Liebe Freunde,
die Überschrift über unsere Tage der Stille lautet: „Meine Seele ist still und ruhig geworden.“ Es geht weiter im Psalm 131: „wie ein Kind bei seiner Mutter.“
Dazu eine kleine Geschichte: Ich durfte 14 Jahre in Schorndorf verbringen, vermutlich die schönsten Jahre meines Lebens, als Gemeindepfarrer und als Dekan.
Eines Tages kam der Oberbürgermeister und sagte: „Wir machen einen Skulpturenpark. Wir haben einige Bildhauer eingeladen, damit sie ihre Werke vorstellen. Könnte man nicht auch vor der Stadtkirche so eine Statue aufstellen?“
Wir haben dann ein Thema gewählt, und zwar von Professor Fritz Nuss: eine Mutter, die ihr Kind ganz eng bei sich hält. Bei dieser Statue sieht man eigentlich nur noch angedeutet das kleine Köpfchen des Kindes, weil die Mutter es so in ihrem Gewand birgt.
Aber Schorndorf ist gut protestantisch, und da kam gleich die Stimmung auf: „Jetzt hat das Chefbuch uns auch eine Muttergottes vor die Stadtkirche gestellt.“
Da war ich genötigt, eine Erklärung dazu zu machen. Ich habe dann dieses Wort in Erz gegossen und hinter die Statue gestellt: „Meine Seele ist ruhig und still geworden bei dir, o Gott, wie ein Kind bei seiner Mutter.“
Die Sehnsucht nach innerer Ruhe und Geborgenheit
Auch der Sinn unserer Gottesdienste und Bibelstunden ist es, dass alles schweigen kann, wenn wir zu Hause versuchen, stille Zeit zu haben. Dann kann es sein, dass meine Frau sagt: „Du, rattert eigentlich noch der Kühlschrank?“ So lauschen wir auf andere Geräusche. Hat nicht gerade das Telefon geklingelt? Schau mal auf deinem Internet nach, ob etwas ist.
Meine Seele soll ruhig und still werden wie ein Kind bei seiner Mutter. Das wäre schön, wenn es immer so wäre, dass unsere Seele geborgen ist beim Herrn, wie ein kleines Kind bei seiner Mutter.
Aber es ist gut, dass die Bibel so nüchtern ist. In Psalm 42 wird uns von einer anderen Normalsituation des Gottesfürchtigen berichtet. Ich möchte Sie bitten, Psalm 42 aufzuschlagen. Dieser Psalm stammt nicht von David, sondern von der Chorgruppe der Söhne Korach, die ihn dem Volk Israel geschenkt haben.
„Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele zu Gott; meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott.“ Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? Das ist eine ganz große Sehnsucht.
Warum? In Vers 4 heißt es: „Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist denn nun dein Gott?“ Daran will ich denken und mein Herz ausschütten bei mir selbst, wie ich als Herzog in großer Schar mit ihnen wallen zum Haus Gottes, mit frohen Locken und Danken in der Schar derer, die da feiern.
Es kann auch eine Anfechtung sein, wenn wir daran denken. Mensch, das war etwas bei unseren Gemeindetagen im Neckarstadion in Stuttgart: 50 Menschen, und Gerhard Schnitter hat uns das Lied geschenkt. Aber der Herr ist immer noch größer. Wenn „Wogen der Angst“ kommen, ist der Herr noch größer.
Haben wir den Mund zu voll genommen?
Zweifel und Anfechtung im Glaubensleben
Wenn sie in der Not stecken, dann kommt diese Frage auch dem Beter. Ich denke daran, wie herrlich die Gottesdienste waren. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat, der dir alle deine Sünde vergibt und alle deine Gebrechen heilt.“ Haben wir das zu schnell gesagt? Heilt er denn bei mir wirklich alle Gebrechen?
Es ist eine Anfechtung für die Gläubigen, wenn sich ein Bibelwort gegen den eigenen Glauben zu wenden scheint und zur Anfechtung wird. Stimmt denn das, was Gott sagt? So ist es dem Beter aus der Grube Korach ergangen. Ich denke daran bei mir selbst, nicht nur an die Feinde, die sagen: „Wo ist denn dein Gott?“ Wenn mir die Erinnerung kommt, wie schön es war, als ich geborgen war im Haus Gottes – war das bloß eine Illusion, eine Selbsttäuschung?
