Einführung in das Leben einer besonderen Frau
Heute Abend möchte ich Sie ein wenig entführen und wir werden uns einiges aus dem Leben von Maria Fjöderowna ansehen. Sie starb 1828 und war Zarin aller Russen. Ursprünglich war sie jedoch eine württembergische Prinzessin.
Ich möchte nicht einfach über eine adlige Dame erzählen, sondern darüber, wie Gott eine Frau als ein ganz besonderes Werkzeug in Russland gebraucht hat. Maria Fjöderowna war in vielen Bereichen aktiv: in der Diakonie, der Sozialarbeit und vor allem in der Bibelverbreitung. Das war in Russland etwas ganz Ungewöhnliches. Ihre Arbeit führte zur ersten großen Erweckung um das Jahr 1825, also drei Jahre vor ihrem Tod.
Ich habe hier einige Fotokopien aufgehängt und ausgelegt. Hier sehen wir ein Bild von dem Seelsorger der Sophie Dorothee, so hieß sie ursprünglich: Herzogin Sophie Dorothee von Württemberg. Ihr Seelsorger war der Zürcher Pfarrer Lafater, von dem wir noch einiges hören werden.
Es gibt solche Segenströme, bei denen Gott Menschen gebraucht und Erweckungen schafft. Bei Maria Fjöderowna kam es zu einem echten Glauben an Jesus. In schweren Zeiten wurde ihr der Heiland Jesus besonders wichtig. Sie ließ vom Hofbildhauer Dannecker in Stuttgart, der für seine herrliche Schillerbüste bekannt ist, eine Statue fertigen. Diese steht in Zarskoje Selo, dem Schloss, das heute Puschkin heißt. Die Statue zeigt, wie Jesus durch den Vater führt. Das war ihr in einer sehr schweren Lebensphase wichtig: dass der Heiland trotz großer Schuld zum Vater führt.
Hier sehen wir noch einmal ein Bild der jungen, begabten Herzogin Sophie Dorothee von Württemberg. Außerdem habe ich noch einige weitere Bilder ausgelegt, auf die wir heute Abend noch eingehen werden.
Gott hat sie als Werkzeug benutzt. Oft sprechen wir viel über Männer, die Gott als Zeugen gebraucht hat. Es gibt vier Bände „Württembergische Väter“. Aber diese Männer wären nicht das gewesen, was sie waren, wenn sie nicht Mütter und Frauen gehabt hätten, die für sie gebetet und sie geleitet haben. Deshalb ist es mir immer wichtig, dass wir auch von den Zeuginnen unseres Gottes sprechen.
Was man am Heiland Jesus Christus haben kann – so hätte ich auch heute Abend meinen kleinen Bericht überschreiben können. Und wie Jesus mit großer, unvorstellbar großer Schuld fertig wird, die oft im Alter aufbricht, wenn man sich bewusst wird, was alles auch falsch gelaufen ist.
Wir wollen uns als Seniorenfreizeit auch dem stellen, dass Gott noch an uns arbeitet und einen neuen Schub in unser Leben hineingibt. Auch das können wir bei Sophie Dorothee lernen.
Russland als fremdes Land und historische Hintergründe
Aber zuerst muss ich Sie entführen in das fremde Russland. Ihnen ist eigentlich bewusst geworden, wie fremd uns Russland ist. Wo der Po ist, das wissen wir, aber wo der Ob fließt – irgendwo in Russland, Jenissei – ja, da müssen wir mal nachdenken.
Wir können sagen, wo Lissabon und Barcelona liegen, wenn uns jemand eine Europakarte gibt. Aber wo Alma Ata und Omsk sind, da müssen wir lange suchen. Russland ist uns fremder, als es uns oft bewusst ist.
Seit Otto dem Großen, etwa um 1200, war die europäische Politik nach Süden gerichtet, auf Italien. Russland wurde ausgeblendet. Man hatte Angst, denn der Mongolensturm um 1200 war von Osten gekommen. 1241 fand die furchtbare Schlacht bei Lignitz statt, als deutsche Ritterheere von den Mongolen niedergemäht wurden.
Diese Angst war bis zum Zweiten Weltkrieg präsent: Die Kosaken kommen! Man sah sie ähnlich wie die Mongolen – als asiatische Horden, die Gefahr brachten. Und ein klein wenig – oder besser gesagt: viel zu wenig – müssen unsere lieben Geschwister aus Russland büßen, die stellvertretend für uns so viel erleiden mussten, weil sie deutschstämmig waren. Bei uns sagt man oft: Das sind Russen, und sieht sie nicht als Volksgenossen an, obwohl sie deutschstämmig sind.
Alles Russische war und ist uns fremd – durch Wirtschaftsbeziehungen, durch Besuche, durch Forschungsreisen. Alexander von Humboldt war sogar in Lateinamerika bekannt, aber von Russland wusste man nur die Schlacht bei Beresina, wo die glorreiche napoleonische Armee unterging und nur noch ein Zwanzigstel schwer versehrt zurückkam.
Ähnlich war es mit den Kriegsgefangenen nach dem Zweiten Weltkrieg – die Angst vor dem Osten war groß. Wir sagen heute noch manchmal: Thüringen und Sachsen sind der Osten, die Slowakei ist Osteuropa, Polen ist Mitteleuropa. Wir haben gar keine Vorstellung davon, dass Europa bis zum Ural reicht.
