Barmherzigkeit

Was Matthäus und sein Zollhaus verändert
Konrad Eißler
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Das Reich Gottes ist keine Leistungsgesellschaft. Zum Bäckermeister können wir’s bringen, zum Nachfolger bringt’s er. Christ wird man nicht durch unsere Opferfähigkeit, sondern durch seine Barmherzigkeit. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Wie wird einer, sagen wir mal Bäckermeister, liebe Gemeinde? Der Mann benötigt einen ordentlichen Schulabschluss. Faulenzer, die nach 9 Jahren von der 7. Klasse abgehen, müssen sich um eine Lehrstelle, erst gar nicht kümmern. Dann geht es als Auszubildender für 3 Jahre in einen Betrieb. Jeden Morgen werden ganz kleine Brötchen gebacken. Dann schließen sich an die Gesellenprüfung die Gesellenjahre an. Die halbe Nacht wird zum Tag gemacht, damit die Kunden ihr Brot frisch auf den Tisch bekommen. Dann kommt monatelange Meisterschule und tagelange Meisterprüfung. Ohne Schweiß kein Preis in der Bäckerhitze. Endlich kann der frischgebackene Bäckermeister seinen Meisterbrief als Ladenschmuck aufhängen und seine Backstube zum Meisterbetrieb aufwerten. Viel musste er geben. Viel musste er arbeiten. Viel musste er einsetzen. Bäckermeister wird man nur durch ein Opfer an Zeit und an Kraft.

Oder wie wird einer, sagen wir mal Finanzrat? Der Mann benötigt dazu den Gymnasialabschluss. Ohne einen ordentlichen Abitursdurchschnitt braucht er sich gar keine Hoffnung auf die Beamtenlaufbahn machen. Dann geht er als Finanzinspektorsanwärter für 2 Jahre aufs Rathaus oder Landratsamt. Die jungen Leute müssen den Amtsschimmel reiten lernen. Dann folgen Studienjahre auf der Fachhochschule für öffentliche Ver­waltung. Die Hürden der abschließenden Verwaltungsprüfung über­springen nur die Guten. Dann klettern sie langsam und mühsam auf der Beamtenleiter von Sprosse zu Sprosse. Inspektor, Oberinspektor, Amtmann, Amtsrat. Endlich darf der Finanzrat die Höhenluft des gehobenen Dienstes atmen und sich der Weitsicht von der Leiterspitze erfreuen. Viel musste er geben. Viel musste er arbeiten. Viel musste er einsetzen. Finanzrat wird man durch ein Opfer an Einsatz und Engagement. Und das ist beim Rechtsanwalt oder Studienrat oder Chefarzt nicht anders. Viel, sehr viel, unendlich viel muss jeder einsetzen. Etwas Ordentliches wird man nur durch Opferfähigkeit.

Und wie wird einer Nachfolger? Wie wird einer Jünger? Wie wird man Christ? Eben haben wir es doch gehört. Die Person benötigt sicher eine ordentliche Taufbescheinigung mit pfarramtlichem Dienstsiegel. Sonst fehlt jede Voraussetzung. Dann kommt der einjährige Konfirmandenunterricht mit abschließender Konfirmation. Der kleine und große Katechismus ist das Minimalwissen eines zukünftigen Nach­folgers. Dann folgen Fortbildungshilfen im Bibellesen und Predigthören. Nur eifrige Kirchgänger haben die Chance zum Jünger. Dann leitet er einen Hauskreis, singt im Kirchenchor und wird zum Kirchengemeinderat gewählt. Endlich muss ihm das Christsein zuerkannt und öffentlich bestätigt werden. Viel muss er geben. Viel muss er arbeiten. Viel muss er einsetzen. Christ wird man durch ein Opfer an Glaube und Liebe.

Der Zöllner Matthäus war zwar mit allen Wassern gewaschen. Der war nicht getauft. Der Zöllner Matthäus war zwar in vielen Lumpereien versiert, aber nicht konfirmiert. Der Zöllner Matthäus war zwar mächtig eingebildet, aber nicht fortgebildet. Mit dem Frommsein hatte er nicht viel am Hut. Und trotz­dem wurde er zum Nachfolger berufen, zum Jünger bestellt, trotz­dem wurde Matthäus Christ. Damit blieb er keine Ausnahme von der Regel. Auch bei einem Andreas und Jakobus und Simon und Saulus ging das so. Das Reich Gottes ist nun einmal keine Leistungsgesellschaft. Zum Bäckermeister können wir’s bringen, zum Nachfolger bringt’s er. Zum Finanzrat können wir’s schaffen, zum Jünger schafft er. Zum Chefarzt können wir berufen, zum Christ beruft er. Und zwar ganz allein und in souveräner Entscheidungsfreiheit. Gott sei Dank ist zuerst kein Opfer an Zeit und Kraft und Einsatz und Engagement und Glaube und Liebe verlangt, weil er, und so ist es ausdrück­lich in Hosea festgeschrieben und im Evangelium festgemacht, weil er Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer hat. Das ist die gute Nachricht für alle, die keinen Boden mehr unter den Füßen haben, die keinen Halt mehr für ihr Leben finden, die von Frag­en und Zweifeln zerfressen sind. Christ wird man nicht durch unsere Opferfähigkeit, sondern durch seine Barmherzigkeit. Genau diese Barmherzigkeit wird uns am heutigen Textabschnitt erläutert.

