Einen wunderschönen guten Morgen Ihnen allen! Ich freue mich, diesen schönen Tag mit Ihnen hier erleben zu dürfen.
Ich fühle mich bereits sehr zu Hause, denn meine Berufsgruppe hat hier schon eine große Würdigung erfahren. Herr Bauer, ich weiß nicht, ob er noch anwesend ist, wir sind Kollegen. Ich bin Pastor – das Wort bedeutet auf Lateinisch „Hirte“. Daraus lassen sich viele Bezüge herstellen.
Die neutestamentliche Gemeinde bezeichnet ihr Führungspersonal mit dem Begriff „Pastor“. Das sagt viel über das Wesen der Gemeinde aus. Wir sind Schafe, wir sind Hirtentiere und brauchen Hirten, die uns führen.
Die Bedeutung des Hirtenbildes für die Gemeinde und das Leben
Psalm 23 ist der bekannteste und berühmteste Psalm überhaupt. Er wird bis heute – und das ist auch gut so – im Religionsunterricht auswendig gelernt. Viele Menschen, egal ob sie gläubig sind oder nicht, haben diesen Psalm tief verinnerlicht.
Die Religionslehrerin meiner Tochter hat einmal erzählt, welche Erfahrungen sie mit diesem Psalm gemacht hat und wie er sogar von ihren Grundschülern kreativ umgesetzt wurde. Im Religionsunterricht ging es dabei überhaupt nicht um Psalm 23, sondern um Jona.
In einer Klassenarbeit der dritten Klasse schrieb eine Drittklässlerin zu Jona, was sie darüber denkt: „Ob ich schon wandelte im finstern Wal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ Ich weiß nicht, ob Jona Psalm 23 kannte, aber der Text passt. Man merkt, dass er für alle Lebenslagen geeignet ist – ob im Wal, im Tal oder wo auch immer.
Psalm 23 ist für alle Lebenslagen hilfreich.
Der Psalm wird von zwei Bildern dominiert. Vielleicht ist Ihnen das schon einmal aufgefallen. Im Vordergrund steht, dominant und an diesem Vormittag natürlich im Mittelpunkt, das Bild vom Hirten – dem guten Hirten. „Der Herr ist mein Hirte.“
In der zweiten Hälfte des Psalms wechselt das Bild. Normalerweise bereitet der Hirte keinen Tisch vor, und normalerweise schenkt der Hirte seinen Schafen auch nicht ein Glas voll ein. Er führt sie zu frischem Wasser.
Doch in der zweiten Hälfte dieses Psalms geht es um den Wirt. Teil eins zeigt den guten Hirten, Teil zwei wohl den guten Wirt, der hier im Mittelpunkt steht.
In diesem Psalm spiegelt sich sehr viel wider, unter anderem auch unsere Identität.
Wir sind führungsbedürftige Menschen
Ich habe drei Punkte, und der erste soll zunächst einmal darauf eingehen, was dieser Psalm über uns aussagt. Das möchte ich mit dem Satz überschreiben: Wir sind führungsbedürftige Menschen.
Dieses Bild vom guten Hirten bedeutet im Umkehrschluss, dass wir die Rolle von Schafen haben. Herr Bauer hat es schon eindrücklich auf den Punkt gebracht: Schafe sind Herdentiere. Wir sind Schafe einer Herde, wir sind Schafe, die einen Hirten haben und diesen Hirten auch brauchen. Wenn wir uns auf eigene Sohlen auf den Weg in die Unabhängigkeit vom Hirten machen, dann gehen wir verloren.
Herr Bauer sagte vorher, Schafe sind relativ orientierungslos. Was heißt das für uns, wenn Gott uns als Schafe bezeichnet? Schaf zu sein ist, um es mal ganz vorsichtig zu sagen, nicht gerade ein attraktives Rollenprofil im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wenn Sie Ihrem Chef sagen, dass Ihre Lieblingsrolle die eines Schafes ist, wird ihn das nicht ermutigen, Sie zu befördern. Das spricht auch nicht unbedingt für eine Gehaltserhöhung.
Wir würden diese Rolle auch nicht unbedingt als das Ziel unseres Lebens beschreiben, schon gar nicht als kompatibel mit dem gängigen Zeitgeist, der die Individualität geradezu vergöttert. Wir haben andere Ideale als die Schafsexistenz, und uns werden jeden Tag ganz andere Ideale vor Augen gestellt.