Vers 6: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“
Es gibt nicht nur das, was der Apostel Paulus über das Gewissen sagt, dass sich darin Gedanken finden, die anklagen und entschuldigen. „Mensch, da hast du etwas Böses angestellt.“ Dann kommen die Entschuldigungen: „So schlimm war es auch nicht, es gibt Schlimmeres, und die anderen hätten es nicht so krumm nehmen müssen.“ Im Gewissen sind die Gedanken, die anklagen, aber auch in unserer Seele ist der göttliche Trost da – die Erinnerung an sein Wort, auf das wir uns verlassen können.
Genauso steigt der Zweifel aus unserer Seele auf. „Harre auf Gott“, kommt die Stimme in der Seele. „Ich werde ihm doch noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“ Gleich der nächste Vers: „Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich aus dem Land am Jordan und Hermon, vom Berg Misa.“
„Deine Fluten rauschen daher, eine Tiefe ruft die andere.“ Aber nicht erquickend, sondern: „All deine Fluten gehen über mich, es ersäuft mich, ich kriege keine Luft mehr.“
Und jetzt kommt dieser eine Satz, von dem selbst fromme Ausleger versuchen, ihn wie ein Puzzlestück an eine andere Stelle zu schieben, weil sie sagen: „Der passt gar nicht hinein.“
Ein Wort der Gewissheit: „Am Tag sendet der Herr seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zum Gott meines Lebens.“
Die Spannung zwischen Zweifel und Vertrauen
Es gibt fromme Ausleger, die meinen, der Text müsse so verstanden werden: Am Tag bitte ich den Herrn, sende doch deine Güte. Und in der Nacht bete ich: Lass mich nicht im Stich.
Doch man sieht hier, dass selbst Menschen, die mit Gott leben, zerrissen sind zwischen Gewissheit und Zweifel. Ich habe das bereits erwähnt, am Beispiel von James Graf von Moltke. In seinen Briefen aus Tegel, Monate vor seiner Hinrichtung, zeigt sich das deutlich: An einem Tag hat er die Gewissheit, dass er in Gott geborgen ist. Wenn es zum Sterben kommt, wird Gott ihn halten, und er hat keine Furcht. Am nächsten Tag schreibt er jedoch an seine Frau: Versuche es doch noch einmal bei Feldmarschall Keitel, ob ich nicht doch noch einmal freikommen kann.
Das ist das normale Christenleben. Es bedeutet nicht, dass wir immer gleich gestimmt sind. Manche Lieder drücken das so aus: „Ich bete zu dir, ich preise dich, oh Gott, deine Majestät.“ Doch das Leben wirft uns zurück, weil wir mitten in dieser Welt leben. Dort gibt es Menschen, die sagen: „Wo ist denn dein Gott? Ihr bildet euch doch was ein.“
In allen Religionen gibt es Menschen, die sich etwas von Gott einbilden, aber wir müssen mit unserem Leben selbst fertig werden. Wir leben in einer Welt, in der uns das immer wieder bestätigt wird: Religiosität ist gut, fromme Stimmung tut der Seele gut, aber Gott gibt es doch nicht. Es gibt die Naturwissenschaft, die exakten Naturwissenschaften, und davon sind wir überzeugt. Wir sind doch nicht dumm, wir überhören das nicht.
Am Tag sendet der Herr seine Güte, und ich nehme es nicht wahr. Thürstheken hat gebetet: „Lass deine Allgegenwart mich wie die Luft erfüllen.“ Unsere ganze Welt ist doch erfüllt von der heiligen Gegenwart Gottes. Wenn Jesus sagt: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“, dann ist er dicht bei uns. Oft merken wir es gar nicht.
