auch wenn wir alt werden, wird der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert. Auch wenn wir krank werden, wird der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert.
Der innere Mensch ist das, was übrig bleibt, wenn alles Äußere vergangen ist. Den inneren Menschen nehmen wir mit in die Ewigkeit. Dabei geht es um unseren Charakter, um unser Herz, um die Prägung unseres Lebens. In der Ewigkeit werden wir von Gott einen ganz neuen Leib, ein ganz neues Äußeres bekommen – eines, das nicht mehr sterblich und anfällig für Krankheit ist.
Wir haben dann weiter gefragt: Was geschieht da eigentlich, wenn der innere Mensch gestärkt wird? Das ist ja nicht einfach nur eine buddhistische Stärkung des inneren Lebens. Was passiert dann? Wie geht das vor sich? In welcher Weise werden wir da verändert?
Paulus hatte das konkretisiert. Er hat in Vers 17 gesagt: Wenn wir Gott um Kraft für den inneren Menschen bitten, dann bitten wir ganz konkret worum? Wir bitten darum, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne. Darum bitten wir, wenn wir um die Stärkung des inneren Menschen bitten.
Prinzipiell wohnt Christus ja in jedem Gotteskind. Jeder, der Christ ist, in dessen Leben wohnt Christus. Und Paulus schreibt hier ja an Christen – dafür müsste er eigentlich nicht mehr beten. Aber er meint hier noch mehr.
Wohnen ist nicht gleich wohnen. Das griechische Wort, das er an dieser Stelle verwendet, bedeutet, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohnt. Dass er so in eurem Herzen wohnt, dass er euch immer mehr regiert, immer mehr reinigt, immer mehr verändert und immer mehr gestaltet – nach seinem Willen.
So soll er wohnen in euren Herzen. Das heißt, dass Christus durch den Glauben in eurem Herzen wohnt, dass Christus seine Herrschaft in eurem Herzen immer weiter ausbaut und immer mehr festigt. Er nimmt immer mehr die Dinge aus eurem Leben heraus, die nicht zu ihm passen, und baut immer mehr die Dinge in euer Leben ein, die ihm entsprechen.
Darum bitte ich, sagt Paulus, dass du stark wirst am inneren Menschen. Das geschieht dadurch, dass Christus, der ja seit deiner Bekehrung in deinem Herzen wohnt, dich immer mehr bestimmt. Dass er immer vollständiger von deinem Herzen Besitz ergreift, dich immer umfassender transformiert, verwandelt und nach seinem Willen gestaltet.
Und wo das passiert – wissen Sie, was da mit Ihrem Lebenshaus geschieht? Da passt Ihr Lebenshaus immer besser zu seinem Bewohner, nämlich zu Jesus Christus. Da wird Ihr Lebenshaus immer angemessener dafür, dass der Herr Jesus in ihm wohnt. Da drückt Jesus Ihrem Leben und meinem Leben immer mehr seinen Stempel auf.
Je länger Jesus in unserem Haus wohnt, umso mehr soll es sein Wesen widerspiegeln. Das geht doch mit Ihrem Haus oder Ihrer Wohnung auch so: Je länger wir darin wohnen, umso mehr spiegelt dieses Haus unseren Charakter wider, unseren Geschmack, unsere Eigenarten, unsere Prägung.
Und genauso soll es mit unserem Haus auch sein. Je länger der Herr Jesus darin wohnt, herrscht, regiert, arbeitet und prägt, umso mehr entspricht es seinem Wesen.
Wir hatten das Ganze dann wunderbar zusammengefasst gesehen in einem Gedicht aus dem neunzehnten Jahrhundert von Jean Sophia Pigot. Sie hatte gesagt:
Präg mein Leben, heller Rainer, ähnlich deinem,
dass man sieht, wie die Kraft der Auferstehung mich in ihren Strudel zieht,
füll mein Herz und mach daraus immer sichtbarer dein Haus.
Füll mein Herz und mach daraus immer sichtbarer dein Haus.
Das war die erste Bitte: Herr, gib ihnen die Kraft, dass sie stark werden am inneren Menschen.
Und was meinen Sie, liebe Gemeinde, was wird sich alles ändern – in Ihrem Leben, in meinem und in unserer Gemeinde als Ganzes –, wenn wir so füreinander beten?