Wir lieben in unserer postmodernen westlichen Welt die Individualität. Wir Menschen lieben ganz einzigartige und unverwechselbare Lebensentwürfe. Das genießen wir übrigens, ob Christ oder Nicht-Christ. Wir alle lieben die Individualität und rümpfen umgekehrt wenig die Nase über die Masse und das Kollektiv.
Wir tun uns schwer, wir verstehen oft nicht, dass es kollektive Gesellschaften gibt, wie in Asien oder in der islamischen Welt, wo die Gemeinschaft, das Ganze, das Kollektiv über dem Individuum steht, über dem Einzelnen. Entsprechend sind auch unsere Helden in der Regel einsame Helden. Wir lassen uns unterhalten von Superman, Batman oder Spider-Man und würden gerne als einsame Helden mit übermenschlichen Kräften immer wieder die Welt retten.
Das Individuum wird bei uns verehrt, nicht das Kollektiv. Wir verehren die Sportskanonen, die mit ihrer Extraklasse den Sieg davontragen, egal ob sie auf einem Fußballplatz stehen oder in einem Formel-eins-Auto sitzen. Wir verehren die einsamen Spitzen und würden gern auch einsame Spitze sein. Man wundert sich nur manchmal, dass es einsam ist um die einsamen Spitzen.
Letztes Jahr starb Helmut Kohl. Ganz offen gesagt, bei aller Hochachtung, großer Hochachtung vor seinem Lebenswerk: So wollte ich nicht sterben. Der Mann war einsame Spitze und am Ende nur noch einsam. Das ist das Schicksal der Individualität in unserer Welt, dass man sehr schnell einsam wird, wenn man gern den Individualismus haben möchte.
Nun begegnen wir diesem Psalm, und Sie spüren die Herausforderung in diesem Psalm, in diesem Bild. Da haben wir die Rolle eines Schafes, das erstens ein Herdentier ist. Diese ganzen Elemente der Geborgenheit bekommen wir nur als Herdentiere. Geborgenheit und Gemeinschaft in einer Gemeinde bedingen sich wechselseitig.
Zweitens ist es ein führungsbedürftiges Tier. Wie gesagt, Herr Bauer sagte, Schafe sind relativ orientierungslos. Schafe kommen ohne Führung und Leitung nicht nur nicht zum frischen Wasser und auf grüne Aue, sondern sie sind ohne Führung verloren.
Psalm 23 sagt: Wenn wir das wahre Leben erleben wollen, geht das nur im Rahmen einer Herde und mit einem Hirten. Das ist etwas anderes als ein Coach oder ein Trainer, der eine gewisse Zeit lang begleitet, einem ein paar Tricks und Kniffe zeigt, damit man es irgendwann alleine schafft.
Nein, wir Menschen sind ein ganzes Leben lang auf diese Hirtenbedürftigkeit angelegt. Wir sind hirtenbedürftige, wir sind leitungs- und führungsbedürftige Menschen.
An der ganz konkreten Frage, ob ich mich in meinem Leben von einem Hirten leiten und lenken lasse, zeigt sich, ob ich die Botschaft des guten Hirten verstanden habe. Das gilt übrigens auch für Führungspersönlichkeiten, für Menschen mit einem Hirtenamt.
Dieser Psalm stammt ja von einer Führungspersönlichkeit, nämlich von König David. David merkt das hier auch an: Du salbest mein Haupt mit Öl. Sowas konnte nur ein König sagen. Öl war nicht das Shampoo der antiken Welt, das sich jeder einfach übergoss. Heute erinnert das immer ein bisschen an Julio Iglesias oder Silvio Berlusconi, aber in der antiken Welt machte man das nicht einfach so. Man hat Könige gesalbt, und nur Könige.
Das ist hier ein Führungssalm, der uns präsentiert wird. Es spricht ein König, eine Führungspersönlichkeit. Man könnte ja denken, so eine Führungspersönlichkeit weiß doch irgendwann, wie es läuft, der weiß doch irgendwann, wie es geht, der braucht doch selber keine Führung mehr. Der hat es doch aus Erfahrung einfach drauf.
Die Wahrheit ist, dass gerade das Gegenteil der Fall ist. Führungspersönlichkeiten brauchen mehr, nicht weniger Führung als andere Menschen. Weil ihre Verantwortung größer ist und weil die Gefahr größer ist, abzuheben und in die Irre zu führen, weil man selbst in die Irre geht.