Ich wollte, dass wir sagen: Russland ist uns fremd. Uns sind die russischen Schriftsteller lange Zeit fremd geblieben, aber auch das ganze russische Wesen ist uns fremdgeblieben. Diese Mutterbeziehung zur eigenen Mutter, zu Mütterchen Erde und zu Mütterchen Wolga ist eine elementare Beziehung. Für keinen Schwaben ist der Neger so eine Muttergestalt, gell? Und für Badener ist nicht unbedingt der Rhein so wichtig wie für den Russen die Wolga – unsere Wolga.
Also ein fremdes Land. Und nicht ohne Grund hat Peter der Große den Anschluss seines großen Reiches an den Westen gesucht. Er wollte Russland für Westeuropa öffnen. Er war ja als Schiffszimmermann in Holland in die Lehre gegangen, nach England, Frankreich und Deutschland, und wollte sein zurückgebliebenes Reich an die Entwicklung Europas anschließen.
Deutsche Einflüsse und die Zarenfamilie
Er war der Erste, der Siedler, vor allem aus der Pfalz, aus Baden und aus Württemberg, in sein Reich holte. Seine Nachfolgerin, Katharina die Große, setzte diese Politik noch entschiedener fort. Sie brachte Siedler aus Süddeutschland in ihr neu erworbenes Land.
Katharina die Große regierte über drei Jahrzehnte. Durch ihren Geliebten Potemkin, den Fürsten von Taurien, ließ sie das gesamte Südrussland erobern, das damals noch unter türkischer Herrschaft stand. Anschließend holte sie Siedler aus Süddeutschland ins Land. Sie versprach ihnen hundert Jahre Steuerfreiheit und dass ihre Söhne nicht zum Militär eingezogen würden. Diese Versprechen wurden nicht immer eingehalten. Doch zu jener Zeit litten die Menschen im Großherzogtum Baden und besonders in Württemberg unter einer enormen Steuerlast. Daher war die Aussicht, Land zu erwerben, guten Boden zu bewirtschaften und zu siedeln, für viele verlockend.
So sind Zehntausende den weiten Weg von Ulm in den sogenannten Ulmer Schachteln über die Donau bis nach Ismail, dem letzten Hafen, gezogen. Von dort gingen sie zu Fuß durch Bessarabien bis hinüber nach Katharinenfeld in Georgien. Unvorstellbare Strapazen nahmen sie auf sich, um Südrussland zu besiedeln.
Ich durfte einige Male Reisen machen, den Dnieper hinunter und die Wolga entlang. Dabei habe ich mir eine Karte vom Institut für Auslandsbeziehungen besorgt, auf der die alten deutschen Namen der Städte und Dörfer in Südrussland verzeichnet sind. Wir hatten auch Leute dabei, die sagten: „Ach, Oma hat immer von Katharinenfeld gesprochen“, und hier ist Franzfeld und all diese Orte, in denen deutsche Kultur und deutsche Frömmigkeit nach Russland exportiert wurden.
Ich beginne jedoch mit Peter dem Großen, der sein Reich für den Anschluss an Europa öffnen wollte. Mit dieser Bewegung kam es auch dazu, dass man für die Zaren Gemahlinnen aus deutschen Fürstenhäusern suchte.
Katharina die Große, die bis 1796 regierte, ist im großen Gang der Weltgeschichte noch gar nicht lange her. Sie hatte große Sorge, wer einmal ihr Reich, das sie so zu Ehren gebracht hatte, richtig regieren könnte. Sie ließ ihren eigenen Ehemann ermorden und regierte danach weiter als Zarin. Man weiß nicht einmal genau, ob sie aus dieser Ehe mit ihrem Ehemann einen Sohn hatte, den Paul, auf Russisch Pavel.
Paul wird oft als untersetzt und mit einem fast viereckigen Kopf dargestellt. In den Büsten, die in Museen von Petersburg zu sehen sind, erkennt man, dass er geistig nicht ganz in Ordnung war. Schwäbisch gesagt: Bei dem hat es unter der Kapp nicht ganz gestimmt.
Deshalb überlegte Katharina, wem sie ihn als Ehefrau geben könnte. Paul wollte gar nicht heiraten. Er wollte immer Friedrich den Großen imitieren. Er lief mit Dreispitz und preußischer Uniform herum und wollte Soldat spielen. Heiraten war ihm nicht wichtig, doch Katharina legte Wert darauf, dass er heiratete.
Zuerst heiratete er eine Prinzessin von Hessen. Leider starb sie sehr jung, bevor ein männlicher Nachkomme geboren wurde. Daraufhin fiel Katharinas Wahl auf die württembergische Prinzessin Sophie Dorothee.
Sophie Dorothee war schon einige Jahre zuvor im Gespräch gewesen, bevor Paul die hessische Prinzessin geheiratet hatte. Damals war sie erst zwölf Jahre alt, und Katharina meinte, sie sei entschieden zu jung. Alles andere sei möglich, aber das nicht.