Deshalb will ich nachher besonders diesen einen Vers auslegen: „Am Tag sendet der Herr seine Güte, in der Nacht singe ich ihm.“ Ich sage zu Gott, meinem Fels: „Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?“ Es ist wie Mord in meinen Gebeinen. So wie wir sagen: „Ich bin bis auf die Knochen krank“, nicht nur äußerlich, sondern ganz tief innen, so fühlt es sich an wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: „Wo ist nun dein Gott?“
„Was betrübst du dich, meine Seele? Sei so unruhig in mir, harre auf Gott! Denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe ist und mein Gott.“ (Psalm 42,5-11)
Die Erfahrung der betrübten Seele im Gebet
Eine betrübte Seele wird uns bereits im ersten Buch Samuel erzählt, wie die Mutter Hanna in der Stiftshütte. Sie war eine betrübte Frau, die ihr Herz vor Gott ausschüttete. Nicht einmal Eli, der Hohepriester, verstand sie. Er dachte sogar, sie sei betrunken, weil sie so still vor Gott betete.
Hanna sagte daher zu Eli, dem Hohenpriester, dass sie die betrübte Frau sei. Sogar ihr Mann verstand sie nicht und meinte: „Ist nicht meine Liebe besser als zehn Söhne?“ Da wurde Hanna bewusst, dass ihr Mann sie nicht verstand. Sie dachte: „Ich möchte doch nicht einfach nur ein Kind haben, sondern in diesem Volk Gottes, in dem im Heiligtum ein Durcheinander herrscht, möchte ich gern einen von Gott Beauftragten zur Welt bringen.“ Das war ihre Betrübnis. Sie hatte eine Art Antenne dafür, dass das Volk Gottes wieder einen Gottgesegneten braucht – eine betrübte Frau.
Jesus hat einen Betrübten im Tempel geschildert. Während der Pharisäer betete: „Lieber Gott, lobe den Herrn, wie du mein Leben gesegnet hast, dass du mich bewahrt hast vor allen Torheiten, dass du mir Geld anvertraut hast, damit ich Opfer geben kann. Es ist wunderbar, lieber Gott, es ist herrlich mit dir“, war ein anderer da – ein Zöllner, ein Ganove. Er war jemand, der andere übers Ohr gehauen hatte, um sein eigenes Heil und Glück zu machen, so wie heute Drogendealer.
Dieser Zöllner konnte nur noch stammeln: „Herr, sei mir Sünder gnädig.“ Er war betrübt. Jesus sagte, dass dieser, der so betete, gerechtfertigt nach Hause ging. Für ihn hat Gott etwas übrig – für die betrübten Leute, die oft nur noch den Satz hervorbringen können: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“
Die Not der Glaubenden – und ich denke, wir alle wollen dazugehören – ist oft, dass die großen Kernworte des Glaubens für uns selbst zur Anfechtung werden. Vers 10: „Ich sage zu Gott, meinem Fels“ – das heißt nicht einfach „In der Bibel steht doch: Du bist ein Fels, Du bist doch mein Fels.“ In Vers 9 steht vorher: „Du, Gott meines Lebens, du hast dich doch um mich angenommen.“
Psalm 43 gehört eigentlich auch dazu, denn am Schluss dieses Psalms ist wieder der Kehrvers: „Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken.“ Psalm 43, Vers 2: „Du, Gott meiner Stärke.“ Vers 4: „Der Gott, der meine Freude und Wonne ist.“ Diese Worte wurden auf der Harfe gespielt – große Worte des Glaubens.
Stimmt das denn? Wo bist du denn, Gott? Denn man hört täglich die Frage: „Wo ist denn dein Gott?“
Zweifel in der heutigen Zeit und die Sehnsucht nach Bestätigung
In der neuesten Ausgabe von Ideas Spektrum ist meiner Meinung nach unnötigerweise ein Interview mit dem Gottesleugner Tillmann Moser abgedruckt. Der Chefarzt von Hohe Mark führte ein Gespräch mit diesem Tillmann Moser. Wenn man das liest, wirkt Moser auf unseren Intellekt sehr überzeugend.
Der Zweifel ist ansteckend und schmeichelt unserem Verstand. Wir wollen doch nicht dumm dastehen. Hat er nicht eigentlich recht? Wo ist denn dein Gott? Wir hätten es doch so gerne, dass wir es erleben – so wie es unsere Tochter erlebt hat. Sie ist pädagogische Leiterin in diesem Jonashaus in Berlin, einem Haus für Straßenkinder. Dort versucht sie, den Kindern auch vom christlichen Glauben etwas beizubringen.