Auch davon kann das Leben Davids uns einiges erzählen. Unser Leben bedarf der Führung und der Leitung. Ohne einen guten Hirten, der uns den Weg weiß, gehen wir alle unweigerlich in die Irre. Das ist keine Frage der Intelligenz oder der Kompetenz, sondern schlicht und ergreifend eine Folge der Sünde.
Norwegische Pfarrer müssen in einem Umkreis von 50 Kilometern einen Seelsorger nachweisen, einen Hirten, der sie, die Hirten, wiederum führt. Man weiß dort, dass Tiefe nur so gewonnen wird. Führungspersönlichkeiten brauchen Führung, Hirten brauchen Hirten, damit sie selbst nicht irregehen und, wenn sie selbst irregehen, die ganze Herde in die Irre führen.
In der antiken Welt hatten alle römischen Kaiser einen sogenannten Mentor, der das Recht hatte, ihnen ungeschminkt die Wahrheit zu sagen. Wenn so ein römischer Kaiser die Weltmacht über ein Weltreich bekam, war das eine unglaubliche Versuchung, diese Macht zu missbrauchen. Die Geschichte zeigt, dass sie auch missbraucht wurde.
Deshalb stellte man diesen Kaisern, diesen Imperatoren, einen Mentor zur Seite, der das Recht und die Pflicht hatte, ungeschminkt die Wahrheit zu sagen, wenn ein Kaiser in Gefahr stand, die Bodenhaftung zu verlieren.
Wer darf Ihnen, wer darf uns ungeschminkt die Wahrheit sagen? Gibt es einen Menschen in Ihrem Leben, der Ihnen ungeschminkt die Wahrheit sagen darf, wenn Sie in die Irre gehen, wenn Sie die Bodenhaftung verlieren? Von wem lassen wir uns führen?
Noch eins: Im Alter braucht man nicht weniger Führung. Das ist eines der großen Missverständnisse des Lebens, dass man meint, mit zunehmender Erfahrung bräuchte man weniger Führung. Das Gegenteil ist der Fall.
Ob ich grüne Aue, frisches Wasser und rechte Straße finde oder ob ich einmal selbst zu einem Hirten werde, zu einer Führungspersönlichkeit, hängt davon ab, ob ich scharf bleibe. Das heißt, ob ich mir meiner eigenen Hirtenbedürftigkeit, meiner Führungsbedürftigkeit bewusst bleibe.
Alle geistliche Vollmacht entsteht immer aus der Einsicht in die eigene Hirtenbedürftigkeit, die eigene Führungsbedürftigkeit. Wer sich nie den Weg zeigen lässt, wird nie die Vollmacht haben, ihn anderen zu weisen.
Das gilt auch, wenn ich Vater oder Mutter bin. Ich bin in meinem Leben schon sehr oft an Grenzen gestoßen – an berufliche Grenzen, an Grenzen in meiner Führungsaufgabe, an Grenzen in Ehe und Familie. Das ist etwas sehr Normales, das ist bei Ihnen auch nicht anders.
Ich bin dankbar, dass es immer wieder Hirtenmenschen gab und ich Hirtenmenschen gefunden habe und auch gesucht habe, die mich gesehen haben und besser als ich selbst verstanden haben, was ich brauche.
Wir brauchen Menschen, die besser verstehen als wir selbst, was wir brauchen. Wir verstehen es nicht, was wir brauchen, weil unsere Sinne nach außen gerichtet sind. All unsere Sinne gehen nach außen, wir sehen uns selbst nicht.
Wir brauchen Menschen, die uns von außen sehen und besser verstehen als wir selbst, was wir brauchen. So wie der Herr Bauer der Hirte seine Schafe sieht und besser weiß als diese Schafe, was sie brauchen.
Aber auch ganz unabhängig davon, ob sie Führungsaufgaben haben oder nicht: Wer sich seiner Hirten- und Führungsbedürftigkeit bewusst bleibt, der lässt sich beraten, der lässt sich kritisieren, der lässt sich korrigieren und führen.
Und er findet genau so, immer wieder grüne Aue, frisches Wasser und rechte Straße.
Ein Glaube, der Freude und Leid umfasst
Ein zweiter Punkt: Wir brauchen einen Glauben, der für Freude und für Leid taugt.