Die zweite Bitte: Erkenntnis der Liebe Christi
Und trotzdem ist Paulus an dieser Stelle noch nicht fertig mit seinem Gebet. Er hat jetzt noch eine zweite Bitte, die wieder sehr konkret und genau formuliert ist. Diese steht in den Versen 18 und 19.
Wir können wieder mit Vers 14 anfangen: „Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater.“ Jetzt, in Vers 18, heißt es: „Damit ihr voll imstande seid, mit allen Heiligen zu erfassen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, nämlich zu erkennen die Liebe Christi, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet hin zur ganzen Gottesfülle.“
Das ist die zweite Bitte, und man könnte sie so zusammenfassen: Gib ihnen die Erkenntnis, dass sie die unfassbare Liebe Jesu begreifen.
Erstens hat Paulus um eine besondere Kraft gebeten: Gib ihnen die Kraft, dass sie stark werden am inneren Menschen. Jetzt bittet er um eine besondere Erkenntnis: Gib ihnen die Erkenntnis, dass sie die unfassbare Liebe Jesu Christi begreifen.
Paulus benennt hier also den Gegenstand der Erkenntnis. Er sagt genau, was wir erkennen sollen. Ist Ihnen das aufgefallen? Er sagt nicht einfach: Gib uns, dass wir Christus besser erkennen. Sondern er sagt es noch spezieller und präziser: Er bittet um die unfassbare Dimension der Liebe Jesu Christi. Um diese geht es hier, um diesen ganz speziellen Aspekt.
Man könnte auch übersetzen: Ich bitte den Vater, dass er euch erkennen lässt, wie groß und lang und hoch und tief die Liebe Jesu Christi ist. Paulus weiß, dass das eigentlich gar nicht geht. Er fügt hinzu: „die doch alle Erkenntnis übertrifft“ (Vers 19).
Also ist das ein Paradox: Paulus sagt, ich bitte darum, dass ihr etwas erkennt, was ihr eigentlich gar nicht erkennen könnt. Aber ihr sollt wenigstens ein bisschen davon verstehen. Wir wollen wenigstens anfangen zu ermessen, was das bedeutet: die Liebe Jesu Christi zu uns.
Auch hier könnte man wieder sagen: Das gilt doch von Anfang an. Wenn jemand Christ wird, hat er doch schon einen ersten Begriff von der Liebe Jesu Christi. Die einfachsten Kinderlieder zeugen doch von der Liebe Christi: „Jesus liebt mich ganz gewiss, denn die Bibel sagt mir dies“ – „Jesus loves me as I know, for the Bible helps me so“. Natürlich! Oder: „Gott ist die Liebe, lässt mich erlösen“ – das kennen wir doch schon aus Kinderliedern.
Dennoch sagt Paulus: Ihr Christen habt eine Ahnung von der Liebe Christi, sonst hättet ihr euch gar nicht mit Vertrauen zu ihm hinwenden können. Aber ihr kennt die Liebe Jesu Christi noch lange nicht gut genug, noch bei weitem nicht. Ihr habt es nötig – wir alle haben es nötig –, dass wir lernen, die Liebe Jesu Christi noch viel mehr zu schätzen, sie noch viel mehr zu ehren und sie noch viel mehr zu erkennen.
Damit das geschieht, muss Gott an unserem Herzen wirken, und dafür wollen wir beten.
Merken Sie, das ist ganz ähnlich wie mit dem „Christus in unserem Herzen“ in Vers 17. Jesus wohnt doch von Anfang an im Herzen der Christen, aber er soll es dann immer mehr erfüllen.
Genauso ist es mit Vers 19: Ein Christ weiß von Anfang an etwas von der Liebe Jesu Christi, aber er soll – so sagt Paulus – diese Liebe Jesu Christi immer tiefer erkennen und immer mehr davon verstehen. Dafür lohnt es sich zu beten.
Das ist ganz, ganz wichtig, und ich möchte, dass Sie das sehr deutlich sehen: Diese wachsende, vertiefte Erkenntnis der Liebe Christi ist nicht einer kleinen Elite vorbehalten. Nicht nach dem Motto: Das sind die besonders Frommen, die besonders tiefsinnig sind, die es besonders ernst meinen. Deswegen sollen sie die vertieften Dimensionen der Liebe Jesu Christi kennenlernen. So sind das die Christen höherer Ordnung.