1. Das Zollhaus wird zum Glashaus

Irgendwo am See Genezareth muss es gestanden sein. Dort nämlich kreuzten sich wichtige Handelswege. Eine fette Pfründe am verkehrsreichen Dreiländereck. Kein Mensch sah genau hin, wer denn dieser Herr Zollbeamte war. Schließ­lich gehörte er nach jüdischem Hecht zur Kategorie der Steuereinnehmer, die wegen ihrem einnehmenden Wesen zu den Unreinen zählten und von der Synogoge ausgeschlossen blieben. Kein Mensch sah genau durch, wie denn dieser Herr Zollinspektor das Steuereinzieh­en und das Steuerhinterziehen voneinander trennte. Auf jeden Fall wusste jeder, dass dieser Gauner sowohl den eigenen Landsleuten als auch den römischen Verwaltungsstellen das Fell über die Ohren zog. Und kein Mensch sah klar, was denn dieser Herr Zöllner an betrügerischen Machenschaften auf dem Gewissen hatte. Kein Wunder, dass Zöllner neben Mördern und Räubern vor Gericht kein Zeugenrecht hatten. Vor allen Blicken geschützt, lebte Matthäus in seinem Zollhaus wie in einer Festung. Nur einer ging nicht rasch vorüber, bezahlte schnell seinen Obolus und sah weg auf die andere Seite. Jesus sah hin und erkannte einen Menschen mit seinen ungeklärten Fragen. Jesus sah durch und erkannte einen Menschen mit seinen unwahrscheinlichen Sehnsüchten. Jesus sah klar und erkannte einen Menschen mit seinen unheimlichen Bindungen. Jesus sah hinein wie in ein Glashaus. Das ist seine Barmherzigkeit, die keinen übersieht. Er sieht uns, wo wir sind: am Zeichenbrett im Büro, am Schraubstock in der Fabrik, am Schreibtisch in der Kanzlei, am Verkaufsstand im Laden, am Lenkrad im Auto, am Herd in der Küche, am Bett im Kinderzimmer, sogar am Tropf im Krankenhaus, am Sauerstoff in der Isolierstation, am Kabel des Schrittmachers. Es gibt kein Haus, keinen Bunker, keine Festung, in der wir uns verschanzen könnten. Jesus sieht uns, wo wir sind und wie wir sind: gedrückt von den Lasten der Woche, geschlagen von den Erlebnissen im Geschäft, gebeutelt von den Ängsten vor morgen, genarrt von den Hoffnungen der Illusionäre, gefesselt von unbewältigter Schuld. Er lässt sich von unserer Fassade nicht blenden. Er blickt hinter die Kulissen. Er schaut ins Herz hinein. Nach der verhinderten Opferung seines Sohnes Isaaks benannte Abraham diese Stätte auf dem Berg Morija: Der Herr sieht’s. So hätte man über den Eingang des Zollhauses sprühen können: Der Herr sieht’s. So könnte es auf jeder Wand stehen, hinter der wir uns verstecken wollen: Der Herr sieht’s. So könnte es an jeder Mauer geschrieben sein, die uns isoliert: Der Herr sieht’s. “Wie dir’s und andern oft ergehe”, singt Paul Gerhardt, “ist ihm wahrlich nicht verborgen, er sieht’s und kennet aus der Höh der betrübten Herzen Sorgen.” Das Zollhaus wird zum Glashaus. Das ist seine Barmherzigkeit.

