Ja, es sind sonderbare Zeiten. An Karfreitag und Ostern finden keine Gottesdienste statt – so etwas hat die Christenheit wahrscheinlich noch nie erlebt. Wir würden das gerne live erleben, mit Menschen zum Anfassen. Immerhin können wir das durch Videoübertragungen überbrücken.
Wir haben unseren Hauskreis in dieser Woche zum Teil sogar schon Abendmahlsfeiern über Videoplattformen durchgeführt. Ich denke, es ist zwar nicht dasselbe, aber es gibt uns einen kleinen Eindruck davon, was viele Gläubige an diesem Tag erleben. Menschen, die auf der Flucht sind, vielleicht in Kriegsgebieten, oder solche, die unter Naturkatastrophen leiden oder verfolgt werden.
Ich denke auch an die vielen Alten und Kranken, die zum Teil schon jahrelang keinen Gottesdienst mehr besuchen konnten. Vielleicht gibt uns das einen kleinen Einblick in das, was diese Menschen heute und zum Teil schon sehr lange erleben. Es darf uns daran erinnern, für sie zu beten und nicht über unseren zeitlich befristeten Verlust zu klagen.
Lasst uns an jene denken, die verlassen sind und nicht einmal an einen Gottesdienst denken können. Ich glaube, Jesus hat auch an diese Menschen gedacht.
Ich möchte die Predigt heute, wie schon angekündigt, über das vierte der sieben Worte Jesu am Kreuz halten. Es geht also genau um das, was in der Mitte stand, wo es heißt in Matthäus 27,46: „Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, Lama Sabachthani?“ Das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Ein Augenblick bitterster Entblößung. Und doch sind die Gedanken Jesu ganz klar. Diese sieben Sätze, die Jesus am Kreuz hinausgeschrien oder vielleicht auch hinausgestöhnt hat, sind sehr deutlich in ihrer Aussage. Wir beschränken uns heute auf die Betrachtung dieser Aussage.
Kein Schmerz ist größer als der Schmerz der Seele. Manche von uns haben schwere körperliche Nöte und tragen schwer daran. Aber noch größer als das ist der Schmerz der Seele – hier der Schmerz, sich von Gott verlassen zu fühlen. Und nicht nur zu fühlen, sondern es wirklich zu sein.
Charles Haddon Spurgeon hat einmal Folgendes gesagt: „Wenn der Herr sich zurückgezogen hat, bricht ein Sturm los, der einem Vorspiel der Hölle gleicht.“ Und genau das ist es, was Jesus erlitten haben muss.
Vielleicht ist das der Grund, warum wir mit David im Psalm 27,9 beten können in Zeiten besonderer Glaubensanfechtung: „Verbirg dein Angesicht nicht vor mir und verstoße deinen Knecht nicht im Zorn, denn du bist meine Hilfe. Lass mich nicht fallen und zieh deine Hand nicht ab, Gott, mein Heil!“
Ja, wir beten darum, dass Jesus uns nie verlassen möge, auch in unserer Nachfolge. Ich denke, dieses Gefühl, von Gott verlassen zu sein, ist das Haupt- und Kernproblem, das ich bei manchen Christen schon miterlebt habe. Sie fühlten sich von Gott verlassen und steckten in einer tiefen Depression. Sie glaubten, weil sie nichts mehr von Gott empfanden, weil sein Wort nicht mehr zu ihnen sprach oder sie nur die Gerichtsworte anklagten, dass Gott sie verlassen hatte.
Du darfst wissen: Wenn dir das so gehen sollte, Jesus versteht dich. Er ist hindurchgegangen und er war wirklich von Gott verlassen. Ob du das je erlebt hast oder je erleben wirst – ich glaube, es ist gut, dass du die Größe der Liebe Gottes an der Tiefe dieses Schmerzes misst. Denn aus Liebe hat er diesen Schmerz auf sich genommen, ähnlich wie jener Fürst, von dem wir eben hörten.
Es war Jesus, der die Stimme hörte, damals bei seiner Taufe vom Himmel her: "Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe." Und dieser Gott, der das Wohlgefallen des Vaters trug, muss jetzt rufen: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich denn verlassen?"
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Jesus uns verspricht. Er sagt: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage." Auch in den Tagen der Anfechtung, der Erprobungen oder auch der Depression. Er hat uns Psalm 23 gegeben, wo es im Vers 4 heißt: "Und wenn ich auch wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir."
Für uns gilt die Einladung Jesu: Wer mich sucht, von dem werde ich mich finden lassen. Aber Jesus hat anderes durchlitten. Er wurde von Petrus verlassen und von Judas verleugnet. Doch das war es nicht, worüber er sich beklagte, denn er hatte schon kurz zuvor Folgendes vorhergesagt.
Ich lese das aus dem Matthäusevangelium Kapitel 26, Vers 31: Da sprach Jesus zu ihnen: "In dieser Nacht werdet ihr euch alle an mir ärgern, denn es steht geschrieben, und deswegen musste es so kommen: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen."
Wenig später sagt er noch einmal: "Wahrlich, ich sage dir, Petrus, in dieser Nacht, bevor der Hahn dreimal kräht, wirst du mich verleugnen." Das war für Jesus vorhersehbar, und das mag für ihn schwer, aber noch erträglich gewesen sein.