Da ist offenbar eines dieser türkischen Mädchen, das sich lange aufgehalten hat. Es stand in der Kälte, als meine Tochter um halb elf Uhr heimfuhr. In ihrer Wohnung saß sie an der Omnibusstation. Der Bus kam schon längst nicht mehr. Da sagte meine Tochter zu dem türkischen Mädchen: „Ach, das ist wunderbar, dass du kommst. Dein Gott hat dich zu mir geschickt.“
So hätten wir es gerne: dass wir von den Menschen bestätigt werden, dass andere sagen, ihr habt einen herrlichen Gott, der hilft sogar mir. Aber vielmehr sehen wir den Zweifel. Wir hätten es so gerne gehabt beim frühen Sterben meines Vaters. Als meine Mutter über den verstorbenen Mann gebetet hat, nahm die Oberärztin sie in den Arm und sagte: „Was seid ihr reich!“
So hätten wir es gerne, dass andere sagen: „Mensch, euer Glaube ist doch etwas Tolles.“ Aber wir sind umgeben vom Zweifel: Wo ist denn euer Gott? Das hat auch den Psalmbeter angefochten. Und jetzt kommt eine ganz große Sehnsucht: Ich würde gerne Gott sehen.
Gestern Abend hat uns Andreas Schäfer auf die neue Biografie über Bonhoeffer hingewiesen. Bonhoeffer hat einmal, als er Konfirmandenunterricht im Wedding gab – in einer ganz schwierigen Situation –, gesagt: „Wir gehen kaputt an der Unsichtbarkeit Gottes.“ Er wollte den Konfirmanden Gott zeigen, musste aber immer nur darüber reden.
Und diese Sehnsucht, die – wann werde ich endlich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? – ist die große Sehnsucht der Frommen. Psalm 17,15 sagt: „Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit, ich will satt werden, wenn ich erwache an deinem Bild. Da bist du, Gott, mein Gott, mein Fels!“
Wir haben ja gestern Abend gesungen: Wir haben einen Fels, nicht wahr? In der ersten Freude des Glaubens kommt ja auch Vers 10 vor: „Ich sage zu Gott, meinem Felsen.“ Man kann da sagen: Gott ist mein Fels, auf den ich mein Leben bauen kann.
Die Kraft des Glaubens und die Bedeutung des Wortes Gottes
In Reutlingen lebte als städtischer Musikdirektor Gottlob Lachenmann. Er hat unheimlich viele Polkas und Marschmusiken komponiert – so richtig Csingterasabumbum. Später ist er zur evangelischen Gemeinschaft zum Glauben gekommen und hat von da an eintausendvierzehn geistliche Lieder gedichtet und komponiert. Manchmal ist die Melodie auch ein bisschen im Viervierteltakt gehalten. Eines dieser Lieder, eines der ersten, war „Wir haben einen Felsen“. Es hat einen Viervierteltakt, da merkt man noch etwas vom Musikdirektor, aber sonst ist es ganz gebrochen mit seiner Vergangenheit.
Diese Strophe von Gottlob Lachenmann hat Hedwig von Redern so fasziniert, dass sie anstelle der Strophen zwei bis fünf von Lachenmann selbst zwei bis fünf Strophen komponiert hat. Was wir heute singen, ist also Hedwig von Redern außer Strophe eins.
Freude des Glaubens: „Wir haben einen Felsen, der unbeweglich steht, wir haben eine Wahrheit, die niemals untergeht.“
Aber dann kommt der Augenblick, an dem ich das auch wirklich sehen möchte, dass dieser Gott, von dem ich bekenne, dass er Fels ist, kein Phantom ist. Der erste Johannesbrief sagt: „Wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Nicht nur, weil wir jetzt in der letzten Woche des Kirchenjahres sind, der Ewigkeitswoche, singen wir: „Wir warten dein, o Gottessohn, und lieben dein Erscheinen.“ Du bist uns zwar im Geiste nah, doch du sollst sichtbar kommen! Darauf gehen wir zu.
Ja, und bis dahin, wenn wir im Glauben angefochten sind – was ist dann? Vers 9 sagt: „Am Tag sendet der Herr seine Güte.“ Das ist ein technisches Bild, das wir heute begreifen: Er ist auf Sendung. Die Frage ist, ob wir es mitbekommen.