2. Das Glashaus wird zum Gasthaus

Eigentlich hätte es zum Zuchthaus werden müssen. Wer so viel auf der Latte hat an Lug und Trug wie dieser Zöllner, wer so viel auf dem Kerbholz hat an Schimpf und Schande wie dieser Steuereinnehmer, wer so viel auf seinem Sündenregister hat an Zweideutigkeiten und Undurchsichtigkeiten wie dieser Herr Matthäus, der müsste sich nicht wundern, wenn ihm eines Tages gesagt würde: Sie sind verhaftet. “Kommen Sie mit! Folgen Sie mir unauffällig!” Stattdessen wird dieser unmögliche Mensch mit dem Ruf: “Folge mir!” in Jesu Mannschaft aufgenommen. Jedem unbefangenen Leser muss dabei der Atem stocken. Jeder unvoreingenommene Hörer muss dabei an seinem gesunden Menschenverstand zweifeln. Jedem normalen Zeitgenossen muss dabei eine ganze Vorstellungs­welt zusammenstürzen. Wenn Jesus wenigstens ein Anstellungsgespräch mit ihm geführt hätte, so wie ein Bürochef mit seinem Bewerber. Schließlich ist dieser Matthäus alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Wenn Jesus ihn wenigstens einem Eignungstest unterzogen hätte, so wie ein Personaleiter dies immer tut. Schließ­lich ist dieser Matthäus, der bisher im Trüben fischte, wohl nicht der geeignetste Menschenfischer. Wenn Jesus wenigstens eine Probezeit mit ihm vereinbart hätte, so wie Beamte dies in den Verträgen festschreiben. Schließlich muss dieser Matthäus seine innere Kehrtwendung erst einmal beweisen. Aber dieser Herr benützt den kurzen Aufenthalt am Dreiländereck zur Dienstverpflichtung dieses Mensch­en. Jesus ist eben kein Bürochef, der zuerst Gespräche führen muss, kein Personalleiter, der auf Eignungstests angewiesen wäre, kein Beamter, der mit Verträgen auf Nummer sicher geht. Jesus ist der Herr, der jeden aus dem Effeff kennt und trotzdem in seine Gemeinschaft aufnehmen will. Das ist Gottes vorlaufende Gnade, die wir mit unserem Verstand nicht fassen können. Stühle werden gerückt, Kerzen werden angezündet, Speisen werden serviert, Weine werden kredenzt. Eine fröhliche Tischgemeinschaft kommt in Gang. Jesus in schlechter Gesellschaft, nein, Matthäus in guter Gesellschaft. Das ist seine Barmherzigkeit, die in Tuchfühlung mit den Matthäussen geht. Keiner ist so unmöglich, als dass er nicht als möglicher Kandidat für diesen Herrn infrage kommen könnte. Auch wenn ich kein ungeschriebenes Blatt mehr bin, weil die Tage und Jahre zu viel draufgeschrieben haben, so kann er dieses Blatt weiß machen und neu beschreiben. Auch wenn ich kein geeigneter Menschenfischer bin, weil ich ihm selbst durch die Lappen gegangen bin, so kann er meine beiden linken Hände geschickt und brauchbar machen. Auch wenn ich kein sicherer Kantonist bin, weil ich immer wieder umgefallen bin, so kann er dieses wetterwendische Leben verändern und neu gestalten. Mitten im Tollhaus dieser Welt hat er seinen Abendmahlstisch aufgestellt, um mit denen zu tafeln und Gemeinschaft zu haben, die zwischen allen Lockrufen hindurch seinen Ruf “Folge mir!” gehört haben, aufgestanden sind, es sich bei ihm schmecken ließen und dann sein Lob singen. “Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod, er nährt und gibet Speisen.” “Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.” Das Glashaus wird zum Glashaus, das ist seine Barmherzigkeit.

3. Das Gasthaus wird zum Schulhaus

Natürlich ging das ein paar pharisäischen Türstehern die Nase hinauf und sie fragten zurück: Warum tut er das? So etwas tut man doch nicht! Warum setzt er sich mit dieser Clique an einen Tisch? Solche Tischrunden sind unter jeder Würde! Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? In der Tat passt das nicht in das Einmaleins der Pharisäer und in das ABC der Sadduzäer. Auch mit unseren Grundbegriffen der Frömmigkeit lässt sich solch schockierende Handlungsweise nicht begreifen. Deshalb setzte er die damals und uns heute noch einmal auf die Schulbank und erteilt Nachhilfeunterricht im Fach Religion. Sein Lehrsatz lautet: Kranke brauchen den Arzt. Denkt an einen Augenkranken. Der graue Star nimmt ihm das Augenlicht. Dieser Augenkranke braucht den Augenarzt. Denkt an einen Lungenkranken. Die Tuberkulose breitet sich immer mehr aus. Der Lungenkranke braucht den Lungenarzt. Denkt an einen Hautkranken. Die Ekzeme quälen ihn wie der Aussatz. Der Hautkranke braucht den Hautarzt. Und nun denkt an einen Sündenkranken. Die Sünde zerstört jedes Immunsystem gegen das Böse. Und nun denkt an einen Schuldinfizierten. Die Schuld ist unheilbar wie der Krebs. Und nun denkt an einen solchen Todeskandidaten. Sünde und Schuld sind nicht nur die die Krankheit zum leiblichen, sondern zum ewigen Tod. Welchen Arzt braucht er? Welchen Doktor brauchen wir, die wir alle von diesem Todesvirus befallen sind? Welchen Mediziner brauchen wir, die wir alle diese Krankheit zum ewigen Tod in uns tragen? Mit Allopathie oder Homöopathie sind wir nicht mehr zu retten, aber mit der Sympathie dieses Herrn, der von sich sagen konnte: Ich bin der Herr dein Arzt. Ich bin der Herr dein Facharzt für Sünde. Ich bin der Herr dein Heiland. In seiner Nähe, an seinem Tisch, durch sein Brot und Wein gibt’s Genesung. Dies lernet: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Das Gasthaus wird zum Schulhaus, das ist seine Barmherzigkeit. Und sie es, die uns jetzt begleiten will, wenn wir wieder in unsere Wohnhäuser zurückkehren.

Amen