Aber dass der Vater ihn verlässt, dass die Räuber, die rechts und links von ihm angenagelt waren, ihn lästerten, dass die religiöse Elite um das Kreuz herumstand und ihm zurief: "Andern hat er geholfen, jetzt soll er sich doch selber helfen!" — all das war nicht so schlimm wie die Finsternis, die sich jetzt über ihn legte, als der Vater ihn verließ.
Er war wirklich verlassen. Wohl hatte er, und ich lese das aus dem Johannesevangelium Kapitel 16, Vers 32, einmal gesagt: "Siehe, es kommt die Stunde, und sie ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, jeder in das Seine, und mich allein lasst."
Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Und es war auch in weiten Teilen der Passionsgeschichte so.
Bei uns mag das ein Mangel an Glauben sein, wenn wir fühlten, Gott habe uns verlassen. Aber Jesus hatte keinen Mangel an Glauben, er war nicht plötzlich schwach geworden, denn er rief ja, er betete: "Mein Gott, mein Gott!"
Er wusste, dass weder je der Vater ihn verlassen hatte, noch er den Vater. Er hatte ja gesagt: "Ich und der Vater sind eins." Das Verlassensein war weder ein Versehen noch ein Versagen Gottes, sondern es war Gottes Wille.
Ich lese das aus der eben schon besungenen Geschichte in Gethsemane. Da sagt der Herr Jesus in seinem dringenden Gebet: "Mein Vater, wenn es nicht möglich ist, dass dieser Kelch an mir vorübergeht, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille."
Es war der Wille des Vaters, dass er dort hing. Ich habe in einem Wörterbuch nachgelesen über die Bedeutung des griechischen Wortes, das hier verwendet wird. Dort steht in etwa: Das meint Gottes gnädige Zuwendung mit diesem Willen, etwas, das getan werden soll, nach Gottes Wohlgefallen, damit die göttliche Absicht oder Erfüllung seines Willens zustande kommt.
Was er sich vorgenommen hat, das muss geschehen. Das war übrigens schon im Alten Testament vorhergesagt. Ich lese aus der alttestamentlichen Leidensgeschichte Jesu, aus dem Propheten Jesaja Kapitel 53, Vers 10: "Aber der Herr wollte ihn so zerschlagen mit Krankheit." Das war kein Versehen.
Ich habe mich an die Geschichte erinnert, als der Vater aller Gläubigen, Abraham, herausgefordert wurde. Er sollte seinen eigenen Sohn opfern. Abraham ging mit ihm ganz alleine auf diesen Berg. Dann band der Vater den Sohn selbst und legte ihn auf den Altar.
So hat Gott der Vater es getan: Er gab willentlich, überlegt, mit Plan und voller Absicht Jesus dem Tod. Jesus, der kurz zuvor noch im Garten Gethsemane die Hilfe eines Engels bekommen hatte, der ihn stärkte. Plötzlich war er allein. Er, der noch bei der Gefangennahme seinen Jüngern, die ihn verteidigen wollten, sagte: „Wisst ihr nicht, ich könnte meinen Vater bitten, und er würde mir auf der Stelle zehn Legionen Engel schicken.“ Jetzt zeigte sich nicht ein einziger.
Weder bei der Folterung, der Auspeitschung, als er angespuckt und ausgelacht wurde, noch bei der Kreuzigung war ein Engel zu sehen oder zu hören. Und diese Einsamkeit steigerte sich dann von mittags zwölf bis nachmittags um drei Uhr, als eine gewaltige Finsternis über das Land kam. Jesus musste in dieser äußersten Agonie, die er drei Stunden lang ertragen musste, schließlich unseren Predigttext in die Nacht hinein schreien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Gott hat uns gesagt, dass die ganzen Engel zum Dienst derer ausgesandt sind, die die Seligkeit ererben sollen. Wir dürfen wissen: Auch in der größten Not sind Gottes Engel immer mit uns. Das hat Stephanus erlebt, als er gesteinigt wurde. Er sah auf und sah den geöffneten Himmel und Jesus stehen zur Rechten Gottes. Er sah buchstäblich: „Der Himmel ist mit mir.“ Aber Jesus war allein.
Jesus hatte uns gesagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben.“ Er hat es versprochen: Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. Das hat er uns im Hebräerbrief 13,5 wiederholt, was er schon Jahrtausende zuvor dem Josua zugerufen hatte: „Ich werde dich nicht verlassen und nicht aufgeben.“
Als drei der hervorragendsten Zeugen Gottes in einen Feuerofen geworfen wurden durch den König Nebukadnezar, weil sie sich vor seinem Standbild nicht niederwerfen wollten – sie sagten: „Wir beten Gott alleine an, und selbst wenn du uns in den Feuerofen wirfst, werden wir das nicht tun“ – da musste der König Nebukadnezar mit heiligem Entsetzen feststellen, dass plötzlich nicht drei Männer im Feuerofen waren, sondern vier. Er sagte: „Und einer sieht aus wie der Sohn eines Menschen.“ Das ist ein Titel, den Jesus trug als Gottessohn.
Für uns dürfen wir wissen: Auch wenn wir in tiefsten Nöten sind, auch wenn wir uns wie in einem Feuerofen vorkommen, auch wenn wir uns verlassen fühlen – ich möchte dir heute Morgen sagen: Der Einzige, der von Gott wirklich verlassen war, war der Sohn Gottes selbst, damit du nicht verlassen sein musst.