Unsere Nachbarn im Haus haben ganz begeistert immer erzählt, noch bevor es ERF-Fernsehen gab, was für hilfreiche Sendungen dort kommen. Wir haben gesagt, wir kriegen es in unserem Apparat nicht rein. Da haben sie gesagt: „Das ist doch schon längst auf unserer Gemeinschaftsantenne. Sie müssen es bloß einstöpseln, dann kriegen Sie es auch mit.“ Sie waren schon längst einem wunderbaren, tröstlichen Programm auf Sendung. Haben Sie es nicht mitbekommen? Er sendet sein Wort.
Wir würden gerne Gott sehen – das kommt, das kommt. Aber jetzt ist die große Zuteilung in unsere Anfechtungen hinein das Wort. Im Psalm 130 ist es ähnlich: „Harre des Herrn, ich harre des Herrn, meine Seele harrt, und ich hoffe auf sein Wort!“
Gehen Sie bitte in jede Bibelstunde hinein, in jede Ihrer stillen Zeiten, in jeden Gottesdienst mit der Bitte: Herr, gib mir ein Wort! Ich brauche nicht mehr alle drei Teile des Herrn Pfarrers zusammenzukriegen, sondern gib mir das Wort, das du für mich bestimmt hast. Und wenn es bloß eine Zeile aus einem Lied ist.
Der Herr sendet sein Wort. Der Apostel Paulus sagt in Römer 10: Das Wort ist dir nahe. Du brauchst keine okkulten Praktiken, du musst nicht die Unterwelt hinuntersteigen, du brauchst keine Erkenntnis der höheren Welten. Das Wort ist dir nahe.
Und jetzt möchte ich Sie auf die Spur setzen, wie eigentlich das ganze Johannesevangelium durchzogen ist, um uns hinzuweisen, wie herrlich es ist, dass der Herr Jesus uns das Wort gegeben hat. Vater, Johannes 17: „Ich habe euch dein Wort gegeben, das du mir anvertraut hast. Dein Wort ist die Wahrheit. Wenn ihr mein Wort halten werdet, wird euch der Vater lieben, und ich werde euch lieben, und wir werden Wohnung bei euch machen.“
Wir sind im Augenblick in der Gefahr, dass wir auch so die Bibelstunde heute Abend ein bisschen als Referat sehen, wo wir sehen, was ganz interessant ist. Nein, Herr, ich hange auf dein Wort! Unter all den vielen Worten: Gib mir, teil mir dein Wort zu!
Gott ist am Senden, nach Psalm 43, Vers 3: „Sende dein Licht und deine Wahrheit!“
Die Bedeutung der Wahrheit und die Stimme Jesu
In der Leidensgeschichte, wie der Evangelist Johannes sie uns schildert, gibt es eine besonders packende Szene. Pontius Pilatus, der faire römische Landpfleger, versucht Jesus gegen den Hass seiner Zeitgenossen zu verteidigen. Er sagt: "Bist du denn gar kein König?" Jesus antwortet: "Doch, ich bin König, aber mein Reich ist nicht von dieser Welt. Sonst würden meine Freunde für mich kämpfen." Pilatus entgegnet: "So bist du dennoch ein König." Jesus erklärt: "Ja, ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, um zu heilen, zu trösten und die Wahrheit zu bezeugen. Ich teile euch das Wesentliche von Gott mit."
Pilatus fragt: "Was ist Wahrheit?" Das Entscheidende, was Jesus in die Welt gebracht hat, ist die Wahrheit. Deshalb hat man sich die Mühe gemacht, die Worte Jesu in den Evangelien von Matthäus bis Johannes 21 aufzuschreiben. Seitdem weiß man, welchen Reichtum diese Worte besitzen – viel wichtiger als die Geschichten selbst sind die Worte des Herrn Jesus.
Oft sind es nur kurze Aufforderungen wie: "Komm her!", "Folge mir nach!", "Bring ihn zu mir!" Man merkt die königliche Autorität Jesu. Er kann in unsere Anfechtungen hinein sagen: "Ich bin bei dir alle Tage." Und auch: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." Diese Worte sendet Jesus an uns. Er ist auf Sendung: "Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie. Sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben." Doch das Wichtigste ist, dass sie seine Stimme hören.