Nein, was sagt Paulus hier? Sie sehen es doch schwarz auf weiß: „Damit ihr imstande seid, mit allen Heiligen zu erfassen.“ Also gilt es für alle Christen. Das gilt für jeden normalen Christen. Das ist für alle, für die ganze Gemeinde gedacht, dass wir mit allen Heiligen immer mehr erfahren und erkennen die Liebe Jesu Christi.
Darum bittet Paulus: „Herr, bewege ihr Herz, auch euer Herz hier in Hannover, damit ihr immer mehr begreift, was eigentlich unbegreifbar ist.“ Nämlich die verschiedenen Dimensionen der unerfassbaren Liebe Jesu Christi.
Dann führt er das auf: Breite, Länge, Höhe, Tiefe.
Mit der Breite meint Paulus wahrscheinlich die Reichweite der Liebe Jesu Christi. Sie umfasst alle Völker. Vorher hatte er gesagt: alle Juden und Heiden, alle, die jemals über diese Welt gegangen sind, sind berufen von der Liebe Jesu Christi.
Diese Liebe Jesu Christi reicht aus, um alle zu retten, die sich an ihn wenden. Er hat genug geleistet, als er sein Leben als Sühneopfer für uns gab, damit alle – wirklich ausnahmslos alle –, die sich zu ihm flüchten, gerettet werden auf ewig. Das ist die Breite der Liebe Christi.
Paulus spricht dann von der Länge der Liebe Christi. Damit ihr imstande seid, zu erfassen, welches die Länge sei. Allerhöchstwahrscheinlich meint Paulus damit die Dauer.
Schauen Sie: Im ersten Kapitel sagt er, Gott hat euch erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt. Ihr dürft glauben, weil er euch das geschenkt hat – vor Grundlegung der Welt. Er hat euch erwählt, sagt Paulus, in Christus.
Da beginnt es mit der Liebe Christi, und dann schildert er, dass diese Liebe Christi kein Ende hat. Sie reicht bis in alle Ewigkeiten. Sie reicht, um uns auch durch die Stunde unseres Todes hindurchzutragen. Sie ist da und lässt uns nie mehr los. Das ist die Länge der Liebe Jesu Christi.
Dann spricht Paulus von der Höhe der Liebe Jesu Christi. Sie ist so hoch, so groß, sie überragt alle anderen Mächte. Das hat Paulus an anderer Stelle mal gesagt, im Römerbrief, in dieser berühmten Passage. Das klingt Ihnen wahrscheinlich im Ohr, wenn ich das jetzt lese:
So sagt Paulus: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist.“
Die Liebe Jesu Christi überragt alle anderen Mächte. Sie ist so stark, dass sie von keiner anderen Macht der Welt außer Kraft gesetzt werden kann.
Die Höhe der Liebe Christi bringt uns in den Himmel. Sie macht uns zu Gotteskindern. Sie erhöht uns in eine Stellung hinein, nämlich in die Stellung der Gotteskinder, die wir niemals verdient hätten als die alten Sünder, die wir sind. Das ist die Höhe der Liebe Christi.
Dann redet Paulus von der Tiefe der Liebe Christi, die wir erfassen sollen. Er will damit sagen: Die Liebe Jesu Christi steigt so tief hinab, dass es tiefer nicht mehr geht.
Die Liebe Jesu Christi steigt hinunter in den größten Schmutz, in die tiefste Sünde, in den finstersten menschlichen Abgrund.
Obwohl er ohne Sünde war, hat Gott, als Jesus am Kreuz hing, alle Schuld aller Menschen aller Zeiten auf ihn gelegt.
An anderer Stelle sagt Paulus: Jesus wurde zum Fluch für uns, obwohl er ohne Sünde war. Er wurde zum Fluch, er wurde verflucht um der Sünde willen, die auf ihn gelegt war.
Und es war meine Sünde und Ihre Sünde.
Deswegen gibt es keine Tiefe, die Christus mit seiner Liebe nicht ausgelotet hätte.
Deswegen gibt es übrigens auch keinen Menschen, der so schlimm dran ist und sich so viel hat zu Schulden kommen lassen, dass dieser Mensch nicht mehr von der Liebe Jesu Christi erreicht werden könnte.
Deswegen gibt es keine hoffnungslosen Fälle.
Deswegen gibt es keinen Menschen, von dem wir sagen dürfen: Für den lohnt es sich nicht zu beten, der ist so tief gefallen, für den gibt es keine Hoffnung mehr.
Paulus würde sagen: Bitte begreif doch etwas von der Tiefe der Liebe Jesu Christi, wie tief sie hinabgestiegen ist.