Mancher hat auch in schweren Stunden Gott unter Tränen seine Situation anvertraut. Er hat ihm ein Ja zu dem Weg gesagt, den Gott ihn führt. Gerade in solchen Momenten hätte er vielleicht am dringendsten gebraucht, dass plötzlich ein Engel neben ihm steht, eine Stimme vom Himmel zu hören ist oder wenigstens in seinem Herzen eine große Freude aufbricht – in dem Wissen: Jesus ist da. Doch genau dann scheint manchmal der Himmel wie vernagelt.
Dennoch habe ich mich an jenes Wort erinnert, das der Apostel Johannes in seinem ersten Brief, Kapitel 5, Vers 14 gesagt hat: Wenn wir etwas bitten nach seinem Willen, dann hört er uns. Und wenn du betest mit den Worten des Vaterunsers: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“, dann darfst du wissen, er ist mit dir. Er hört, wenn wir beten, auch wenn er anders antwortet, als wir es erwarten. Vielleicht antwortet er zu einem anderen Zeitpunkt, als wir es erhoffen.
Ich möchte dir, der du vielleicht heute in deiner Situation das Gefühl hast, Gott habe dich verlassen, Folgendes sagen: Deine Gefühle sind verständlich. Jesus hat sie gefühlt. Aber weißt du, wenn deine Gefühle und das Wort Gottes miteinander im Widerstreit stehen – wenn du sagst, ich habe den Eindruck, ich habe das Gefühl oder vielleicht sogar die Überzeugung, Gott hat mich verlassen –, dann möchte ich dir sagen: Gottes Wort ist immer die Wahrheit.
Wenn er gesagt hat: „Ich werde dich nicht verlassen und niemals aufgeben“, dann ist das auch so. Und zwar aus dem einen Grund, weil er den Grund für unser Verlassen-Sein, nämlich die Sünde, die uns von Gott getrennt hat, am Kreuz von Golgatha getragen hat. Nicht deine Gefühle sind Wahrheit, so sehr sie dich auch bedrängen und so sehr ich sie auch mit dir teilen könnte. Nein, Gottes Wort ist Wahrheit.
Manchmal sind es die, die neben schwer Geprüften und Angefochtenen stehen, diejenigen, die noch mehr leiden als die Betroffenen selbst. Sie wollen helfen und ermutigen, und scheinbar kommt nichts an. Jesus war aber wirklich verlassen, hilflos zurückgelassen und vergessen – so kann man dieses Wort auch übersetzen. Menschen tun das Menschen an.
Sogar der Apostel Paulus hat gesagt, als er im Gefängnis in Rom lag: „In meiner ersten Verantwortung, bei der ersten Anhörung, haben mich alle verlassen.“ Aber was immer du an Not erleben könntest – Jesus hat noch mehr davon erlitten. Es gibt keine Not, ja, es gibt auch keine Konsequenz deiner Sünde, die er nicht getragen hätte.
Denn Jesus ist nicht nur wegen unserer Sünde ans Kreuz gegangen. Er ist nicht nur das stellvertretende Opfer geworden, sondern hat auch die Folgen der Sünde getragen. Das spricht mich immer so an aus dieser alttestamentlichen Leidensgeschichte, die ich vorhin schon einmal zitiert habe: Jesaja 53,4 heißt es: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.“
Schau, wir dürfen wissen: Wenn wir auch heute die Suppe auslöffeln müssten, die wir uns eingebrockt haben durch unsere eigenen Wege, durch unsere Sünde, wenn uns das Gewissen auch anklagt und wir kaum zur Ruhe kommen – du darfst wissen: Das hat der Herr auch getragen. Und du bist auch in den Folgen deiner Sünde, die du vielleicht dein Leben lang zu tragen hast, niemals alleine.
Meine eigene Mutter hatte sich auf dem Weg, den sie ohne Gott gewählt hatte und auf dem sie in Drogen und Alkohol geraten war, eine schwere Infektionskrankheit zugezogen. Diese Krankheit zeichnete sie ihr Leben lang und war am Ende auch für ihr irdisches Ableben verantwortlich.
Einmal sagte ich ihr in einem Telefonat: „Mutti, weißt du, Gott lässt das auch stehen, damit du nie vergisst, wo du herkommst und woraus dich Jesus gerettet hat. Aber er wirft dir das nicht vor. Er sagt dir jetzt nicht: ‚Das hast du jetzt davon, und das musst du jetzt tragen.‘ Nein, er steht an deiner Seite und geht mit dir, weil er auch dieses Leiden, auch die Konsequenzen der Sünde auf sich genommen hat. Wenn du auch den Eindruck hast, Gott lässt mich jetzt alleine und ich bin ja auch selber schuld daran, dann darfst du wissen: Gerade jetzt ist Jesus bei dir.“
Es ist wahr, er würde uns niemals verlassen, aber wir verlassen ihn manchmal. Ich habe mich an die Geschichte eines starken Mannes im Alten Testament erinnert. Jedes Kind kennt sie, und jeder Junge bewundert ihn: Simson, dieser starke Held.