Als die erste Ehefrau von Paul gestorben war, entschied Katharina: „Jawohl, das wird die ideale Frau.“ Ich lese Ihnen gerade ein paar Sätze aus einem Brief vor, den sie geschrieben hat: „Ich bin leidenschaftlich eingenommen von der bezaubernden Prinzessin. Leidenschaftlich im wahrsten Sinn des Wortes. Sie ist gerade so, wie man sich eine Zarin wünscht. Sie ist schlank wie eine Nymphe, ihre Gesichtsfarbe ist weiß mit einem leichten Rosenschimmer. Sie ist von hohem Wuchs und hat doch erfreuliche Fülle. Dann hat sie eine Leichtigkeit, aus ihrem Gesicht sprechen Milde, Herzensgüte und Aufrichtigkeit. Alle sind von ihr entzückt. Wer sie nicht liebt, ist selbst im Unrecht. Man rühmt ihre Schönheit und ihre Manieren. Sie wird gewiss Macht über das Herz ihres Gemahls haben, und sie wird von dieser Macht unstreitig Gebrauch machen.“
So ein Lob wünscht man sich auch für unsere Enkel: schön wie eine Nymphe, bezaubernd, mit guten Manieren.
Herkunft und frühe Prägung Sophie Dorothees
Ihr Vater, Friedrich Eugen, war General in russischen Diensten. Sie wurde in Stettin geboren und wuchs in Treptow an der Rega auf. Später wurde ihr Vater Friedrich Eugen Regent des kleinen württembergischen Besitztums Mömpelgard, auch Montbéliard genannt, bei Besançon.
Dort, im Schloss von Montbéliard, ist sie aufgewachsen. Bereits damals hatte der Pfarrer Laffater entscheidenden Einfluss auf sie. Der Vater war zwar ein aufgeklärter Prinz, der nicht viel vom Christentum hielt, doch die Mutter, ebenfalls Dorothee genannt, sorgte dafür, dass ihre Töchter geistlich geprägt wurden. Morgen- und Abendandachten gehörten dazu, ebenso wie die Fürsorge für die Armen.
Die Hofmarschallin schrieb: Es ist rührend, wie die jungen Prinzessinnen ihr Taschengeld sparen, um die Ärmsten der Armen in Mömpelgard zu unterstützen. Von früher Jugend an wussten sie also, dass sie für andere da sind. Deshalb hat später Katharina die Große mit Recht gesagt, ihre Herzensgüte und ihre Manieren seien vorbildlich.
Allerdings musste Maria, die später Sophie Dorothee hieß, einen hohen Preis zahlen, um Zarenfrau zu werden. Ein wenig wurde sie verkuppelt, und Friedrich der Große hatte auch seine Finger in dieser Angelegenheit. Er hatte jedoch Bedenken, ob Sophie Dorothee die richtige Frau für den Zaren sei – nicht wegen ihrer Person, sondern wegen des hochmütigen, stolzen und oft aufbrausenden Großfürsten.
Friedrich der Große befürchtete, dass dieser sich einmal schwer auf dem russischen Thron behaupten würde. Er sagte, es sei zu befürchten, dass er wie sein Vater eines Tages gewaltsam ausgeschaltet werde. Wie gesagt, der Preis für den Eintritt in diese Position war, dass die evangelisch erzogene Prinzessin orthodox werden musste. Die Religion Russlands ist die orthodoxe Religion.
Orthodoxie und persönliche Glaubensentwicklung
Von uns oft zu Unrecht geschmäht
Die orthodoxe Kirche hat mindestens vieles vom Urchristentum durch die Wirren des frühen Mittelalters und den Mongolensturm hindurch gerettet. Es ist uns gar nicht bewusst, wie viele Zehntausende von Priestern und Mönchen der stalinistisch-atheistischen Verfolgung zum Opfer gefallen sind. Wir denken immer nur an die evangelischen Märtyrer. Die orthodoxe Kirche hat ebenfalls ihre Opfer gebracht. Sie ist eine fromme Kirche.
Doch uns sind die Bilder, der Weihrauch, die orthodoxen Gottesdienste und der Singsang der Mönche fremd. Es ist eine Kirche ohne Bibel. Zwar wird bis heute in Altslawisch, das kaum jemand versteht, die Bibel immer wieder gelesen und singend vorgetragen, aber dem russischen Volk ist die Bibel eigentlich unbekannt und nicht vertraut.
Maria Fjodorowna jedoch hatte keine Sorge, orthodox zu werden. Sie wurde schon auf dem Weg nach Sankt Petersburg ein wenig im orthodoxen Glauben unterwiesen. Sie übernahm die Taufe und erhielt von da an den Namen Maria Fjodorowna. Fjodorowna bedeutet „Tochter des Friedrich“, des Fjodor. In Russland trägt man ja immer mit dem zweiten Namen sozusagen den Vaternamen mit. So hieß sie jetzt nach der Gottesmutter Maria aus der Sophie Dorothe die Maria Fjodorowna.
Trotz der Eigentümlichkeiten ihres Ehemanns Paul gab es etwas wie Eheglück. Paul baute für sich und seine Frau das Gut Pawlowsk, also das Gut des Paul, vor den Toren von Sankt Petersburg auf. Wir haben dort auch eine Postkarte mit dem wunderbaren Schloss von Pawlowsk. Sophie Dorothe machte sofort aus diesem Pawlowsk ein kleines Hohenheim.
