Einführung: Christlicher Glaube in Russland und seine Herausforderungen
Es gibt den christlichen Glauben in Russland schon seit über tausend Jahren. Wenn Sie an die schönen Ikonen denken, an die Darstellungen Christi, oder vielleicht schon von den herrlichen Gottesdiensten gehört haben, die einst die frühen Russen bei der Übernahme des Christentums fast verzaubert haben, dann wissen Sie: Wir müssen den christlichen Glauben nicht erst heute nach Russland bringen.
Allerdings hat Jesus eine geringe Rolle gespielt, und vor allem die Bibel hat eigentlich überhaupt keine Rolle gespielt. Geistliches Leben entsteht jedoch nur dort, wo die Bibel ernst genommen wird – Leben aus Gott entsteht nur dort.
Wir leben im Augenblick in einer Zeit, in der sehr viel Religiosität vorhanden ist. Das gibt es in Russland auch: sehr viel gefühlvolle Religiosität, sehr viel Singen. Wir freuen uns darüber, aber Jesus geht fast verloren, vor allem die Bibel gerät in Vergessenheit.
Ich denke, ich habe noch beim Nazilehrer 800 Sprüche aus dem Spruch- und Liederbuch gelernt und Chorübungen bei ihm. Heute, wenn man Konfirmanten sagt, sie müssten das Glaubensbekenntnis lernen, protestieren schon die Eltern und sagen, das sei ein bisschen zu viel. Wir verlieren die Bibel.
Deshalb wollte ich Ihnen vorher auch ein bisschen Appetit machen, damit Sie merken, wie hochinteressant die Bibel ist und wie die Zusammenhänge dort sind. Es gab eine Sternstunde im großen russischen Reich, von der gilt, was einmal Johann Christoph Blumhardt gesagt hat: Wenn Gott wirkt, wird uns ein Vorgeschmack jener Zeit geschenkt, wenn Gott einmal die Welt vollenden wird.
So ein Vorgeschmack war zwischen den Jahren 1815 bis 1825 im großen russischen Reich. Ich muss also jetzt eine Zeit hineinnehmen und Sie ein bisschen zurückversetzen, und zwar erst einmal ins Jahr 1815 – was ist das schon, nicht wahr?
In jener Zeit gab es drei wichtige Dinge. Erstens hat Zar Alexander I., der auch der Bibelzar genannt wird, die Gründung einer russischen Bibelgesellschaft dekretiert, die innerhalb von wenigen Jahren fast eine Million Bibeln drucken ließ. Diese Bibeln waren erschwinglich und wurden in den 74 im großen russischen Reich gebräuchlichen Sprachen gedruckt. Dabei gab es nicht nur Dialekte und verschiedene Sprachen – wir wissen heute, dass es auch Tadschikisch und vieles mehr gibt. Dreiviertel Millionen Bibeln waren zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es war ein Anfang, der durch den Zaren selbst dekretiert wurde.
Zweitens sagte Zar Alexander: „Ich brauche lebendige Gotteszeugen in der Hauptstadt Petersburg.“ Lutherische Pfarrer waren manchmal etwas steril orthodox. Wo findet man Erweckungsprediger? Man sagte ihm, im schwäbischen Allgäu, südlich von Ulm um Memmingen herum, gebe es eine Erweckungsbewegung, die man in der Kirchengeschichte die Allgäuer Erweckungsbewegung nennt. Diese Bewegung war unter katholischen Priestern entstanden. Martin Boos hatte aus der Bibel entdeckt, dass Christus in uns wirken will. Man ist nicht bloß an den Priester und die Absolution gebunden, sondern Jesus möchte neues Leben schaffen, so wie er gesagt hat: „Bleibet in mir und ich in euch! Wie die Rebe kann keine Frucht bringen, wenn sie nicht im Weinstock bleibt.“
Martin Boos schrieb ein Buch mit dem Titel „Christus in uns“. Seine Freunde Feneberg, Lindl und Gosner wurden angesteckt von dieser Bewegung. Das Erzbistum schickte diese Priester der Allgäuer Erweckungsbewegung ins Priestergefängnis, zusammen mit anderen, die als irre oder untreu galten. Man wollte diese Bewegung ausmerzen. Es gelang nicht ganz, weil Bischof Seiler, später Weihbischof in Regensburg, seine Hand über diese Priestergruppe hielt. Aber darüber sprechen wir ein anderes Mal ausführlicher.