Doch Simson war Gott gegenüber untreu und meinte, er könne jede Situation bezwingen. Dann kam es so weit, dass er sich an seine Frau Delilah gewissermaßen verkauft hatte. Als er aufwachte und merkte, wie untreu sie ihm gewesen war, dachte er: „Gar kein Problem, ich werde mich schon wieder befreien, wie ein Entfesselungskünstler.“
Dann heißt es so tragisch in dieser Geschichte: „Aber er wusste nicht, dass der Herr von ihm gewichen war.“ Gott ließ ihn in dieser Situation alleine, aber er war doch mit ihm. Er ließ ihn die Folgen seiner Sünde schmecken. Doch warum war das so weit gekommen? Weil Simson Gott verlassen hatte.
Das Problem ist nicht Gottes Untreue, sondern dass wir als Christen ihn manchmal untreu behandeln. Oft sind wir unempfindlich gegenüber Gott und manchmal auch gleichgültig. Wir sind so gefangen von unserem Alltag, unseren Pflichten und vielleicht auch von unseren Vergnügungen, dass wir gar nicht merken, wie wir uns von Gott entfernen.
Unser Ohr verschließt sich für das Reden Gottes. Manchmal ertragen wir es gut, über längere Zeit keine echte Begegnung mehr mit Gott in seinem Wort gehabt zu haben. Wir haben lange nicht mehr erlebt, dass er unmittelbar in unser Herz spricht und unser Herz vor Freude aufgeht oder vor ihm zerbricht in Busse.
Früher haben wir manchmal ein Lied gesungen, dessen Refrain lautete: "Gott, lass mich immer Heimweh haben, wenn ich nicht nahe bei dir bin." Ich wünsche dir dieses Heimweh nach dem lebendigen Gott, wenn du merkst, dass du ihn ein Stück weit verlässt.
Schau, Jesus musste sich immer wieder von dieser Welt losreißen. Er musste sich losreißen von den Jüngern und den Menschen, die ihn umgaben, um auch einmal alleine zu sein mit Gott. Er hat ganze Nächte mit dem lebendigen Gott verbracht, damit er mit dem Vater in Kontakt blieb, auf ihn hörte und in seiner Führung blieb.
Wenn Jesus das musste, wenn er darauf achten musste, die Verbindung mit dem lebendigen Gott, seinem Vater, nicht zu vernachlässigen – brauche ich das dann nicht auch? Brauchst du das nicht auch?
Im Alten Testament gibt es ein Buch, das zugegebenermaßen sehr kontrovers ausgelegt wird: das Buch "Hohes Lied". Es beschreibt ein Liebespaar mit verschiedenen Gesprächen und Handlungen. Dort heißt es einmal, dass die Braut die Tür öffnete, das Fenster öffnete, um nach ihrem Verlobten zu sehen. Sie fand ihn nicht, lief in der ganzen Stadt umher und fragte: "Habt ihr ihn nicht gesehen?"
Ich wünsche dir, dass du diese Sehnsucht nach Gott immer wieder hast, wenn du merkst, wie du ihn verlassen hast, wie du ihn vernachlässigt hast, wie dein Herz in dieser Welt umherging, aber du nicht mehr auf ihn ausgerichtet geblieben bist.
Zurück zu Jesus und seinem schrecklichen Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Trotz dieser Verlassenheit merken wir, dass Jesus dennoch glaubte. Er rief zwar nicht mehr das vertraute „mein Vater“, sondern eher das unpersönliche „mein Gott, mein Gott!“.
Wenn man die sieben Worte Jesu am Kreuz nacheinander liest, stellt man fest, dass das erste dieser Worte mit „Vater“ beginnt: „Vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun“. Das allerletzte Wort, das Jesus rief, war ebenfalls „Vater“: „In deine Hände befehle ich meinen Geist“.
Doch dazwischen gab es diesen Kampf, diese Not, in der er nur noch sagen konnte: „Mein Gott!“.
Vielleicht geht es dir manchmal auch so. Du betest und denkst: Wenn ich jetzt „mein Vater“ sagen würde, würde ich etwas beten, das meinen Gefühlen genau entgegensteht. Denn gerade hast du nicht das Empfinden, dass Gott ein lebender Vater ist.
Dann rufe trotzdem zu ihm! Rufe zu ihm „mein Gott“, aber hör nicht auf, nach ihm zu rufen, damit du erlebst, was Asaph, einer der Psalm-Dichter, einmal gesagt hat: „Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand.“
Und ich komme für mich persönlich zum Höhepunkt meiner Betrachtungen, die mich seit längerer Zeit bewegen.
Schau, Jesus hatte nie Angst. Er war ganzen Heerscharen von Dämonen entgegengetreten, in völliger Sicherheit der Herrschaft des Gottessohnes. Er war den bösartigen Juden gegenübergetreten und hat auch nicht vor Angst geschrien, als man ihn gefangen nahm. Er hat nicht einmal geschrien, als er Schmerzen hatte. Wir lesen das im bereits zweimal zitierten Kapitel 53 von Jesaja, dass er den Mund nicht auftat, als man ihn marterte.
Aber jetzt, als Sterbender, als es dunkel wurde um ihn herum, als der Vater ihn verließ, als er am Ersticken war – denn das ist eigentlich der Tod, den ein Gekreuzigter schlussendlich erleidet – als er fast keine Luft mehr bekam, als er drei Stunden diese Finsternis, diese Gottesferne erlitten und durchlitten hatte, als er gespürt hatte, wie Mächte der Finsternis ihn bedrängen, da hat er auf einmal hinausgeschrien. Der griechische Text benutzt das Wort Megaphone, das kennen wir vom Megaphon. Da rief er mit lauter Stimme: „Mein Gott, mein Gott!“
Und das gibt uns einen Eindruck von dem Entsetzen, das Jesus in diesem Augenblick gepackt haben muss. In dieser entsetzlichen Not, mit der äußersten körperlichen Schwäche und der bedrängenden Atemnot, schreit er dennoch: „Wo bist du?“ Es war viel, viel schlimmer als die Kreuzigung selbst. Es war dieser Tod, denn Tod bedeutet Trennung – diese Art Tod, die Trennung von Gott –, die sein Entsetzen hervorrief.