Hohenheim ist vor den Toren von Stuttgart bekannt für Landwirtschaft, Universität, Modelleinrichtung und Schule. Dort ließ sie die ersten Leibeigenen befreien, legte Modellgüter an, gründete Schulen für die Kinder der Leibeigenen und Hospitäler. Sie entwickelte eine ungeheure diakonische Tätigkeit. Ihr Mann ließ sie gewähren, solange er mit seinen Kompanien auf dem weiten Schlosshof von Pawlowsk exerzieren konnte.
Vor allem aber brachte sie ihrem Ehemann zehn Kinder zur Welt. Der älteste war der spätere Zar Alexander Konstantin, und einer der jüngeren Kinder war der spätere Zar Nikolaus I. Es gibt ein Michaelschloss, und dieser heiratete wieder eine württembergische Herzogin. Die Großherzogin Mari von Weimar war ebenfalls eine Tochter dieser Maria Fjodorowna. Besonders hervorzuheben ist unsere württembergische hochgeschätzte Königin Katharina. Ihr Ehemann, König Wilhelm I., ließ auf dem Roten Berg bei Stuttgart ein Grabmal für sie errichten.
Ich habe auf dem Schreibtisch einige Notizen gemacht, wer die einzelnen Kinder waren. Es war ein ganz ungetrübtes Glück, obwohl Paul in seiner Sprödigkeit nebenher eine pocknarbige Geliebte hatte. Immer wieder kehrte er in die Arme seiner Maria Fjodorowna zurück, seiner Sophie Dorothee, die er auch liebte. Doch es reichte ihm nicht. Deshalb hielt er sich eine Mätresse und musste warten, warten, warten – wie der englische Thronnachfolger.
Konflikte am Hof und Erziehung der Kinder
Katharina wollte eigentlich nicht abdanken und auch nicht sterben. Über dreißig Jahre lang war sie Zarin, bis sie im Jahr 1796 verstarb.
Sie hatte jedoch den Finger am Puls der Zeit und wehrte sich gegen die zu strenge Frömmigkeit, mit der Maria Fjodorowna ihre Kinder erzog. Maria Fjodorowna hatte eine fromme baltische Baronin von Liefen zur Erziehung von Konstantin und Alexander geholt. Die große Katharina hielt das jedoch für zu eng und zu mystisch, zu bigott. Sie sagte, Alexander müsse schließlich einmal Regent werden. Paul sollte hoffentlich abdanken, denn er sei nicht zum Zaren geschaffen. Alexander dagegen müsse gefördert werden.
Obwohl sie nicht ausdrücklich sagte, dass Alexander „dressiert“ werden müsse, ging es im Grunde genau darum: Alexander sollte aufgebaut werden. So wie man heute sagt, dass der englische Thronfolger hoffentlich nicht lange regiert, aber vielleicht später jemand wie Prinz Henry an die Reihe kommt – man denkt schon an den Übernächsten. Katharina dachte daran, dass Alexander einmal der große Zar werden würde.
Sie wollte ihn nicht der frommen Baronin von Liefen überlassen, sondern holte einen liberalen, aufgeklärten Schweizer Erzieher namens Delahaye. Sie nahm Alexander und Konstantin der Mutter weg, riss sie aus Pawlowsk heraus und ließ sie zusammen mit einigen Fürstenkindern, darunter auch Fürst Galizin, in Sankt Petersburg erziehen.
Das war für Alexander schwierig. Von Geburt an war er schwerhörig, misstrauisch und wortkarg. Nun wurde er auch noch von der geliebten Mutter getrennt. Was sollte er glauben? Das, was Lehrer Delahaye sagte, der Jesus und die Bibel lächerlich machte? Oder das, was seine Mutter ihm als wichtig vermittelt hatte?
Im Schloss von Pawlowsk fanden jeden Sonntag schwäbische Gemeinschaftsstunden statt. Die Freifrau von Gemmingen, die natürlich badischer Adel war, gehörte zu den Frauen am Hof von Pawlowsk, die daran mitwirkten. Auch Baronin Schubert von Cannstadt war beteiligt. Diese Zusammenkünfte fanden vor allem mittags statt und waren hauptsächlich Frauenstunden, doch die jungen Prinzen und Großherzöge, also die Großfürsten, nahmen ebenfalls teil.
Wenn man heute noch nach Pawlowsk kommt, sieht man in den Bücherschränken Werke über ernsthaftes Christentum in Deutsch und Russisch – das große Erbauungsbuch des frühen Pietismus. Vor allem sind dort die Bände von Laffater zu finden, aber auch Werke von Oberlin, Jung-Stilling und die gesamte Erbauungsliteratur Deutschlands, die bei Maria Fjodorowna vorhanden war.
Katharina die Große sagte dazu: Das ist mir alles zu eng, so kommt man nicht durch. Man müsse auch frei sein. Sie selbst gestattete sich einen sehr großzügigen Lebensstil mit vielen Liebhabern, die sie gehabt hatte.
Unterschiede in der Frömmigkeit und moralische Vorstellungen
Es ist insgesamt interessant: Die russische Frömmigkeit kennt bis heute kaum oder gar keine Ethik und Moral. Das wird als nebensächlich betrachtet, Hauptsache, es handelt sich um Frömmigkeit.