So darfst du Hoffnung haben – Hoffnung für Menschen, für die du die Hoffnung schon längst aufgegeben hattest.
Die umfassende Bedeutung des Erkennens der Liebe Christi
Oh doch, dass wir imstande sind, mit allen Heiligen zu erfassen, welche Breite, Länge, Höhe und Tiefe die Liebe Jesu Christi hat.
Und verstehen Sie: Wenn Paulus sagt, dass wir diese Liebe begreifen sollen, meint er damit zunächst das intellektuelle Erfassen. Wir sollen sie verstehen und die Zusammenhänge kennen. Doch in der Bibel geht es immer um ein umfassendes Erkennen. Erkennen bedeutet nicht nur Verstehen und Wissen, sondern immer auch eine persönliche Beziehung.
Wenn wir das von Jesus erfahren, kann es nicht einfach nur in unserem Oberstübchen bleiben. Die Wahrheit Jesu dringt in unser Herz ein und erfasst uns als ganze Menschen. Die Liebe Jesu Christi zu erkennen heißt, von ihm zu hören, Jesus Christus in seinem Wort anzuschauen und dadurch in unserem Herzen verändert zu werden. Darum geht es doch.
Man kann dabei nicht kalt und distanziert bleiben, wenn man sich klar macht, was Christus in seiner Liebe für uns getan hat. Das ist die Kraft der Wahrheit Gottes: Sie durchdringt unser Denken und dringt hinein in unser Herz, wo sie ihr Veränderungswerk vollbringt.
Erkennen bedeutet, dass wir immer mehr von der Liebe Jesu Christi erfasst werden, dass wir dankbarer werden und mehr darüber staunen. Es lässt unser persönliches Verhältnis zu Jesus Christus wachsen, wenn wir ihn in seiner Liebe immer mehr erkennen. Dann sagen wir: Herr, ich danke dir, dass deine Liebe in ihrer Breite, Länge, Höhe und Tiefe mir gilt, mein Leben herausgerissen und mich zu Gottes Kind gemacht hat. Dass du jetzt bei mir bist als mein Herr.
Das will Paulus für uns erbitten, und das sollen wir füreinander erbitten: dass wir so in der Erkenntnis der Liebe Jesu Christi wachsen. Und das geschieht, indem wir Christus in der Schrift betrachten.
Deshalb bin ich so dankbar, dass wir zurzeit in unserer Bibelstunde das Evangelium des Markus miteinander studieren. Dort betrachten wir Christus Absatz für Absatz, Vers für Vers. Wir sehen, wer der Herr Jesus Christus ist, was er in seiner Liebe, Heiligkeit und Macht getan hat, als er auf dieser Erde war.
Wir betrachten auch, wie sein Zorn über die Sünde keine Kompromisse duldete und wie er dennoch den Sünder, über den er zornig sein musste wegen seiner Heiligkeit, voller Liebe zur Umkehr rief und einlud.
Es ist so schön, dass wir Christus in der Schrift betrachten können. So lernen wir ihn kennen.
Dann können wir zu ihm beten, mit ihm sprechen und ihn bitten: Herr, mein Herz ist oft so kalt, so oberflächlich, so ungerührt von dem, was du alles getan hast. Ach, lass mich mehr erkennen von deiner Liebe, lass mich mehr darüber staunen, dich mehr ehren und anbeten, damit wir die Liebe Christi erkennen.
Die transformative Kraft der Liebe Christi und das Ziel der Gottesfülle
Und wenn wir die Liebe Jesu immer mehr erkennen und von Jesus immer tiefer in diese Bewegung hineingezogen werden, hat das Folgen. Diese Folgen zeigt uns Paulus hier deutlich. Er macht klar, dass die Erfahrung und Erkenntnis der Liebe Jesu Christi eine umwerfende, eine umwandelnde Kraft besitzt. Worum geht es dabei? Sie können es mit eigenen Augen sehen: Die Liebe Christi, die alle Erkenntnis übertrifft, zielt darauf ab, dass ihr erfüllt werdet hin zur ganzen Gottesfülle.
Hier ist jedes Wort wichtig. Paulus sagt: Wenn ihr die Liebe Christi immer mehr erkennt, dann zielt das darauf ab, dass ihr erfüllt werdet hin zur ganzen Gottesfülle. Die griechische Präposition, die hier verwendet wird, gibt eine Richtung an. Paulus sagt: In diese Richtung verändert euch Christi Liebe – damit ihr erfüllt werdet zur ganzen Gottesfülle.