Im ersten Punkt haben wir gefragt, was dieser Psalm über uns Menschen aussagt. Im zweiten Punkt möchte ich fragen, was dieser Psalm über Gott aussagt. Dabei mache ich zwei Beobachtungen.
Der gute Hirte führt mich auf grüne Auen und ins frische Wasser, auf rechter Straße. Von einem Hirten ist die Rede, der seine Schafe gut versorgt und sie schützt. Gott wird hier aber nicht nur als der gute Hirte beschrieben, sondern, wie ich bereits erwähnt habe, auch als der gute Wirt – ein Wirt, der einen Tisch bereitet und voll einschenkt.
Wir haben es mit einem beschenkenden Gott zu tun, der unser Leben zu einem Fest machen möchte. Er will, dass wir volle Genüge haben, so wie es auch in Johannes 10 über den guten Hirten heißt. Gleichzeitig wird hier aber auch gesagt, dass dieser Hirte uns mit seinem Stecken und Stab tröstet, wenn wir durch das Tal des Todesschattens wandern.
Was Luther mit „finsterem Tal“ übersetzt hat, steht im Hebräischen mit einem Wort, das wörtlich „Tal des Todesschattens“ bedeutet. Es ist hier nicht nur von einer mehr oder weniger schlimmen Lebenskrise die Rede, sondern vom Sterben, bei dem ich den Trost des guten Hirten erfahre.
Das bedeutet, dass uns dieser Hirte auf dem letzten Weg unseres Lebens tröstet. Es bedeutet aber auch, dass er uns vor diesem letzten Weg nicht bewahrt. Auch dieser gute Wirt bereitet uns zwar einen reich gedeckten Tisch, doch er deckt diesen Tisch im Angesicht unserer Bedränger und unserer Bedrängnisse.
Vielleicht steckt dahinter eine ganz konkrete Erfahrung aus dem Leben Davids, vielleicht auf der Flucht vor Saul – wir wissen es nicht –, dass ihm da vielleicht jemand den Tisch gedeckt hat, als er am Leben verzagte.
Wie dem auch sei: Gott ist hier ein Gastwirt, ein Kellner, ein Barkeeper, der voll einschenkt und mich aus der Fülle heraus versorgt. Aber er löst die Bedränger und die Bedrängnisse meines Lebens nicht einfach in Luft auf, er pustet sie nicht einfach weg.
Ich sitze da vor einem reich gedeckten Tisch, doch da sind die Bedränger und Bedrängnisse meines Lebens. Sie bleiben.
Gott schenkt uns überfließendes Leben in Anbetracht unerlöster und unvollkommener Verhältnisse – überfließendes Leben und gleichzeitig unerlöst in unvollkommene Verhältnisse.
Mir ist diese doppelte Betrachtung sehr wichtig, weil beides zusammengehört. Wir sind immer wieder geneigt, diese Spannung einseitig aufzulösen.
Unser Leben mit dem guten Hirten ist niemals nur Kreuz und Elend, niemals nur Not und Kummer. Unser Leben ist voller grüner Auen, voller frischen Wassers und guter Straßen. Allein schon die Schönheit dieses Vormittags ist ein Beweis dafür. Es ist wunderschön hier, wollte ich Ihnen mal sagen, liebe Schwestern – wunderschön.
Wir sollten das Leben nicht schlechter machen, als es ist. Eine depressive und pessimistische Betrachtung des Lebens ist nicht allein deshalb geistlicher, weil sie Kreuz und Elend nicht aus den Augen verliert.
Es gibt aber auch das andere: Die Verdrängung des Todesschattens und die Verdrängung der Bedränger und Bedrängnisse unseres Lebens im Namen einer Theologie, die sich schon jetzt von den Realitäten dieser noch unerlösten Welt verabschiedet und Gott nur noch in Form einer realitätsentrückten Frömmigkeit begegnet.
Ich mache mir momentan ehrlich gesagt weniger Sorgen um die Gottesbeziehung unserer jungen Menschen, unserer Studierenden in Bad Liebenzell und anderswo. Menschen mit einer tiefen Frömmigkeit, mit einer herzlichen Jesusliebe – ein großes Fest.
Ich mache mir ehrlich gesagt mehr Sorgen um den Weltbezug, um den Weltbezug unserer Gemeinde. Beschäftigen wir uns noch mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen und Realitäten in unserem Land und in dieser Welt?