Es gibt viele Ablenkungen, die es erschweren, die Stimme Gottes zu vernehmen. Der Psalmist sagt: "Am Tag sendet der Herr seine Güte." Hoffentlich nehme ich das wahr. Früher dachte ich, im Ruhestand könnte ich ausschlafen bis neun Uhr morgens. Doch mit dem Alter wacht man schon um halb sechs auf. Dann höre ich, wie der Zeitungsausträger kommt. Wir haben eine blinde Zeitungsausträgerin, die von einem Hund geführt wird. Ich höre das Tapsen des Hundes und bin sofort hellwach.
Ich freue mich, wenn um halb sieben die Müllmänner kommen und endlich unsere Tonne leeren, in die die Nachbarn alles falsch hineingeworfen haben. Endlich ist der Müll weg. Ganz anders war es in den Wochen im Krankenhaus. Dort hat der Nachtpfleger um fünf Uhr morgens noch mit mir gebetet. Danach hatte ich drei Stunden Zeit, bis der Chefarzt kam. Diese Zeit nutzte ich, um Kassetten mit Predigten zu hören, meine Bibel zu lesen und meine Gebete zu schreiben.
Ich bat: "Deiner Güte Morgentau, fall auf unser mattes Gewissen." Und der Herr konnte auch mit mir im Ernst reden. Jesus nimmt die Sünder an. Viel Zurechtweisung habe ich durch Predigten von Wilhelm Busch erfahren. Herrlich war die Chorale, die vom Hymnus-Chor gesungen wurde. Da hat der Herr mit mir gesprochen. Es gab keine Ablenkung. Ich dachte nicht daran, dass die Zeitung schon da war und ich sie schnell holen könnte, um zu sehen, wie der VfB wieder einmal verloren hat. Nein, alles war okay. Ich hörte zu.
Bis dahin der schöne Vers von Hillers: "So wird mein Tod mir nie zu früh noch unversehens kommen. Ich spreche stets: Herr, ich bin hier, hast du mich angenommen? So nehme ich ewig zu dir ein. Dies soll mein letztes Seufzen sein: Nehme ich zu dir, Herr Jesus." Plötzlich war alle Störung weg. Was für gesegnete Wochen das waren! Diese Zeit möchte ich nicht mehr missen.
Die Herausforderung der Ablenkung und die Kraft des Gebets
Aber jetzt leben wir in einer Welt, in der wir Zweifel hören und Anfechtungen erleben. Vieles will uns so wichtig erscheinen, dass es uns gleichgültig gegenüber Gottes Wort macht. Es gibt viele innere Stimmen, die uns ablenken: „Oh, was müsste ich noch einkaufen?“, „Ich wollte doch in die Apotheke“, „Man sollte ganz dringend meine Winterreifen aufziehen“, „Da muss ein Termin…“ All das kann zudecken – und nicht nur das.
Es gibt auch kritisierende Feinde, die fragen: „Wo ist denn dein Gott?“ Gott ist auf Sendung, er sendet und will uns etwas zusprechen. Doch oft sind wir so gepflastert, so betoniert, dass sein Wort gar nicht in uns hineingeht. Es beginnt schon mit der Losung aus dem Losungsbüchlein, die wir uns merken wollen. Doch schon zehn Minuten später wissen wir oft nicht mehr, welches Wort uns wichtig sein sollte.
Was kann man dagegen tun? Der Beter der Korachsöhne sagte: „Ich lechze nach der Sichtbarkeit Gottes.“ In diesem Vers 9 ist ein Geheimnis verborgen: „Ich bete zu dem Gott meines Lebens.“ In Württemberg hatten wir einen großen geistlichen Vater, der uns bis heute geprägt hat in unserer württembergischen Christenheit. Er hatte viele große theologische Gedanken und hat zwei große Lieder gedichtet.