Das heißt, das Ziel, auf das Gott uns hin verändert, ist, dass wir immer mehr er selbst werden. Wir sollen Gott selbst immer ähnlicher werden. Das ist hier gemeint. Gott selbst ist der Maßstab, zu dem er uns verändern will. Wir sollen verändert werden hin zur ganzen Gottesfülle.
Das bedeutet auch, dass für einen Christen noch sehr viel Platz für Wachstum bleibt. Oft denken wir, beim Christen komme es darauf an, dass wir gerettet werden. Das stimmt ja auch, und wenn das geschehen ist, dann sei alles erledigt, und nun könnten wir uns wieder unseren Alltagsthemen zuwenden. Die Bibel macht aber sehr deutlich, dass das erst der Anfang ist. Gerettet ist gerettet, aber jetzt geht es erst richtig los. Jetzt nimmt der Herr uns in seine Schule. Das endgültige Ziel wird erst in der Ewigkeit erreicht sein, wenn wir Gott in einer Weise ähnlich sein werden, die wir jetzt noch gar nicht fassen können.
Doch dieser Prozess der „Hausrenovierung“ beginnt schon hier. Paulus sagt das nicht nur an dieser Stelle, sondern immer wieder, weil es so wichtig ist. Zum Beispiel in 2. Korinther 3,18: Dort heißt es: „Wir werden verwandelt in sein Bild, in Christi Bild.“ Das sagt er über den Menschen, der hier auf der Erde lebt.
Oder in Römer 8,29, aus diesem Kapitel haben wir eben schon gelesen: „Denn die er zuvor ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes.“ Wir werden verwandelt in sein Bild. Gott ist der Maßstab, zu dem er uns verwandelt.
Das sagt nicht nur Paulus, sondern auch Jesus selbst. In Matthäus 5,48, in der Bergpredigt, steht dieser oft übersehene Satz: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Natürlich weiß Jesus, dass wir auf dieser Erde nie vollkommen werden. Aber er erklärt in der Bergpredigt, was das bedeutet.
Wir sollen immer mehr unsere Selbstliebe aufgeben. Wir sollen das scheinbar Unmögliche tun, nämlich den Feind lieben, statt ihn zu hassen. Wir sollen mit unseren Worten ganz wahrhaftig werden. Wir sollen sogar in unseren Gedanken rein werden und uns immer weniger von falschen, bösen und schmutzigen Gedanken beflecken lassen.
Gott will uns verändern, Schritt für Schritt. Dabei sollen wir uns nicht an anderen Menschen orientieren, um „menschlicher“ zu werden, wie man oft sagt, oder wie die Humanisten es fordern. Sondern wir sollen göttlicher werden. Verstehen Sie, das ist Gottes Ziel.
Gott will nicht nur unsere Taten verändern, sondern auch unsere Haltung und unser Wesen. Das ist es, was Paulus meint mit „verändert hin zur ganzen Gottesfülle“.
Ein passendes Bild dazu ist die Geschichte eines chinesischen Reisbauern in Südchina. Er hatte auf halber Anhöhe eines Berghangs ein Reisfeld. Während der Trockenzeit benutzte er einen selbst konstruierten Tretdraht, um Wasser aus dem Bewässerungsgraben auf sein Feld zu pumpen. Man kann sich das gut vorstellen: Das Feld lag an einem Abhang, und er hatte eine Abgrenzungsmauer gebaut. Unterhalb seines Feldes hatte ein Nachbar noch zwei weitere Felder.
Was machte der Nachbar? Nachts, wenn niemand hinsah, schnitt er die Trennmauer durch und ließ das Wasser auf seine Felder herabfließen. Was machte der Christ? Er blieb ruhig, flickte die Mauer wieder und pumpte das Wasser erneut nach oben auf sein Reisfeld. In der nächsten Nacht kam der Nachbar wieder, schnitt erneut die Mauer auf und ließ das Wasser wieder herunterlaufen.