Jedenfalls hörte Zar Alexander durch seinen Vertrauten, den Fürsten Gollizin – über den wir ebenfalls ein abendfüllendes Programm machen könnten – von diesen erweckten Pfarrern aus der schwäbischen Ecke. Der Zar ließ sie kommen, darunter Ignaz Lindl, der später der große geistliche Vater unserer Bessarabier wurde. Wissen Sie noch überhaupt, was Bessarabien ist? Unsere Brüder und Schwestern dort sind begeistert, wenn sie den Namen Lindl hören. Diese waren katholische Priester, die evangelisch predigten. Auch Gosner wurde nach Petersburg geholt. Vielleicht haben Sie als Jugendliche einmal ein Herzbüchlein von Gosner gesehen. Gosner hat Andachtsbücher und Meditationen geschrieben und später die Gosner-Mission gegründet – eine ungeheure Wirksamkeit.
Diese Erweckungsprediger wurden in Petersburg nicht in orthodoxen Klöstern oder Kirchen, sondern in einer besonderen Kapelle predigen gelassen. Diese Kapelle, die Malteserkapelle in einer Kaserne, wird im Augenblick wunderbar restauriert. Bei einem meiner nächsten Petersburkreisen möchte ich Sie dorthin einladen. Die Kapelle war rappelvoll, es brach eine Erweckung aus, bei Hoch und Nieder in Petersburg um das Jahr 1820.
Drittens sagte Zar Alexander, dass in Südrussland, wo seine Großmutter Katharina die Große viele Siedler aus Deutschland geholt hatte – im Wolgagebiet, bei Saratow, wo heute Städte wie Marx und Engels liegen – und im gesamten südrussischen Reich Taurien, Pfarrer gebraucht werden. Man könne diese Siedler nicht ohne geistliche Betreuung lassen.
Der Zar nahm Verbindung mit Basel auf, und die ersten Pfarrer für diese deutschen Siedlungsgebiete bei Berdjansk und Mariupol, einer ganzen Siedlung am Nordrand des Schwarzen Meeres, wurden entsandt. Auch von Korntal kam Pfarrer Eduard Wüst. Das Gebiet am Schwarzen Meer wurde durch Alexander I. zu einem Erweckungsgebiet.
Ich möchte in der nächsten halben Stunde noch einiges von ihm erzählen, aber zunächst zur Sternstunde zwischen 1815 und 1825: Wie kam es dazu? Alexander I. wurde in jungen Jahren als schwacher, auch körperlich schmächtiger, aber hochgewachsener Fürst in das Amt gerufen, nachdem 1801 sein Vater Paul, oder Pavel, ermordet worden war.
Alexander wusste von der Verschwörung und konnte es nicht verhindern. Er hoffte, der Vater werde nur abgesetzt und irgendwo deportiert. Doch er musste miterleben, wie sein Vater im heutigen Ingenieurschloss, dem Michaelspalast, rief: „Helft mir doch!“, als er erdrosselt wurde. Zar Paul hatte selbst die Wände zumauern lassen, sodass ihm niemand helfen konnte.
Mit dieser Schuld ging Alexander durchs Leben. Zwar hatte er keine blutigen Hände, doch er wusste von der Verschwörung. Um des Reiches willen dachte er sich: Mein Vater, der Paul, muss abgesetzt werden, denn er ist ja wahnsinnig!
Ich habe Ihnen bis hierhin ein sehr schmeichelhaftes Bild von Paul gezeichnet. Ein anderes Bild könnte ich Ihnen auf einer Dia zeigen, das wäre weniger schmeichelhaft. Wir Schwaben würden sagen, der ist nicht ganz richtig im Kopf gewesen.