Für ihn war diese Trennung viel, viel schmerzhafter, als wir es vielleicht empfinden könnten. Diese Trennung war eine Quelle der Angst, weil er vollkommen heilig war. Er kannte es nicht, dass Gott sich von ihm trennt. Weil er vollkommen war, auch in der Gemeinschaft mit Gott, war die Trennung vom Vater umso schmerzhafter. Für niemanden ist das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, schmerzhafter und erschreckender als für Jesus selbst.
Die Tiefe seiner Gemeinschaft mit Gott können wir nicht ermessen und deswegen auch nicht den entsetzlichen Schmerz dieses Verlusts der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Und das macht uns deutlich, was Jesus meinte, als er in Gethsemane sagte: „Herr Vater, wenn es nicht möglich ist, dass dieser Kelch an mir vorübergeht, so trinke ich ihn, denn so geschehe dein Wille.“
Begreifen wir: Dieser Kelch war nicht der körperliche Schmerz oder die Atemnot, so entsetzlich das auch ist. Sondern der Kelch, den es zu trinken galt, war die Trennung von Gott, dieses furchtbare Gefühl des Gerichts und des Verstoßenseins.
Und schau, aus diesem Betrachten leiten wir jetzt einiges für uns selbst ab.
Ich wünsche dir, dass du darüber auch heute noch nachdenken kannst, indem du Matthäus 27 und die entsprechenden Paralleltexte der Evangelien betend durchliest und über Jesus nachdenkst.
Ich glaube, dass wir daraus drei Dinge lernen können – sicherlich noch mehr, aber heute morgen möchte ich drei benennen, die uns aus dem Nachdenken über das Verlassen-Sein Jesu durch den Vater für unser Leben hilfreich sein können.
Erstens: Hinter dem Schutzwall seiner Stellvertretung darfst du sicher sein. Er wurde verlassen. Wir hätten das verdient. Das hat uns vorhin Daniela sehr eindrucksvoll an der Geschichte dieses kaukasischen Fürsten deutlich gemacht. Die Mutter hätte ja diese Strafe verdient gehabt. Und so wir, du und ich, wir hätten es verdient gehabt, von dem Vater verlassen zu sein, der uns für sich geschaffen hatte und den wir durch die Sünde verlassen hatten.
Ich möchte mir nicht einmal ausmalen, nicht eine Sekunde lang, was es für dich bedeuten würde, wenn du mit Gott nicht versöhnt wärst. Wenn du eines Tages für immer von ihm verlassen wärst, wenn du eines Tages das Urteil Gottes hören müsstest: „Geht von mir, ihr Verfluchten, in das höllische Feuer.“ Denn das ist eine Realität.
Aber weil Jesus zur Sünde gemacht wurde, weil Jesus genau das tat, was auch jener kaukasische Fürst getan hat, dürfen wir Frieden haben. Im Alten Testament heißt es einmal durch den Propheten Habakuk: „Deine Augen sind zu rein, um Böses mit anzuschauen.“ So rein sind die Augen Jesu. Und dann wird dieser reine Jesus zur Sünde – in Person, wie der Galaterbrief sagt – sogar zum Fluch gemacht.
Er hat sich der Gerechtigkeit Gottes gestellt. Auf ihn wurde die Sünde der Menschheit gelegt, meine und deine Sünde mit all ihren zeitlichen und ewigen Folgen. Aber das Ziel, das er damit verfolgte, nämlich unsere Errettung, war in seinem Herzen so teuer, so wertvoll, dass er das Übel auf sich nahm, vom Vater getrennt zu sein.
Er nahm deinen und meinen Platz ein. Er wurde behandelt wie der größte Verbrecher aller Zeiten. Er fühlt, was Sünder fühlen werden, die in die ewige Verdammnis gehen. Und er fühlt, was der Gläubige fühlt, wenn er sich vor Gott schuldig fühlt und zweifelt, ob Gott ihm noch einmal vergeben könne.
Er nimmt den ewigen Tod auf sich – die Trennung vom lebendigen Gott. Und als er schließlich ausrief „Es ist vollbracht!“, da war die Versöhnung vollbracht. Da hatte er das Opfer, das stellvertretende Opfer, bis zur Genüge gebracht. Jetzt war die Heiligkeit Gottes befriedigt, das Gericht für die Sünde war vollzogen.
Der Tod Jesu offenbart zum einen die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes, dass es nicht billiger ging, uns zu retten. Und der Tod Jesu offenbart auch die Schrecklichkeit unserer Sünde. Es ging nicht billiger.
Aber weißt du, weil Jesus das getan hat, weil er stellvertretend für dich und mich das Sterben auf sich nahm, das Gericht auf sich nahm, darf mein Gewissen zur Ruhe kommen, wenn es angeklagt ist.