Der Christ wusste nicht, was er tun sollte, und befragte einige Mitchristen. Sie beteten darüber und sagten: „Oh, wenn wir immer nur versuchen, das Richtige zu tun, erfüllen wir noch nicht, was der Herr wirklich will. Wir sollten versuchen, mehr zu tun als das, was recht ist.“
Was machte der Christ am nächsten Tag? Am Morgen pumpte er das Wasser zunächst für die beiden unteren Felder seines Nachbarn und erst am Nachmittag für sein eigenes Feld. Der Nachbar war darüber so erstaunt, dass er ihn fragte: „Warum machst du das? Was bewegt dich, meine Bösartigkeit mit dieser Freundlichkeit zu beantworten?“
Da antwortete der Christ, dass es Jesus Christus sei, der ihn dazu bewege. Er wolle lernen, sein Handeln immer mehr an der Liebe Gottes auszurichten.
Es wird berichtet, dass der Nachbar davon so bewegt war, dass er nach einiger Zeit des Nachdenkens und Prüfens zum lebendigen Glauben an Jesus Christus fand. Aus zwei verfeindeten Nachbarn wurden Glaubensbrüder.
Das Beispiel dieses Reisbauern ist so treffend, weil es zeigt: Es geht nicht darum, dass wir nur etwas freundlicher oder menschlicher werden. Vielmehr sollen wir verändert werden hin zur ganzen Gottesfülle. Und wir wissen, dass wir das aus eigener Kraft nicht schaffen.
Die Bedeutung von Liebe für Reife und Wachstum im Glauben
Und jetzt ist es spannend, wie Paulus diesen Zusammenhang deutlich macht. Er sagt nämlich: Leute, das ist ein Reifeprozess, ein Werden hin zur ganzen Gottesfülle. Und wodurch wird dieser Reifeprozess ausgelöst und am Leben gehalten? Durch das Erkennen der Liebe Jesu Christi.
Verstehen Sie, das ist der Zusammenhang zwischen Vers 18 und Vers 19. Er sagt, wir sollen immer mehr die tiefen Dimensionen der Liebe Jesu Christi erkennen. Je mehr wir die Liebe Christi erkennen, desto mehr wird dieser Reifeprozess in unserem Leben sich vollziehen. Umso mehr werden wir zu Gottes Standard hin verwandelt.
Wir sollen jetzt nicht krampfhaft versuchen, irgendwie göttlich zu werden. Das klappt sowieso nicht, das schaffen wir nie und nimmer. Vielmehr geht es darum, die Liebe Christi zu erkennen. Und im Erkennen der Liebe Christi werden wir verwandelt, sodass wir ihm immer ähnlicher werden.
Die Erfahrung von Liebe ist unverzichtbar für einen Reifeprozess. Dafür lassen sich schon zwischenmenschliche Beispiele bringen, die zeigen, dass das ein Grundprinzip ist. Ich will Ihnen deshalb noch ein solches Beispiel erzählen, das sich zugetragen hat.
Beim amerikanischen Theologen Perry Down und seiner Frau Sandy war kein eigenes Kind geschenkt worden. Aber sie haben das von Gott her als ihre Aufgabe begriffen, Kindern zu helfen, die keine Eltern haben, die sich um sie sorgen. Sie betreuten die Kleinen in der Phase zwischen Geburt und Adoption.
Im Laufe der Jahre nahmen sie viele Kinder in ihr Heim auf, meist für wenige Wochen, um ihnen Liebe und Hilfe zu geben, bis sie ein neues Zuhause gefunden hatten. Nun kam eines Tages die Jugendbehörde mit einer ganz ungewöhnlichen Bitte auf Perry und Sandy zu. Sie sagten: „Wir haben diesmal ein 18 Monate altes Zwillingspaar.“
Das passte gar nicht zu dem, was sie sonst immer taten, denn sie bekamen sonst immer Säuglinge. Aber sie sagten: „Das ist so schwierig die Situation, wir kennen kaum jemanden sonst, der das gut machen könnte.“ Dann sagten sie: „Gut, wir sind bereit, die beiden für sechs Wochen zu nehmen.“
In der ersten Nacht, als die beiden dann in ihrem Zimmer waren, wunderten sich Perry und Sandy, weil sie gar kein Schreien aus dem Zimmer hörten. Sie sagten: „Normalerweise, so junge Kinder, erste Nacht, die müssen sich doch dran gewöhnen, die müssen doch schreien.“ Doch sie hörten nichts.
Der Vater lugte dann noch einmal ins Zimmer hinein und wollte es gar nicht glauben: Da lagen die beiden mit aufgerissenen Augen hellwach. Ihre Kissen waren nass geweint, aber sie weinten nicht laut, sie schrien nicht. Das war unfassbar. Sie weinten ihre Kissen nass, weinten aber nicht laut.