Das unterscheidet sich stark von der Situation in Deutschland, wo bereits seit Karl dem Großen, also auch im frühen katholischen Mittelalter, Wert darauf gelegt wurde, dass sich eine Moral bildet. Die katholischen Orte legten großen Wert darauf. Schon Benedikt von Nursia formulierte das Prinzip „Beten und Arbeiten“, das umgesetzt werden muss. Bei der russischen Frömmigkeit war das so nicht der Fall.
Aus diesem Grund sorgte Maria Fiederowna dafür, dass bei ihren Söhnen ein anderer Geist Einfluss nehmen sollte. Katharina hingegen bremste diesen Einfluss ab. Für Maria Fiederowna war es sehr schwer, dass ihre geliebten ältesten Söhne ihr genommen wurden. Sie wandte sich daraufhin an ihren Seelsorger La Vater in Zürich. Er widmete ihr folgendes Lied:
„Von dir, o Vater, nimmt mein Herz
Glück, Unglück, Freuden oder Schmerz,
von dir, der nichts als lieben kann,
voll Dank und voll Erbarmen an.
Wenn niemand dich erquicken kann,
so schaue deinen Heiland an,
schütt aus dein Herz in seinen Schoß,
denn seine Macht und Güte ist groß.“
Dieser große Seelsorger wusste genau, was er der verzweifelten und verzagten Maria Fiederowna sagen musste. Ein weiterer Vers aus diesem Lied lautet:
„Ist alles dunkel um mich her,
die Seele müd und freudenleer,
bist du doch meine Zuversicht,
bist in der Nacht, oh Gott, mein Licht.“
Doch es sollte noch dunkler kommen.
Tragische Ereignisse und innere Zerrissenheit
Es war nicht nur das Problem, dass die Söhne weggenommen wurden, dass der Mann immer merkwürdiger wurde oder dass sie auf die Regentschaft warten mussten. Maria Fedorowna erkannte klar: Es ist gar nicht schlecht, wenn Katharina lebt und regiert. Denn ihr eigener Ehemann ist unfähig, das große russische Reich zu lenken. Es wäre das größte Unglück, wenn er einmal die Regentschaft übernehmen müsste.
1796 war dieser Zeitpunkt gekommen. Katharina starb, Paul wurde mit großen Ehren als Zar eingesetzt. Doch er machte sich schnell zum unbeliebtesten Mann Russlands. Er war einfach unfähig, die Fäden dieses riesigen Reichs zusammenzuhalten. Deshalb wurde Maria Fedorowna in ein Offizierskomplott gegen den Zaren eingeweiht. Eine Offizierskameradschaft sagte: Paul muss weg, wir wollen ihn entmachten, egal was passiert.
Paul spürte, dass allmählich alle gegen ihn waren. In Eile ließ er den Michaelspalast, heute auch Ingenieursschloss genannt, in Sankt Petersburg bauen. Es war eine richtige Burg in der Stadt. Dicke Mauern sorgten dafür, dass er in seinen Gemächern sicher untergebracht war. Die Türen, die zu seiner Familie führten, ließ er zumauern.
In einer Winternacht, am 18. Januar, hörten Maria Fedorowna und ihre Kinder Klirren und Lärm nebenan. Sie hörten, wie ihr Ehemann Paul um Hilfe rief: „Hilfe, helft mir doch, lasst uns auf!“ Er erstickte, er wurde erstickt, weil er sich gewehrt hatte. Eigentlich wollte man ihn nur gefangen nehmen, ins Exil führen oder sicherstellen. Doch er leistete Widerstand.
Durch die zugemauerte Tür hörte die Familie, wie ihr eigener Vater ermordet wurde. Sie wussten von den Plänen, dass er „um die Ecke gebracht“ werden sollte, aber nicht, dass er getötet werden würde.
Man kann den Zwiespalt verstehen: Was ist das Beste für das Reich? Hier ist mein Ehemann, der Vater meiner zehn Kinder. Diese Zerrissenheit ist kaum vorstellbar. Sie führt in jeder richtigen Ehe zu großen Schwierigkeiten. Auch bei unseren Eltern haben wir erlebt, dass es nicht immer nur geradeaus geht.
Diese Verzweiflung umgab alles, die Seele mühte sich. Doch es gab auch Zuversicht: „Bist du doch meine Zuversicht, bist in der Nacht, oh Gott, mein Licht!“
Die Schuld, von der Verschwörung gegen den Vater gewusst zu haben und doch nichts dagegen unternommen zu haben, belastete Alexander I. schwer. Er war ein misstrauischer, eigenbrötlerischer junger Zar, groß gewachsen und gut aussehend. Doch diese Schuld ließ ihn sein Leben lang nicht los.
Bis heute ist nicht klar, ob er wirklich 1827 in Taganrog gestorben ist oder ob er sich einer Büßerschar nach Sibirien angeschlossen hat. Nach der sowjetischen Revolution wurde behauptet, der Sarg sei geöffnet worden und keine Gebeine seien darin gewesen. Ob dies eine Legende ist, weiß man nicht.
Es ist gut möglich, dass Alexander von dieser Schuld innerlich zerdrückt wurde. Auch die anderen Kinder Maria Fedorownas – die von Weimar, unsere gute Königin Katharina von Württemberg, Michael und später Nikolaus I. – litten möglicherweise an einem Schuldkomplex. Man könnte sagen, sie wollten diese Schuld durch gutes Tun abarbeiten.