Man wusste, dass Katharina die Große seine Mutter war, doch wer der Vater war, wusste man bei Katharina nie genau. Ob es einer ihrer Liebhaber war, blieb unklar. Katharina hatte schon immer gedacht, dass ihr Sohn Paul nicht ihr Nachfolger sein könne, um das große Reich zu regieren. Auch Friedrich der Große sagte: „Das wird nicht lange gut gehen, sie werden ihn schnell um die Ecke bringen.“
Friedrich der Große erkannte als Regent klar, dass ein so großes und schwieriges Reich wie Russland nicht von einem geistig schwachen, merkwürdigen Mann regiert werden kann. Alexander trug diese Schuld von Jugend an mit sich. Damals gab es noch Leibeigenschaft, kein allgemeines Schulwesen, kein Hospitalwesen und grenzenlose Armut in Russland.
Er hatte von seiner Mutter ein Erbe mitbekommen, das er ändern wollte, aber nicht konnte. Dann kam 1813 der Überfall Napoleons auf Russland. Die Generäle Suwarow und Bagle de Tolli verfolgten die Taktik, Napoleon sich in den Weiten Russlands totlaufen zu lassen.
Napoleon erging es wie Adolf Hitler später: Die beste Verteidigung Russlands war, ihn ins Leere laufen zu lassen. Trotz dieser Taktik wurden Zar und Generäle angegriffen. Die Russen sagten: „Was ist los? Ihr kämpft ja gar nicht, unsere Armeen ziehen sich zurück.“ Barclay de Tolle, der aus englischem Adel stammte, gab sein Amt auf, Suwarow kämpfte weiter.
Alexander I. war ziemlich geschlagen und fragte sich, ob er etwas falsch mache. Eines Morgens kam er verzweifelt in das Arbeitszimmer seines Freundes, des Fürsten Galizin, den er von Jugend an kannte und an den Hof geholt hatte.
Fürst Galizin war erst jung zum Glauben gekommen und hatte immer eine Bibel auf seinem Schreibtisch liegen. Der Zar blätterte in den Akten und auch in der Bibel. Sein Blick fiel auf Psalm 91: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt.“
Er sprach zu Galizin: „Meine Zuversicht, meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.“ Dieses Wort schlug wie ein Blitz bei ihm ein. Er sagte noch zu Galizin: „Mit so einem Wort kann man leben.“ Dann ließ er sich in seiner Troschke nach Hause fahren und bat seine Frau, eine Großfürstin Elisabeth von Baden, um eine Bibel.
Er selbst hatte keine Bibel. Damals gab es in Russland nur die in Klöstern und Kirchen verwendeten, in Altslawisch gehaltenen, kaum verständlichen Bibeln. Elisabeth hatte eine verständliche Bibel, und er bat sie: „Gib mir deine Bibel.“
Ab diesem Zeitpunkt lag auf dem Schreibtisch des Zaren eine Bibel, die nach einem halben Jahr so zerlesen war, dass der Doktor Hofrath Jungstilling aus Karlsruhe sagte, sie sei so abgenutzt wie ein Schulbuch bei uns zu Hause.
Als Napoleon nach dem Brand von Moskau Russland verlassen musste, und 300 Württemberger an der Beresina elend umkamen – kaum einer kam heim –, hieß es aus Napoleons Hauptquartier, seiner Majestät, dem Kaiser, gehe es gut. Was der Truppe geschah, war nebensächlich.
An dem gleichen Tag, als Napoleon in Richtung Westen nach Frankreich fuhr, unterschrieb Alexander I. einen Befehl, ein Dekret, dass in Russland eine Bibelgesellschaft gegründet werden solle. Alle, die guten Willens seien, sollten sich für die Verbreitung der Bibel einsetzen.
Seine Majestät, der Zar aller Reussen, hatte sich durch eigene Erfahrung überzeugt, wie hilfreich die Bibel war. Ein Gottesgeschenk in der Notzeit, im Bibelwort. Sein Herz war gefallen, und er begriff, was für ein Geschenk die Bibel ist.