Dann haben die beiden natürlich Nachforschungen angestellt, und es stellte sich heraus, dass das schon das neunte Zuhause war, in dem diese beiden Achtzehnmonatigen untergebracht wurden. Sie waren an früheren Stellen geschlagen worden, wenn sie nachts geschrien hatten.
Das hatte die Babys so beeindruckt, so verschreckt und verschüchtert, dass sie nicht einmal mehr wagten, laut zu weinen. Sie können sich vorstellen, wie entsetzt und bewegt Perry und Sandy waren. Aus den sechs Wochen, die sie die beiden nehmen wollten, wurden dann zwei Jahre, in denen sie versuchten, den Kindern wirklich die Liebe zu schenken, die sie von Gott erfahren hatten.
Die ersten Fachleute hatten gesagt, die Kinder hätten so schwere seelische und geistige Schädigungen durch diesen Liebesentzug davongetragen, dass sie emotional und geistig beschädigt seien. Sie würden nie mehr eine normale Entwicklung durchlaufen können.
Aber Gott hat es geschenkt. Gott hat es geschenkt, dass durch die Fürbitte und auch durch die Liebe, die diese Zwischeneltern den beiden Kleinen schenkten, sie doch reiften. Sie wurden emotional und geistig gesund. Als sie nach zwei Jahren weitergegeben wurden, konnte man es verantworten, und sie gingen auf einem gesunden Entwicklungsstand in ihr weiteres Leben.
Liebe ist nötig, um zu reifen. Natürlich wissen wir, dass der lebendige Gott in jedes Leben eingreifen kann. Gott ist so mächtig, dass er auch einen Menschen, der nirgendwo in seiner ganzen Kindheit Liebe erfahren hat, total verändern kann. Gott kann alles.
Aber jetzt im Hinblick auf unsere Verantwortung ist es so wichtig zu sehen, wie stark die seelische Stabilität unserer Kinder und ihr Reifen davon abhängig ist, dass sie Liebe in einem Elternhaus erfahren.
Paulus zeigt nun dieses Prinzip durch die Erkenntnis und Erfahrung von Liebe und Reife. Dieses Prinzip gilt auch für unser Verhältnis zu Jesus Christus. Je mehr wir seine Liebe erkennen und in ihr leben, umso mehr reift unser Glaube. Umso mehr werden wir verändert, sagt Paulus, hin zur ganzen Gottesfülle.
Und je mehr wir die Liebe Christi erkennen, hat das Folgen für die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Wer überwältigt ist von der Vergebung Jesu, von der Tiefe seiner Vergebung, der wird doch selbst viel leichter vergeben können.
Das hat auch Folgen dafür, wie wir mit unserem eigenen Leid und unserer eigenen Not umgehen. Wer mit Paulus weiß: „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Nichts Hohes, nichts Tiefes, kein Leben und kein Tod.“ Wer das weiß, wer diese Länge der Liebe Christi kennt, der wird auch in der schlimmsten Situation nicht in seiner Verzweiflung stecken bleiben.
Jesu Liebe verwandelt uns. Darum betet Paulus, dass diese unfassbare Liebe, die Christus uns erwiesen hat, immer mehr unser ganzes Leben bewegt und so unser Leben verändert. Und zwar so, dass wir immer ähnlicher werden dem Gott, der uns gemacht hat.
Diese Erkenntnis der Liebe Christi wird sich dann auswirken darauf, wie wir reden. Die Liebe Jesu, die wir erkennen und erfahren, wird sich darauf auswirken, wie wir denken, welche Prioritäten wir in unserem Leben setzen, welche Ziele wir uns vornehmen und welche Werte uns leiten.
Die Liebe Jesu Christi wird uns darin regieren, wie wir auf andere Menschen reagieren, wie wir auf die Bitten anderer reagieren, wie wir auf das Leid anderer reagieren und wie wir auf die Gemeinheiten anderer reagieren.
Die Erfahrung der Liebe Jesu Christi wird uns darin prägen, wie wir darauf reagieren und wie wir unsere Beziehungen untereinander gestalten. All das wird im besten Sinne des Wortes angesteckt, infiziert von der Liebe Jesu Christi, je mehr wir sie erkennen.
Darum bittet Paulus, und darum wollen wir füreinander beten. Zwei große Anliegen sind es, die Paulus uns in diesem Gebet aufs Herz legt.