Man kennt vieles von dem, was die schwäbische Königin Katharina getan hat: Mädchenbildung, die Einführung des ersten Turnunterrichts für Mädchen 1817, die Gründung der ersten Gymnasien für Mädchen. Hilfslieferungen nach Württemberg, etwa Getreidewagen nach den Hungerjahren 1816, kamen aus Russland, von Katharina organisiert. Sie gründete die Landesschirurkasse, eine Fürsorgekasse und eine Hagelversicherung.
Man kann gar nicht alles aufzählen, was Katharina an Wohltätigem bewirkt hat. Der große württembergische Landeshistoriker Deckerhauf sagte, man könne dies nur psychologisch erklären: Sie wollten durch Gutes tun ihre Schuld abarbeiten. Anders war es bei Maria Fedorowna.
Trost im Glauben und Symbolik der Statue
Wenn niemand dich erquicken kann, so schaue deinen Heiland an und schütte dein Herz in seinen Schoß aus. Nicht das, was ich Gutes tue, macht die Sache recht, sondern er macht sie recht – wie wir heute Morgen gehört haben –, der für meine Sünde gestorben ist.
In diesem Zusammenhang hat sie eine Statue bei dem Hofbildhauer Dannegarn in Auftrag gegeben. Die Statue trägt die Inschrift: „Durch Jesus zum Vater – ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, ich komme auch nicht, wenn nicht Jesus da ist, der mich zum Vater bringt mit meiner Schuld.“
Leider gibt es nicht einmal mehr einen Abguss dieser Statue. Ein Abguss stand in der Stuttgarter Hospitalkirche, wurde aber 1944 beim großen Angriff zerstört. Dennoch haben wir zumindest noch Bilder von dieser wichtigen Statue erhalten. In Pawlowsko und Saskoselo wurde sie natürlich ebenfalls zerstört.
„Gott führe mich recht“ – so lautete die Bitte von Maria Widerowna. Doch ich sage: Gott hat sie als Werkzeug benutzt, und zwar nicht nur darin. Sie hat deutlich gemacht, dass man mit Jesus auch schuldfrei werden kann. Darüber hinaus wurde sie mittelbar zum Werkzeug für die Verbreitung der Bibel.
Sie, die die Bibel so lieb gehabt hat und versucht hat, in Pawlowsk ihren Kindern die Bibel nahe zu bringen, wurde somit mittelbar zum Werkzeug für die Verbreitung der Bibel und für die erste große Erweckung in Sankt Petersburg.
Die Bibelverbreitung und die Erweckung in Russland
Wie kam das zustande? Im Jahr 1801 war Paul ermordet worden, und Alexander war ein junger Zar geworden. 1812, nur wenige Jahre später, wurde Russland von Napoleon überfallen. Die kaiserliche Armee, an der viele Württemberger und Badener beteiligt waren, drang in Russland ein.
Die Zarengeneräle handelten damals klug – sie taten das, was man in Russland auch zu Hitlers Zeiten gemacht hat: Sie ließen die feindlichen Truppen sich im weiten Raum Russlands verlieren und an den eigenen Nachschubproblemen zugrunde gehen. Allerdings wurde bei dieser Gelegenheit Moskau zerstört.
Manchmal richtete sich die Kritik der Russen an Zar Alexander und seine Generäle, wie Barclay de Tolli, der aus dem französischen Adel stammte. Barclay de Tolli wurde abgesetzt, um nach außen hin einen Schuldigen zu präsentieren. Doch mitten in der Verzweiflung fragte man sich, ob das gut ausgehen würde.
Eines Morgens kam der Zar etwas niedergeschlagen in das Arbeitszimmer seines engsten Freundes und Begleiters, Fürst Golizyn. Auf dessen Schreibtisch lag eine Bibel. Der Zar hatte seit seiner Jugend in Pawlowsk keine Bibel mehr in der Hand gehabt. Seine junge Gemahlin, Elisabeth von Baden, hatte zwar eine Bibel in die Ehe mitgebracht, diese aber nur für sich persönlich gelesen.
Der Zar blätterte in der Bibel und stieß auf den Psalm: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht, meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.“ Er war tief erschüttert und sagte: „Mit solchen Worten kann man leben und hoffen.“
Er verließ das Zimmer, fuhr mit seiner Equipage zum Schloss – dem heutigen Hermitage – und sagte zu seiner Frau Elisabeth, deren Ehe mit ihm bereits sehr kritisch geworden war: „Du hast doch eine Bibel, lass mir deine Bibel lesen.“ Von da an las er die Bibel so intensiv, dass einige Jahre später, als der Hofrat Jung-Stilling aus Karlsruhe nach Sankt Petersburg kam, er bemerkte: „Die Bibel des Zaren sieht aus wie bei uns ein zerlesenes Schulbuch.“
Der Zar fand seinen Trost im Wort Gottes, in der Bibel. Am Tag, an dem Napoleon mit seinem Schlitten aus Wilna flüchtete, erließ Zar Alexander I., der älteste Sohn von Maria Fjodorowna, einen Ukas, einen Erlass. Darin erklärte Seine Heilige Majestät, der Zar aller Russen, dass er aus eigener Erfahrung wisse, was das Wort Gottes, die Bibel, bedeute.