Neulich sprach ich mit einem Mann, der einmal wegen seines Fehlverhaltens ins Gefängnis gekommen war. Er folgt Jesus nach und sagte mir: „Weißt du, das verfolgt mich noch immer, was ich getan habe. Und ich weiß nicht, ob Jesus mir vergeben kann. Mein Gewissen ist fortwährend angeklagt.“
Ich durfte ihm – und ich darf das dir sagen: Wenn dein Gewissen dich anklagt, hat das einerseits eine Berechtigung. Manchmal ist es auch gut, wenn wir nicht ganz vergessen, was wir Jesus alles angetan haben. So werden wir nicht hochmütig und schauen nicht auf andere herab, die in unseren Augen schuldig sind.
Aber du darfst wissen: Alles, was mein Gewissen anklagt, das hat Jesus am Kreuz getragen. Er hat das Äußerste erlitten. Ich müsste die Hölle fürchten, wenn es Jesus nicht gäbe, aber ich brauche sie nicht mehr fürchten.
Denn es ist wahr, was beim ersten Auftreten Jesu durch Johannes den Täufer gesagt wurde: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“
Diese Stellvertretung, die Jesus am Kreuz bewirkt hat, ist wie ein Schutzwall, ist wie eine Rüstung. Und wir sind darin völlig sicher gegenüber den Anklagen des Wortes Gottes, gegenüber den Anklagen des Teufels.
Ja, der Teufel klagt auch Christen an. Und er benutzt manchmal sogar die Bibel dazu – so böse ist er. Aber er lügt, wenn er das tut.
Es gibt eine schöne Geschichte im Alten Testament: Mose, der Mann Gottes schlechthin im Alten Testament, wollte Gott leibhaftig begegnen. Darum bat er: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen.“
Wir lesen in dem Bericht, dass Gott ihm sagte: „Guck, da ist eine Felskluft. Stell dich hinein, und ich werde meine Hand vor diese Kluft halten, denn du kannst meine Herrlichkeit nicht sehen.“
Gott ist zu heilig, als dass sterbliche Menschen ihn sehen könnten. Aber in diesem Felsen war Mose völlig geborgen. Und dieser Felsen ist ein Sinnbild für Jesus.
Ja, in Jesus darf ich geborgen sein, weil keine Kraft der Welt mich je wieder von Gott scheiden kann. Keine Anklage des Gewissens kann ihr Ziel erreichen, mich vom Glauben an Jesus zu trennen.
Auch wenn wir unser Zukurzkommen sehen – und ich sehe es fortwährend, ich sehe bei weitem nicht alles, womit ich an Gott schuldig werde – darf ich dennoch wissen: In Jesus darf ich geborgen sein. Sein stellvertretendes Leiden ist ein Schutzwall für mich.
Gott musste sich als Richter von seinem Sohn zurückziehen – wegen dir und mir. Und doch war er ihm, menschlich gesprochen, niemals so nahe wie in diesem Augenblick. Als Jesus ihm gehorsam war und den Willen des Vaters bis zur äußersten Neige erfüllt hat.
Der Sohn war ihm niemals lieber. Der Sohn bewies seine Liebe zum Vater niemals eindrücklicher als in diesem Moment, in dem er gehorsam wurde bis zum Tod.
Deswegen dürfen wir sicher sein.
Und wenn du nicht sicher bist, dass dir vergeben ist, dann bist du nicht sicher. Dann darfst du heute – und es gäbe keinen besseren Tag in unserem Kalender als heute – zu Jesus kommen.
Du darfst ihm deine Schuld bekennen, deine Gerichtswürdigkeit, dass du Gottes ewige Verdammnis verdient hast. Du darfst ihm die Sünde bekennen, ohne ihn als Herrn gelebt zu haben und seine Gebote so oft mit Füßen getreten zu haben.
Du darfst zu ihm kommen mit stammelnden Worten und sagen: Ja, das habe ich getan. Aber Jesus, ich vertraue darauf, dass du auch meine Sünden vergibst und dass du willig und fähig bist, mich mit dem Vater zu versöhnen.
Ein älterer Prediger erzählte mir folgende Geschichte: Er machte immer wieder missionarische Reisen in den Ostblock. Eines Tages war er mit einer größeren Gruppe in einem Gefängnis, ich glaube in Ungarn. Dort predigten sie den Gefangenen das Evangelium.
Der Sohn dieses Predigers war ebenfalls in der Gruppe. Während der Predigt sagte der Vater zu den Gefangenen: „Ich mache euch einen Vorschlag.“ Dann rief er einen der Mörder zu sich, neben sich, und sagte: „Schau mal, das da ist mein Sohn. Den werde ich jetzt hier in diesem Gefängnis lassen, und du gehst mit mir nach Hause als mein Sohn.“
Der Gefangene dachte: „Oh, was hat er denn geraucht und getrunken? Was ist mit diesem alten Mann los?“ Doch der Prediger meinte es ganz ernst und deutlich. Er konnte es zwar nicht umsetzen, denn das erlaubten die Gesetze nicht, aber er wollte damit verdeutlichen, was Jesus getan hat. Er hat die Strafe auf sich genommen – darin darfst du sicher sein, auch in allen Anklagen deines Gewissens.
Das ist das Erste, was wir aus diesem stellvertretenden Verlassen-Sein von Jesus lernen können: Du bist hinter dem Schutzwall seiner Stellvertretung sicher.