Das Erste gibt ihnen die Kraft, dass sie stark werden am inneren Menschen. So sollen wir für einander beten und für uns selbst: „Gib mir die Kraft, dass ich stark werde am inneren Menschen, Herr.“
Und dann die zweite Bitte: „Gib ihnen die Erkenntnis, dass sie die unfassbare Liebe Jesu Christi, die eigentlich keiner wirklich begreifen kann, immer besser ansatzweise begreifen, damit sie reifen hin zur Gottesfülle.“
Liebe Mitchristen, ich möchte Sie mit dieser Predigt ermutigen, dass wir uns diese beiden Bitten wirklich praktisch in unserem Gebetsleben immer mehr zu eigen machen. Dass wir den allmächtigen Gott bitten, dass er das in unserem Leben wirke.
Gewiss, das sind große Bitten, große Bitten. Und wenn ich mir klar mache, wie armselig mein Leben manchmal aussieht, und wenn ich mir klar mache, wie stark diese Welt mit den tausend Gedanken, die ich jeden Tag denke, und den Dingen, die mich müde machen und belasten, wie stark mich das immer prägt, dann könnte man manchmal meinen, das sind fast zu große Bitten.
Aber es ist, als ob Paulus gerade auf diesen Einwand gewartet hätte. Denn am Ende seines Gebets – was macht er da? Da richtet er seinen Blick, wie am Anfang, wieder auf den Adressaten des Gebets, auf Gott.
Deswegen sagt er dann am Ende: „Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
Die Kraft, die in uns wirkt, das ist die Kraft, von der schon in Vers 16 die Rede war, die Kraft aus dem Himmel, die Kraft aus dem Reichtum seiner Herrlichkeit.
Paulus sagt: Sieh her, entscheidend ist nicht, dass dein Gebet gut ist, entscheidend ist nicht, dass dein Glaube stark ist, sondern entscheidend ist, wie stark der Gott ist, zu dem du betest.
Und dann formuliert er hier eine zweifache Zuspitzung: Er sagt, dem aber, der überschwänglich tun kann, über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen.
Da steht im Griechischen zweimal das Wort „Hyper“, das kennen wir ja auch. Der ist hypernervös, der ist hypersensibel. Dann meinen wir, der ist total übertrieben, übermäßig sensibel oder nervös.
Und dieses Wort steht genau hier: Gott kann überschwänglich über alles, was wir uns auch nur vorstellen könnten, bitten und schenken.
Das heißt, die Größe unserer Bitten trifft immer auf einen noch viel größeren Gott. Und dieser Gott ist allmächtig, sagt Paulus, er kann alles überschwänglich geben.
Und dieser Gott ist nicht nur allmächtig, sondern er ist großzügig. Paulus sagt: Über alles hinaus, was wir bitten.
Wir bitten oft so armselig, weil wir uns gar nicht klar machen, was Gott alles schenken kann. Und über das alles hinaus, sagt er, kann Gott geben.
Das heißt auf Deutsch: Wir können gar nicht mehr bitten, als Gott uns geben kann und geben will.
Und so kommen wir wieder zum Schluss. Ich darf noch einmal an den Anfang erinnern: Paulus hatte gesagt, dass er zum Vater betet, zum Vater als Vertrauensperson, zum Vater als Respektperson.
Jetzt am Ende betont er nochmals diese Macht. Wenn Sie so wollen, kann man sagen, dass die beiden Bitten gewissermaßen gesandwiched sind.
Diese beiden Bitten sind wie in einem Sandwich umrahmt vom Blick auf den Vater, an den wir uns wenden. Sie sind eingebettet, diese beiden Bitten, in den Blick auf den lebendigen Gott, der Vater und Gott ist, zu dem wir rufen.
Er hat alle Eigenschaften, die nötig sind, um diese großen Bitten zu erfüllen.
Liebe Glaubensgeschwister, das sollte uns ermutigen, das sollte uns sehr stark ermutigen, diese Bitten auch an den lebendigen Gott wieder und wieder zu richten.
Er will sie erhören, und er kann sie erhören. Und dann wird es geschehen, dass Gott unser Leben immer mehr in die Richtung verwandelt, in der wir am besten dem Ziel dienen können, zu dem er uns geschaffen hat.
Nämlich seiner Ehre. Ihm sei Ehre in der Gemeinde und in Jesus Christus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.