Er befahl, dass schnellstmöglich eine Bibelanstalt eingerichtet werde, um Bibeln in allen in Russland gebräuchlichen Sprachen und Dialekten zu drucken. Selbst orthodoxe Priester, Erzpriester und Bischöfe wurden einberufen, um ein Komitee für eine russische Bibelgesellschaft zu bilden. Fürst Golizyn, der Freund, bei dem der Zar die Bibel gefunden hatte, wurde Präsident dieser Bibelgesellschaft.
Im Nu wurden 70.000 Bibeln gedruckt – eine ganz neue Entwicklung in Russland. Während bei uns durch die Reformation und die Erfindung Gutenbergs die Bibel früh in viele Häuser und Gemeinden gelangte, war dies in Russland eine völlig neue Entdeckung.
Morgen Abend werden wir noch hören, wie das dazu führte, dass die Stundisten, die mit der Bibel lebten, plötzlich in Russland Stunden abhielten und wie das die russische Frömmigkeit veränderte.
Heute sagt man oft nur so viel: Der Zar meinte, eine Bibel allein reiche nicht aus. Man brauche auch Verkündiger des Evangeliums. Seine Mutter bestärkte ihn darin. Die russischen Priester kannten die Bedeutung der Predigt, der Bibel und des Evangeliums kaum. Aber er musste aufpassen: Man konnte nicht einfach katholische Priester oder irgendwelche Jesuiten holen. Er musste darauf achten, dass er Leute holte, die von den Orthodoxen akzeptiert wurden.
Die Malteserkapelle und die Erweckungsbewegung
Wie wäre es, wenn wir an die Malteserkapelle in Petersburg Pfarrer berufen würden? Das muss ich Ihnen erklären.
Der Paul, dieser etwas vierschrötige, beinahe verrückte Zar, hat sich immer damit gebrüstet, dass er eines Tages Großmeister des Malteserordens werden würde. Auf allen Darstellungen sieht man ihn mit dem Malteserkreuz. Ich habe hier auch eine Kopie, die ihn mit der Kopfbedeckung der Malteser zeigt. Er hat in Petersburg eine wunderbare Kapelle bauen lassen, die Malteserkapelle, obwohl es dort gar keine Malteser gab. Er wollte als Großmeister der Malteser in dieser Kirche auftreten.
Wenn Sie einmal nach Petersburg kommen, rate ich Ihnen, müssen Sie unbedingt die Malteserkapelle sehen. Sie ist wunderbar wiederhergestellt, mit aller Herrlichkeit, mit Gold und Silber – das erscheint kaum möglich im armen Russland.
Aber welche Pfarrer berufen wir dort? Das wusste Maria Fyodorowna. Es gab eine Erweckungsbewegung in Bayerisch-Schwaben, in der Gegend von Memmingen, Illertissen bis hinauf ins Allgäu. Dort war durch den späteren Weihbischof Seiler, durch Martin Boos und den Pfarrer Seeneberg eine Erweckungsbewegung unter katholischen Priestern entstanden. Diese litten darunter, dass immer nur gepredigt wurde, was man tun muss, um Gott zu gefallen; was man unternehmen muss. Es wurde oft aktiv gepredigt, was wir alles tun müssen, aber nicht, was Jesus schon längst für uns getan hat.
Deshalb gibt es so wenige fröhliche Gewissen in der katholischen Christenheit. Es wird nicht gepredigt, dass Christus in uns wirken will. Martin Boos hat ein Buch geschrieben: „Christus in uns“. Das war das Anliegen dieser katholischen Erweckungsbewegung. Maria Fyodorowna sagte daraufhin: „Da holen wir Priester her!“
Als erstes kam Ignaz Lindl. Er war zwei Jahre Priester an der Malteserkirche in Petersburg. Es entstand eine große Erweckung. Menschen strömten hoch und nieder in die Kapelle. Man musste die Fenster öffnen, damit die Leute von außen die Predigt hören konnten.
Dann wurde Ignaz Lindl als Propst von Odessa ans Schwarze Meer berufen. Später war er der Apostel der Bessarabiendeutschen. Dort gibt es heute noch ein großes Lindl-Denkmal. Lindl brachte seinen Freund Johannes Gosner mit, der später die Gosner-Mission gründete – ein berühmter Mann. Manche von Ihnen kennen das Herzbüchlein von Gosner, nicht? All das sind Einflüsse katholischer Volksfrömmigkeit, die in die evangelische Welt hineingewirkt haben.
Diese berühmten Leute hat Maria Fyodorowna durch ihren Sohn Alexander nach Petersburg holen lassen. Bis die orthodoxen Priester sagten: „Jetzt hört es aber auf! Der Einfluss von Maria Fyodorowna und Alexander ist so groß, dass wir Sorge um die Orthodoxie haben müssen.“
Der Metropolit Serapion meldete sich zum Empfang beim Zaren Alexander, legte seine Mitra, seine Kopfbedeckung, vor dem Zaren nieder und sagte: „Ich trete zurück als führender Bischof der orthodoxen Kirche, wenn nicht Gosner und Lindl sofort des Landes verwiesen werden, wenn nicht sofort die Bibelanstalt geschlossen wird und wenn nicht sofort Fürst Golizyn aller seiner Ämter enthoben wird.“
Alexander war so schwach, dass er nachgab. Das war der letzte große Schmerz für Maria Fyodorowna. Die Erweckungsbewegung in Petersburg wurde nach drei bis vier Jahren erdrosselt, die Bibelgesellschaft ebenfalls. Doch die Lieferung der ersten Zigtausende von Bibeln ins Land war ein Samenkorn, das aufgehen konnte.