Das Zweite: Wenn du dich je von Gott verlassen fühlst, dann macht er das Gleiche wie Jesus am Kreuz. Öffne die Bibel!
Vielleicht sagst du jetzt: „Jesus konnte am Kreuz doch keine Bibel lesen.“ Ja, das stimmt natürlich. Aber er hat mit den Worten der Bibel gebetet. Unser Predigttext heute lautet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dieser Satz steht im Alten Testament, in einem der sogenannten messianischen Psalmen, Psalm 22. Dort hat David diese Worte in einer Notlage ausgerufen, die wir jetzt nicht näher beschreiben. Er hat ein Wort gesagt, das für ihn ausdrückte: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Was Jesus am Kreuz tut, ist Folgendes: Er redet. Er betet mit Worten der Bibel und spricht mit Gott, so gut es ihm möglich war.
Wenn du das Gefühl hast, Gott habe dich verlassen – sei es zu Recht nach deinem Empfinden oder zu Unrecht –, oder wenn du sagst: „Ich fühle mich von Gott verlassen, aber ich weiß nicht warum, ich verstehe ihn nicht.“ Oder wenn du vielleicht sagen müsstest: „Meine Schuld ist zu groß, als dass ich noch Anspruch auf Gottes Erbarmen hätte“, dann mach es wie Jesus: Öffne die Bibel!
Ich habe dir das vorhin schon gesagt: Deine Gefühle und Gottes Wort widersprechen sich oft. „Meine Gedanken und die Gedanken Gottes sind oft so weit auseinander wie der Himmel von der Erde“, sagt einmal der Prophet Jesaja. Aber wenn das so ist, dann hat immer Gott Recht.
Wenn wir uns weiß waschen wollen, dann hat Gott Recht, wenn er uns von unserer Sünde überführt. Und wenn wir untergehen in der Anklage unseres Gewissens und denken, wir hätten keine Hoffnung, dann hat Gottes Wort auch Recht, wenn es sagt: „Wenn eure Sünde auch blutrot wäre, soll sie doch schneeweiß werden.“
Ich sage dir: Wenn du in dieser Not bist, dann schrei deine Not hinaus! Ja, manchmal müssen wir sogar buchstäblich schreien, wenn unsere Not groß ist. In der Bibel wird öfter beschrieben, dass Menschen ihre Not vor Gott aussprachen, so wie es ihnen ums Herz war.
Ich lese aus Psalm 22, den David geschrieben hat und an den Jesus gedacht hat, als er am Kreuz hing, noch einen weiteren Vers, und zwar Vers 25:
Psalm 22,25: „Denn er hat das Elend des Armen nicht verachtet und verschmäht und sein Angesicht nicht vor ihm verborgen. Als er zu ihm schrie, hörte er es.“
Du darfst wissen: Wenn du zu Gott schreist in deiner Not, hört er dich. Als Jesus am Kreuz schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, hörte ihn der Vater.
Mich tröstet immer wieder ein Satz aus dem Hebräerbrief. Dort heißt es einmal von Jesus, ich lese aus Hebräer 5,7:
„Er, Jesus, hat in den Tagen seines irdischen Lebens Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen dargebracht dem, der ihn vom Tod erretten konnte, und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.“
Wenn du dich verlassen fühlst, dann suche die Wahrheit in Gottes Wort. Wende dich an Jesus und sag ihm deine ganze Not. Sag ihm, wie es gerade um dein Herz steht.
Du musst vor Jesus keine Show spielen. Du musst nicht den Frommen markieren. Du brauchst keine perfekten Worte und sollst Jesus schon gar nicht etwas vorspielen, was in deinem Herzen gar nicht stimmt.
Ich glaube nicht zufällig steht nach Psalm 22, in dem vom Leiden des Herrn geschrieben wird, logischerweise anschließend Psalm 23. Dieser beginnt mit den wunderbaren Worten:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
Wenn du nicht mehr voll Vertrauen, Liebe und Sicherheit sagen kannst: „Mein Vater“, dann sage es wie Jesus auch: „Mein Gott!“ Aber rede! Vielleicht musst du dich durchringen wie Bartimäus, dieser blinde Mann, dem Jesus begegnete. Alle wollten ihn zum Schweigen bringen, doch je mehr man ihn zum Schweigen bringen wollte, desto lauter schrie er: „Jesus, du Sohn Gottes, du Sohn Davids, erbarme dich über mich!“
Das hat Jesus am Kreuz getan. Er hat Gottes Wort verwendet und sein Herz ausgeschüttet – auch mit Schreien, Tränen und allem Unverständnis.
Das darfst du auch, so wie Paulus, der in seinen Briefen manchmal schreibt: „Wir waren niedergedrückt, aber nicht verzweifelt.“ Und an anderer Stelle sagt er: „Wir sind am Leben verzweifelt, wir hatten keine Hoffnung mehr.“
Von Jesus heißt es einmal im Hebräerbrief, Kapitel 2, Vers 18, dass er in allen Dingen versucht wurde – genau wie wir – um ein barmherziger hoher Priester zu werden und Mitleid mit unseren Schwachheiten zu haben.
Er wurde in allen Dingen versucht, genau wie du und ich. Ihm ist nichts fremd.
Wenn das nicht so gewesen wäre, gäbe es heute Wunden der Seele, für die man keine Salbe finden kann. Dann gäbe es heute Not ohne Trost. Aber weil Jesus das Äußerste durchlitten hat – die Trennung vom Vater –, ist er auch jetzt genug für dich.