Er beauftragte seinen Freund, den Fürsten Galitzin, der zugleich Oberprokuror war – also Oberlandesbischof für alle Religionen in Russland –, zusammen mit Metropoliten der orthodoxen Kirche, einzelne regionale Bibelgesellschaften aufzubauen. Nicht nur in Petersburg und Moskau, sondern auch bis hinunter nach Georgien.
Die orthodoxe Kirche schwamm mit, denn der Papst, der damals als Heiliger galt, hatte es befohlen.
Was bewirkte diese Bibelbewegung mit den dreiviertel Millionen Bibeln? Plötzlich gab es neben den schwäbischen, hessischen und badischen Siedlern im Schwarzmeerraum auch Russen, die in der Bibel lesen konnten und es auch taten.
Wenn sie zur Sommeraushilfsarbeit bei den deutschen Kolonisten waren, merkten sie, dass diese Hausandachten hielten. Nicht alle, aber sehr viele. Sie lasen morgens und abends in der Bibel und hielten am Sonntag ihre Stunde – so nannten die Schwaben die Zusammenkünfte.
Diese russischen Erntearbeiter, die Saisonarbeiter, wurden von diesem Impuls erfasst. Sie kauften sich von ihrem kirchlichen Lohn eine Bibel und begannen, in ihren Dörfern selbst Stunden abzuhalten.
Vielleicht haben Sie schon den Begriff „Stundisten“ gehört. Das sind diejenigen, die von den deutschen Kolonisten den Impuls mitbekommen haben, die Bibel als Laien zu lesen und sich zu Gemeinschaften um die Bibel zu versammeln.
Man versuchte, sie mit dem Stimpfwort „Stundisten“ zu diffamieren, um zu sagen, das seien Geheimagenten aus Deutschland. Von Anfang an wurden die Stundisten besonders im Raum um das Schwarze Meer verfolgt.
Schließlich machten die Gouverneure eine Eingabe nach Petersburg. Schon damals, etwa im Jahr 1843, wurde festgestellt: Man kann äußerlich an den Dörfern sehen, in welchen Stundisten wohnen. Das ganze Aussehen dieser Dörfer ist anders.
Man kann diesen Stundisten die schwierigste Arbeit anvertrauen, sie betrügen niemanden, man kann davon ausgehen, dass sie niemanden anlügen. Man kann sie zu Vorarbeitern berufen und ihnen vertrauen. Sie lassen niemanden im Dorf ungetröstet sterben.
Das war das Geheimbüro der NKWD hundert Jahre später auch aufgefallen. Von den Evangeliumschristen wurde damals schon 1843 von den russischen Stundisten erkannt.
Sie merken also: Von diesem ersten Bibelimpuls, der auf Alexander I. zurückgeht, gab es eine mächtige evangelische Bewegung im russischen Volk.
Diese Bewegung wurde durch Leiden bewährt. Viele wurden einfach deportiert nach Sibirien, von ihren Familien weggerissen, weil sie Stunden hielten.
Wenn heute eine mächtige Bewegung von Evangeliumschristen, Evangeliumsmenoniten und Brüdern in Russland existiert, geht sie auf diese ersten Anfänge zurück.
Ich will jetzt noch ein bisschen zurückfahren. Ich habe Ihnen erzählt, dass Alexander die Bibel wichtig nahm, die Bibelgesellschaft gründete, Johannes Evangelista Gosner nach Petersburg holte, vorher den Ignaz Lindl, der dann als katholischer Propst nach Odessa versetzt wurde, um dort unter Katholiken zu evangelisieren. Alles ging von Alexander I. aus.
Wie kam es bei ihm zu dieser geistlichen Prägung? Wie konnte Gott ihn zu einem Werkzeug machen?
Deshalb möchte ich Ihnen heute etwas von der schwäbischen Prinzessin Sophie Dorothee erzählen, liebevoll in Württemberg „Dörte“ genannt. Sie musste, als sie Zarenfrau wurde oder Frau des Großfürsten, der zum Zaren bestimmt war, orthodox werden. Sie unterzog sich der orthodoxen Taufe.