Davon wird man morgen noch einiges hören, wie Gott das benutzt hat, was damals durch die Bibelgesellschaft ausgestreut worden ist.
Alexander I. und die Hoffnung auf geistliche Erneuerung
Vielleicht ist noch zu sagen, dass es zwei Dinge gibt, die erwähnt werden sollten. Erstens war Alexander I. nach der Niederlage Napoleons in Heilbronn von Juliane von Krüdener besucht worden. Sie gab ihm die Idee einer Heiligen Allianz. Nach dem Sieg über Napoleon sollte Europa vom Geist Gottes geprägt sein. Preußen, Österreich und Russland sollten zusammen einen Staat gründen, der sich an den Geboten Gottes und der Bergpredigt orientiert.
Alexander war für diese Ideen aufgeschlossen. Doch durch den Widerstand von Metternich, dem führenden Politiker Österreichs, zerbrach diese Heilige Allianz.
Für Sie als Badener ist es wichtig zu wissen, dass der Hofrat Jung-Stilling, sofern Sie aus Baden kommen – es gibt ja auch noch ein paar Württemberger und andere aus verschiedenen Ländern –, sehr auf Alexander gesetzt hat. Er sagte, nach dem Gespenst Napoleons und nachdem 1789 die Französische Revolution all den Ungeist über Europa gebracht hatte, komme alle Not vom Westen. Manche Pfarrer sagen heute, alle Not komme von Amerika. So war es früher einmal gesagt: alle Not kommt vom Westen, und das Heil kommt vom Osten.
Alexander gilt als der Erzengel, den Gott uns gesandt hat, um einen neuen Geist über Europa zu bringen. Deshalb rief Jung-Stilling auf: Geht nach Russland, dort ist der Bergungsort. Wenn Jung-Stilling Recht hatte, beginnt dort das tausendjährige Reich – 1836, auf nach Russland! Dieser Aufruf hatte allerdings keinen großen Erfolg. Viele sind auf solche Parolen hereingefallen. Es gibt eben auch falsche, fromme und gut gemeinte Parolen.
Ich möchte nur deutlich machen: Die Gestalt Alexanders war in vieler Hinsicht der Sohn von Maria Fjodorowna, eine Hoffnungsgestalt, die nicht halten konnte, was man sich von ihr versprochen hatte. Alexanders letzter Besuch im Jahr 1827, bevor er dann in Taganrog verschwand, war am Grab Juliane von Krüdener auf der Krim.
Bleiben jedoch die Einflüsse. Plötzlich wurde in Russland, wo Maria eine große Rolle spielt, Jesus Christus als Heiland und Retter von der Zarenfrau ausgerufen mit den Worten: „Wenn niemand dich erquicken kann, so schau deinen Heiland an.“ In Russland erhielt die Bibel eine neue Bedeutung. Bei der zweiten großen Erweckung 1850 unter den Stundisten – davon hören wir morgen – und 1874 durch Lord Radstock und Oberst Paschkow erlebte die Bibelbewegung eine ganz neue Renaissance, ein neues Wiederbeleben.
Gott hat seine merkwürdigen Werkzeuge: einen Laienvater, eine Maria Fjodorowna, einen Alexander, einen Hofrat Jung-Stilling. Sie sind nicht fehlerlos, und doch kann Gott sie für seine großen Zwecke gebrauchen, damit sein Reich in einem Land, das für uns als ungehobelt und barbarisch erscheint, Geschichte schreiben kann.
Bedeutung für heutige Gemeinden und Schlussgebet
Und wenn heute die Frage gestellt wird, wo lebendige Gemeinden in unserem deutschen Vaterland zu finden sind, dann wird man im Normalfall auf russlanddeutsche Gemeinden stoßen.
Mein Sohn war in seiner Vikarstelle tätig, und dort sagte eine Kirchengemeinderätin: „Warum reden Sie denn so viel von Jesus? Es genügt doch, wenn man von Gott spricht.“ Doch sie fügte hinzu: „Sie sprechen unsere russlanddeutsche Sprache gut, sodass Sie auch von Jesus sprechen. Das ist doch heilsam, das ist eine Arznei für uns.“
Um der russlanddeutschen Willen, um unserer Glaubensgeschwister Willen, wird Jesus hochgehalten. Die Maria Friederowna war eine, die Jesus gebraucht hat, damit er bekannt gemacht wird.
Darf mit ihm beten: Großer König Jesus, du hoher Priester, der du unsere Namen vor dem Vater nennst und den Vater daran erinnerst, dass er seine Barmherzigkeit uns zuwendet. Gewähre doch auch jedem unter uns, dass wir ein kleines Werkzeug sein dürfen für dich und dein Wirken.
Lob sei dir für alles, was du gewirkt hast, auch in dem großen Russland, auch durch große Nöte und schwere Zeiten hindurch, dass du den Glauben erhalten und gestärkt hast. Du hast auch bei vielen Kriegsgefangenen dazu geführt, dass sie neu nach dir gefragt haben.
Nun geleite du uns in diese Nacht hinein, berge du uns in deinem Frieden! Amen.