Ich hoffe, dass du nicht wirklich eines Tages von Gott verlassen bist, wenn du vor ihm stehst. Wir werden alle vor ihm erscheinen.
Entweder wird Jesus neben dir stehen als dein Fürsprecher, dein Anwalt, der dem Vater sagt: „Vater, ich habe auch für diesen Menschen mein Leben gelassen, und er hat seine Hoffnung auf mich gesetzt.“
Ich hoffe, dass Jesus neben dir steht, weil du heute deine Knie und dein Herz vor ihm beugst, seine Vergebung annimmst und ihm dein Leben anvertraust.
Und damit komme ich zum Dritten, was wir von diesem stellvertretenden Verlassensein Jesu lernen können.
Das Erste war: Du bist hinter dem Schutzwall der Stellvertretung sicher. Du darfst wissen und bist aufgefordert, wenn du dich verlassen fühlst, dann öffne die Bibel und bete.
Ein Drittes, was daraus folgt, ist: Wir verabscheuen die Sünde. Charles Haddon Spurgeon, der ja so unnachahmlich über Jesus und das Evangelium schrieb, hat es einmal so ausgedrückt: Könnte ich Freund dessen sein, der meinem Bruder oder meinem Freund das Messer in die Brust gerammt hat?
Es war die Sünde, die Jesus ans Kreuz brachte, die ihn gewissermaßen umbrachte. Wie könnten wir dann Freund der Sünde sein? Wie könnten wir mit Dingen, die Gottes Wort verneint, Liebe spielen? Wie könnten wir die Maxime haben: „Na ja, wir können ja mal ziemlich nah rangehen, und wir brauchen ja nicht so gesetzlich und so eng sein“? Nein, ich glaube, wir sollten weit weg von der Sünde sein.
Sünde brachte Jesus um. Wie könnten wir ihr Freund sein? Wenn ich verstanden habe, was Sünde ist und wie Jesus an ihr litt – wie Jesus litt an der Sünde, weil wir Menschen aufbegehrt haben und seine Gebote von uns geworfen haben –, wenn er zur Sünde gemacht wurde, wenn er zum Fluch gemacht wurde, wenn er von Gott verlassen wurde wegen der Sünde, wegen der Übertretung des Wortes Gottes durch uns Menschen, wie könnten wir dann Sünde in unserem Leben noch dulden?
Es war Paulus, der im Brief an die Römer, Kapitel 6, Vers 1 sagte: „Was sollen wir nun hierzu sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger wird?“ Nein! Ich glaube, das Nachdenken über Jesus und sein Verlassensein, wenn wir das verinnerlichen – sofern wir nicht völlig abgestumpft sind –, kann in uns nur eines bewirken: Buße, Umkehr, die Bitte um Vergebung.
Wir Sünder haben als Christen manchmal sehr leicht genommen, dass wir uns von ihm entfernt haben, weil wir so beschäftigt waren mit den Dingen dieser Welt, dass unser Ohr nicht mehr wirklich offen war für sein Reden zu unserem Herzen. Ich glaube, wenn wir begriffen haben, was Jesus hier erlitt, dann werden wir ihm heute Sünde bekennen. Wir werden sie aussprechen. Wir werden nicht mehr unser Gewissen totschweigen und unsere Schuld nicht mehr relativieren oder kleinreden, sondern wir werden sie ans Licht bringen.
Wir werden sie vielleicht sogar auch mal vor Menschen aussprechen, wenn wir merken, diese Sünde hält mich gefangen und ich komme da nicht alleine los. Es ist wichtig, dass wir auch manchmal radikal mit der Sünde brechen. Wie Jesus gesagt hat: „Wenn dein Auge dich zur Sünde verleitet, dann reiß es aus.“ Das hat er, glaube ich, nicht ganz so buchstäblich gemeint. Er wollte nur zeigen: Dann gehe radikal vor.
Und wenn wir begreifen, was Jesus getan hat, wie er sich verlassen ließ vom Vater, wenn wir begriffen haben, was er durchlitt, der Heilige, dann werden wir uns ihm neu hingeben. Wir werden unser Leben ihm weihen. Wir werden uns zur Nachfolge und zu einem Wandel in der Heiligung neu zur Verfügung stellen und sagen: Jesus, hier ist mein Leben, gestalte du es neu. Lass mich neu erfasst werden von dir. Gib mir neu Freude an deinem Wort. Gib mir Freude, auch Opfer zu bringen, die Dinge aufzugeben, die mir lieb sind, wenn sie mich trennen von einem engen Wandel mit dir.
Lasst uns alles fliehen, was uns in Distanz zu Jesus bringt, denn wir würden uns nur selbst ins eigene Fleisch schneiden. Lasst uns nah bei Jesus bleiben. So wie dieses vorhin zitierte Lied sagt: „Gott, lass mich immer Heimweh haben, wenn ich nicht nahe bei dir bin.“
Mit diesen Gedanken möchte ich euch zunächst zu einer kurzen Stille einladen. Lasst uns dort, wo wir gerade sind, still werden vor unserem Gott. Sagen wir ihm das, was jetzt gesagt werden muss. Vielleicht treffen wir eine Verabredung mit ihm für heute, über die Dinge, die zu besprechen sind.
Lasst uns jetzt still werden. Ich werde gleich noch laut mit uns beten.