Das erste Lied beginnt mit den Worten: „Gott lebt! Sein Name gibt Leben und Stärke, er heißt der seinige Sonne und Schild.“ Sobald ich, so oft ich seinen Regen wahrnehme, spüre ich mich innig mit Kräften erfüllt. „Sein bin ich ganz eigen, das muss ich wohl zeigen, das soll unser Gebet bestimmen.“ Lieber Gott, das muss ich zeigen: Du bist mein Fels. Jetzt möchte ich es auch sehen – nicht dich persönlich, das kommt noch – aber jetzt: „Gib mir dein Wort, lass es knallen jetzt mal bei mir!“
Das andere Lied, das Bengel gedichtet hat, gehört als Erklärung dazu: „Du Wort des Vaters, rede du und stille meine Sinnen.“ Ich habe dieses Lied gar nicht besonders beachtet, bis mein erster Chef, der Dekan von Ulm, sagte: Ein neu zum Glauben gekommener Theologe meinte, das größte Lied im Gesangbuch sei nicht „Jesus Christus herrschet als König“ oder „Lobe den Herrn“, sondern „Du Wort des Vaters, rede du und stille meine Sinnen.“
Das Lied fährt fort: „Sag an, ich höre willig zu. Ja, lehre frei von innen, so schweigt Vernunft mit ihrem Tand, und du bekommst die Oberhand nach deinem Recht und Willen. Dir räume ich all mein Inneres ein, das wollest du ja, du allein, mit deinem Geist erfüllen.“ Und es heißt weiter: „Vollführe deine Wunderschlacht in mir durch deines Geistes Macht.“ Das ist ein Kampf!
„Mach alles in mir still, ich bete zum Gott meines Herzens.“ Otto Riedmüller hat im Grunde dasselbe aufgenommen: „Sei still zu Gott.“ Wir waren gestern auch ganz nah dran: „Herr, mach mich still und rede du.“ Bei dem Lied „Nun gib uns Pilgern aus der Quelle“ dürfen wir beten: „Mach mich still und rede du.“
Ich habe schon als junger Gemeindepfarrer in Ulm erlebt, dass unsere liebe Frau Emperle gesagt hat: „Herr Chefbuch, sagen Sie endlich unserem Organisten, wir hatten in Ulm herrliche Augen, er soll am Anfang vom Gottesdienst leiser spielen, man kann sich so schlecht unterhalten.“ Schon in unserer Kirche ist das Präludium, wenn unser lieber Bruder am Klavier sitzt, eine Hilfe zur Einstimmung, zum Ruhigwerden. „Mach mich still und rede du!“
Und des Nachts singe ich ihm. Aber jetzt wissen wir, wer das ernst genommen hat: Paulus und Silas im Gefängnis in Philippi. Eingesperrt, erniedrigt, entehrt, ausgepeitscht, in das innerste Gefängnis in den Stock eingepresst. Wenn das Blut nicht mehr pulsiert, die Schmerzen groß sind – und die Gefangenen hörten sie singen.
Ich kann Ihnen nur das weitergeben: Wenn wir den richtigen Sender an unserem Radiogerät finden wollen, müssen wir an der Skala drehen, bis wir ihn haben. Die Einstimmung darauf, still zu werden und Gottes Wort zu hören, ist unser Singen.
Uns haben sie ja die schönsten und herrlichsten Choräle weggenommen – eine neue Gesangbuchreform nach der anderen. Und jetzt kommt eine junge Generation, die von all dem, was der Christenheit durch fünf Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, wichtig war, sagt: „Das ist von gestern, jetzt machen wir etwas ganz Neues.“ Uns ist das oft so vordergründig, gut gemeint, argut gemeint.
Wir wollen wieder anfangen zu singen. Ich habe begonnen, Choräle auswendig zu lernen, auch wenn es mühsam ist im Alter, damit wieder etwas zum Schwingen kommt. Meine Frau und ich haben beide brüchige Stimmen, aber wir singen morgens zur Andacht immer wieder eines der vergessenen Lieder, die nicht mehr oft gesungen werden. Wir nehmen das Gesangbuch von 1952 und merken, dass dann oft eine Zeile den ganzen Tag mit uns geht, nachschwingt, dass unser Herz am Senden ist und uns das einprägt.
Ich habe es bei unserer Mutter erlebt. Mein Vater hatte eine öffentliche Verantwortung im Ministerium, war Politiker. Er konnte oft sagen: „Habt ihr nicht für mich gebetet gegen die Dämonen, die in unserer Welt da sind?“ Meine Mutter hat oft neben dem Bügeln hergesagt: „Ich trage meine sechs Kinder im Gebet vor Gott.“ Aber wenn sie ganz unter der Last von Sorgen um die Gemeinde, in der wir leben durften, und um unsere ganze Kirche war, wenn sie nicht mehr konnte, dann hat sie oft das Lied gesungen:
„Schwing dich auf zu deinem Gott, du betrübte Seele!