Sind wir noch bereit, Verantwortung zu übernehmen in diesen gigantischen Umbrüchen der Gegenwart? Gibt es Menschen, die bereit sind, Bürgermeister zu werden, in Stadträten, Gemeinderäten oder Landräten Verantwortung zu übernehmen? Das macht mir mehr Sorgen, komischerweise.
Ich bin aufgewachsen in einer hochpolitischen Epoche, in der man immer wieder an die Gottesbeziehung erinnert hat. Heute erlebe ich eine Generation tiefer Frömmigkeit, bei der ich komischerweise nie gedacht hätte, dass ich an die Weltbeziehung unseres Lebens erinnern müsste.
Die jeweiligen Sichtweisen mögen mit verschiedenen Charaktertypen zusammenhängen: Die einen sehen das Glas eher halb leer, vielleicht sogar fast leer, und singen dann eher Klagelieder in Moll. Die anderen sehen es eher halb voll, vielleicht sogar ganz voll, und singen Loblieder in Dur.
Diese unterschiedlichen Sichtweisen mögen auch mit Frömmigkeitstypen zu tun haben, die eine lange theologiegeschichtliche Tradition haben.
Der Beter von Psalm 23 hält Freude und Leid zusammen, er hält beide Dimensionen unseres Lebens zusammen. Wir müssen beides zusammenhalten, sonst gehen wir entweder an der Schönheit Gottes oder am Trost Gottes vorbei.
Sonst werde ich nicht begreifen, dass der Trost im Sterben die stärkste Form irdischen Glücks ist. Der Trost im Sterben ist die stärkste Form irdischen Glücks.
Dort, wo ich getrost und versöhnt mit Gott, versöhnt mit Menschen und versöhnt mit mir selbst sterben kann, durch dieses Tal des Todesschattens gehen kann, da erlebe ich das größte Glück, das ich haben kann: versöhnt mit Gott, versöhnt mit Menschen und versöhnt mit mir selbst.
In die Ewigkeit zu gehen ist das tiefste Glück, das wir Menschen erleben können.
Umgekehrt gilt aber auch: Dort, wo ich keinen Sinn mehr habe für die Schönheit der grünen Auen, die lebendspendende Kraft frischen Wassers und den Segen der rechten Straße, da verpasse ich vielleicht das irdische Leben vor lauter Klage über die Not der Welt.
Gott ist beides: der Segen im Leben und der Trost im Sterben. Wir leben, weil Gott es will. Und oh ja, ich sage es auch sehr bewusst: Wir sterben einmal, weil Gott es will.
Martin Luther hat einmal gesagt: „Ich esse, was ich mag, und sterbe, wann Gott will.“ Man wusste es immer gut, sich an Luther zu halten: „Ich esse, was ich mag, und sterbe, wann Gott will.“
Mir begegnen oft Menschen, und es sind nicht nur junge Menschen, die einer Teenager-Theologie anhängen, die nicht lebenstauglich, nicht krisentauglich und auch nicht theodizeetauglich ist.
Theodizeetauglich meine ich im Sinne der Frage: Warum lässt Gott Leid in dieser Welt zu? Mit dieser Frage müssen wir umgehen. Das ist die tiefste Frage des christlichen Glaubens, und unser Glaube muss mit dieser Frage umgehen können.
Im Psalm 23 begegnen wir nicht nur einem guten Hirten, der eine kuschelige Geborgenheit bietet und uns vor den harten Realitäten dieser Welt bewahren würde.
Nein, hier begegnet uns ein Hirte, der seine Schafe immer begleitet und überall hin, sogar bis ins Tal des Todesschattens – aber eben auch dorthin.
„Gott schlägt und heilt Wunden“, hat vorher Schwester Regine Mohr gesagt. Gott schlägt und heilt Wunden – das ist der Punkt. Gott tut beides, Gott sei Dank.
Und ich sage, das begegnet uns auch in der Auslegung dieses Psalms durch Jesus selbst in Johannes 10. Dort sagt Jesus: „Ich bin der gute Hirte.“
Man konnte als Hörer dieser Predigt von Jesus gar nicht anders, als an Psalm 23 zu denken. Dann fährt er fort: Der gute Hirte – und das steht eben nicht im Psalm 23 – lässt sein Leben für die Schafe.
Jesus vertieft diesen Psalm auf eine Art und Weise, wie es unerhört war für seine Hörer in Israel, wie man es nicht kannte.