Warum liegst du Gott zum Spott in der Schwermutshöhle?
Merkst du nicht des Feindes List?
Er will durch sein Kämpfen deinen Trost, den Jesus Christus dir erworben, dämpfen.
Auf, ermanne dich und sprich:
Flieh, du alte Schlange, was erneust du deinen Stich?
Machst mir Angst und Bange, ist dir doch der Kopf zu.“
Kommen Sie wieder hinein in diesen Schatz der Choräle von Tersteegen, Paul Gerhard, und lassen Sie das zu. Gott braucht keinen Appetizer vor sich. Die Baalspriester haben sich geritzt und gerufen: „Baal, er höre uns!“ Gott ist auf Sendung, aber wir sind oft blockiert.
Uns beten und singen kann helfen, eingestimmt zu werden – nicht Gott zu sehen. Christa von Fiban hat auch gesagt: „Ich hatte Durst nach Gott, aber sein Wort zu bekommen.“
Die Bedeutung des Wortes Gottes für die Seele
Jetzt noch ein letztes Mal eine Entschuldigung, aber das Wort Gottes ist so reich.
Der Herr Jesus hat diesen Psalm 42 mit der Eingangsbitte aufgenommen: Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Antlitz schaue? Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele Gott zu dir; meine Seele dürstet nach Gott.
Jesus hat es in der Bergpredigt aufgenommen: Selig sind, die hungert und dürstet nach Gott. Die Pharisäer und Schriftgelehrten haben nach Gott gedürstet. Aber Jesus hat uns das wichtig gemacht: Nach der Gerechtigkeit. Kann ich denn, wenn ich Gott begegne, dem heiligen Gott bestehen? Oder müsste ich nicht wie der zum Propheten bestimmte Jesaja sagen: Wemir ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen. Wie kann ich Gott begegnen?
Deshalb hat Jesus das Lechzen, das Dürsten, aufgenommen: Ihr dürft danach dürsten, dass Gott euch überkleidet mit der Gerechtigkeit, die er schenken kann. Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit. Bleibt am Dürsten, nein, diese sollen satt werden!
Was ist das, wenn wir jetzt immer wieder auch in Adventsliedern singen: Ich bin rein um deinet Willen. Mir Armen und Elenden hast du die reichste Gabe bereitet, deiner Gerechtigkeit. Sie dürfen auch im Gebet lechzen, damit ihnen das wichtig wird.
Über dem vielen, was wir im Leben schuldig bleiben, über dem vielen, was eigentlich Gott traurig machen würde – aber er ist doch nicht da und sagt: Mein Lieber, ich will mal aufrechnen –, sondern brauchst du nicht meine Gerechtigkeit.
Die Offenbarung heißt, das weiße Kleid, das die Vollendeten bekommen, ist die Gerechtigkeit der Heiligen, überkleidet.
Andreas Schäfer zieht auch keinen Talar an, und wir in Korntal haben auch keinen Talar. Wir gehen als Normalmenschen unter die Geschwister. Aber manchmal ist es auch gut, wenn man einen Talar hat, dann sieht man nicht mehr drunter, ob die Krawatte zwei Flecken hat. Wenn die Frau sagt: So kannst du nicht unter die Leute, der Talar geht drüber.
Und so wird einmal die Gerechtigkeit Gottes über alle Flecken unseres Lebens überkleidet werden. Ja, danach möchte ich verlangen, danach lechzen, danach hungern. Und das wird einmal etwas werden, wenn wir den König sehen werden in seiner Schönheit, unseren Gott sehen werden, sein Angesicht schauen.
Herr Jesus, wir danken dir, dass du so viel für uns umgetriebene Leute bereit hast, die wir oft beinahe am eigenen Zweifel ersticken, ersticken an dem vielen, was auf uns einstürmt. Je älter wir werden, ist unser Leben gefüllt mit Sorgen und mit Zurückblicken, mit dem, was wir tun sollten, und mit unserer Ohnmacht. Und zwar uns verlangend, dein Wort zu vernehmen.
Gib uns einen Hunger, zu hören: Ich bin rein um deinet Willen. Amen.