Der gute Hirte leidet nicht nur auf grüner Aue zum frischen Wasser auf rechter Straße, er lässt sein Leben für die Schafe. Denn da kommt eine Schulddimension in den Blick, wie sie Israel vor Jesus noch nicht gesehen hat, noch nicht sehen konnte, noch nicht kannte.
Dieser gute Hirte liefert nicht nur Geborgenheit, nicht nur Sicherheit und Führung, sondern Vergebung. Aber nur so, dass er sein Leben lässt für die Schafe, dass er stirbt für ihre Schuld.
Damit sie nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben und einmal ins Haus des Herrn zurückkehren können.
Damit verliert dieser Psalm etwas von seiner Süßlichkeit und Kuscheligkeit. Er gewinnt eine Tiefe, die man eben nur im Licht des Kreuzes versteht.
Darum geht es auch in unserem Glauben.
Wenn wir nur an einen lieben Gott glauben, der seine Schäfchen immer und überall behüten, beschützen und auf geebneten Wegen führen soll, dann glauben wir an einen Schutzgötzen, aber nicht an den Vater des Gekreuzigten.
Gott bereitet uns den Tisch nicht unter Ausblendung unserer Feinde, sondern im Angesicht unserer Feinde und im Angesicht der oft schwierigen Verhältnisse unseres Lebens.
Er bereitet den Tisch im Angesicht unserer Schuld. Und wir müssen das aushalten, in dieser Spannung leben können.
Wir treffen den guten Hirten nicht nur auf idyllischen Auen und sprudelnden Bächen, wir begegnen ihm auch unter dem Kreuz – unter seinem und unter unserem.
Entweder unser Glaube taugt etwas auf den Intensivstationen, in den Gefängnissen, in den Hospizen und an den offenen Gräbern, oder er ist untauglich.
Aber auch das andere gilt: Entweder unser Glaube hat eine lebensverändernde, alltagsrelevante und hoffnungsspendende Kraft für das Leben im Hier und Jetzt, oder er macht krank und depressiv.
Deshalb müssen wir beide Dimensionen – die Freude und das Leid – zusammenhalten, damit der Glaube in unser Leben nicht auseinanderfällt.
In diesem Psalm begegnet uns Gott nicht als allumfassender Problemlöser, sondern als mein guter Hirte, der mit mir geht durch die manchmal harten Herausforderungen des Lebens.
Er zeigt uns mitten in Krisen, Leid und Schwierigkeiten immer wieder grüne Auen und führt uns zum frischen Wasser.
Wenn wir einen kitschigen Hirten für einen unreifen Glauben wollen, dann sind wir hier falsch.
Wenn wir einen Hirten brauchen, mit dem wir leben und mit dem wir sterben können, dann sind wir hier genau richtig.
Wir sind geführte Menschen
Nein, drittes und letztes: Wir sind geführte Menschen. Das Hirtenbild macht von Anfang bis Ende deutlich, dass wir uns nicht in der Verwirrung befinden, sondern dass wir geführte Menschen sind. Das ist das Thema dieses Vormittags.
Wenn wir unser Leben als von Gott geführt betrachten können, dann bekommen wir einen neuen Blick für die schwierigen Wegstrecken unseres Lebens. Wir begreifen, dass diese Wegstrecken der Hand Gottes nicht entzogen waren und auch nicht entzogen sind.
Egal, mit welchen Herausforderungen Sie heute Morgen hier sitzen, mit welchen Gefühlen Sie hier sind – vielleicht nach dem Motto: „Nach mir schaut Gott nicht mehr, mich sieht er nicht mehr, mich hat er vergessen“ – vergessen Sie das. Das sind nur Gefühle, nur Eindrücke.
Wir bekommen im Licht dieses Psalms eine neue Sicht für unser Leben, auch für die schwierigen Wegstrecken unseres Lebens. Selbst die letzte Wegstrecke durch das Tal des Todes ist diesem Gott nicht entzogen. Es ist anders: Diese Wegstrecken sind ein Teil der Führung Gottes.
Wir werden möglicherweise nicht immer den tiefsten Sinn dieser Wege verstehen. Aber manchmal begreifen wir, dass diese Wegstrecken nötig waren und nötig sind, um uns auf etwas vorzubereiten, um uns lebenstüchtig und leidensfähig zu halten.
Es ist nicht entscheidend, dass wir ein schönes Leben haben. Entscheidend ist, dass wir ein geführtes Leben haben. Ich weiß sehr gut, dass das ein ganz riskanter Satz ist, und ich bitte Sie, mich nicht falsch zu verstehen.
Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie ein schönes Leben haben. Ich wünsche Ihnen ein gesundes und gesegnetes neues Jahr und hoffe, dass es gut wird in Ihrem Leben. Aber Jesus sagt: „Was hilft es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und Schaden nimmt an seiner Seele? Was hilft es einem Menschen, wenn er ein schönes Leben hat und Schaden nimmt an seiner Seele?“
Wer aber Jesus nachfolgt, in guten wie in schweren Tagen, in guten wie auf schweren Wegen, der ist ein geführter Mensch. Der kommt dort an, wo er erwartet wird.
Wenn ich mein Leben in dieser umfassenden Weise als geführt betrachten kann, dann verlieren auch schwierige Lebensentscheidungen ihre Dramatik. Wir erleben unser Leben ja oft als ein großes Labyrinth, in dem wir ständig Entscheidungen treffen müssen, ohne zu wissen, ob der Weg, für den wir uns entscheiden, sich als Sackgasse erweist oder nicht.
Und wir leben dann mit der Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen. Wir fürchten, dass wir uns mit einer falschen Entscheidung das Lebensglück verriegeln könnten und es nie wieder korrigieren können. Wir haben Angst, durch eine falsche Entscheidung auf eine ganz falsche Lebensspur zu geraten.
Dieser Psalm bietet eine ganz andere Perspektive. Er soll uns unendlich entspannen. Wer sich dem guten Hirten anvertraut, darf sich in allen notwendigen Lebensentscheidungen als geführt begreifen. Er muss nicht mehr an den Wegkreuzungen des Lebens vor Angst verzweifeln, ob er sich möglicherweise falsch entscheidet.
Ob er jetzt statt Mathematik Maschinenbau studiert oder ob sie Krankenschwester oder er Krankenpfleger wird, oder was weiß ich, Gas-, Wasser- oder Heizungselektriker – das sind nicht die Grundentscheidungen unseres Lebens. Wir werden uns weder mit dem einen noch mit dem anderen das Lebensglück erwerben oder verriegeln.
Wer sich dem guten Hirten anvertraut, muss nicht mehr verzweifeln. Er wird entscheiden. Er kann auf einmal mutig entscheiden, er kann fröhlich entscheiden, weil er weiß: Ganz egal, wie die Entscheidung ausfällt, der gute Hirte führt mich in jedem Fall auf gute Straße, auf rechte Straße, auf frische Aue und zum frischen Wasser.
Und selbst wenn ich durch die dunklen Täler muss, durch meine Entscheidung, ist er immer noch da und wird auch dann nicht von meiner Seite weichen.
Wenn wir uns in unseren Lebensentscheidungen Gott anvertrauen und dann mutig Entscheidungen treffen, dann kann es so oder so gehen. Aber es wird immer so sein, dass Gutes und Barmherzigkeit uns folgen werden, ein Leben lang.
Und es wird immer so sein, dass wir an Gottes Hand immer zurückkehren werden in sein Haus, ins Haus des Herrn in Ewigkeit. Amen!
Lassen Sie uns beten: Du guter Hirte, du guter Hirte, wir sind deiner Führung bedürftig. Wir kommen wieder neu zu dir, weil wir das zu oft vergessen. Uns zu oft selber zu viel zutrauen und dir zu wenig zutrauen.
Wir sind deiner Führung bedürftig, deiner Leitung bedürftig, und wir wollen neu kommen. Ich bitte dich: Übernimm die Regie, da wo wir uns selber zu den Regisseuren unseres Lebens gemacht haben.
Du stärkst uns das Vertrauen, dass wir eben nicht nur auf den schönen Höhenwegen von dir geleitet werden, sondern auch durch die tiefen Täler.
Wir wollen neu lernen, dass das zu unserem Besten dient. Dass du uns ausrüstest, vorbereitest, stark machst und widerstandsfähig.
Wir wollen neu lernen und begreifen, dass wir geführte Menschen sind, auch in den Rätseln unseres Lebens, auf den dunklen Wegen unseres Lebens. Wir sind geführte Menschen.
Und dass du das Ziel unseres Lebens im Blick hast, das wir oft nicht sehen können.
Segne uns in diesem neuen Jahr als deine Schafe, die eine Gemeinde bilden, und führe du uns immer wieder neu auf rechter Straße, um deines Namens willen. Amen.