Der Geheimrat, der dabei war, sagte: „Überzeugung wird später nachgeliefert.“ Er merkte, dass sie innerlich eine bewusst evangelische Frau bleiben wollte. Bei der orthodoxen Taufe erhielt sie den Namen Maria Fedorowna.
Ich spreche heute also nicht über zwei Prinzessinnen, sondern über dieselbe Person: Sophie Dorothee, die Mutter von Alexander, auch Maria Fedorowna genannt.
Sie war eine schwäbische Prinzessin, geboren in Treptow-Pommern, aufgewachsen in einer schwäbischen Exklave mitten in Frankreich, Maubeliar Mömpelgard.
Ihr Vater war dort als Verwalter von Mömpelgard eingesetzt und sorgte für ein liebliches Familienleben. Zwar gab es nicht viele Staatsgeschäfte zu erledigen, aber ihre Mutter, ebenfalls Dorothee genannt, sorgte dafür, dass abends nicht nur gespielt wurde, sondern religiöse Schriften gelesen wurden. Hausandachten waren ganz selbstverständlich im kleinen Schloss von Mömpelgard.
Vor allem wurde der Pfarrer Lafater aus Zürich immer wieder als Seelsorger ins Haus geholt. Die kleine Sophie Dorothee entwickelte ein enges Verhältnis zu ihm. Auch später bat sie ihn immer wieder um Rat.
Schon früh fiel der Blick Russlands auf diese kleine Sophie Dorothee. Sie muss eine liebenswerte Gestalt gewesen sein. Geheimagenten meldeten der Kaiserin Katharina der Großen, dass sie eine künftige Zarin werden könne.
Katharina meinte jedoch, Sophie sei absolut zu jung – sie war damals zwölf Jahre alt. Fünf Jahre später war das anders, da war sie siebzehn.
Sie müssen hören, was Katharina sagte, als sie die ersten Bilder von Sophie Dorothee sah: „Ich bin leidenschaftlich begeistert von dieser bezaubernden Prinzessin – leidenschaftlich im wahrsten Sinn des Wortes.“
Katharina war selbst eine deutsche Prinzessin und konnte ihre Muttersprache verstehen, ohne Übersetzung. Sie sagte: „Sie ist gerade so, wie man sich eine künftige Zarin wünscht. Sie ist schlank wie eine Nymphe, ihre Gesichtsfarbe ist weiß wie eine Lilie mit dem Inkarnat einer Rose. Sie ist von hohem Wuchs und hat doch eine erfreuliche Fülle. In ihrem Gang hat sie eine Leichtigkeit. Aus ihrem Gesicht sprechen Milde, Herzensgüte und Aufrichtigkeit. Alle sind von ihr entzückt. Wer sie nicht liebt, ist selbst im Unrecht. Man rühmt ihre Schönheit und ihre Manieren. Sie wird gewiss eine Macht über das Herz ihres Gemahls haben und wird von dieser Macht unstreitig einen guten Gebrauch machen.“
Schön, gut gewachsen, gesund, klug, gute Manieren – das war die richtige Frau für den verrückten Paul.
Auch Katharina sorgte sich gewaltig, wie das gut gehen sollte. Pauls erste Gemahlin war sehr früh gestorben, ohne einen Erben zu hinterlassen. Paul selbst wollte nicht mehr heiraten. Er war Soldat und hatte immer eine kleine Kompanie, die er dirigierte. Er hatte von Preußen die Begeisterung für Soldatenspiele übernommen und ahmte Friedrich den Großen nach, etwa mit dem Dreispitz und dem großen Denkmal in Pawlowsk, seinem Schloss. Dort stand er so, dass man ihn für den alten Fritz halten konnte.
Katharina sagte jedoch: „Es wird geheiratet. Ich besorge dir eine richtige Frau, die hoffentlich einen Erben gebiert, falls wir den Paul fallen lassen müssen.“
Katharina die Große war wirklich groß im Erfindungsreichtum. Sie ließ ihren eigenen Ehemann beseitigen, als er nicht mehr taugte, und machte sich selbst zur Kaiserin. Vielleicht müsse man auch Paul einfach verschwinden lassen und einen Enkel heranziehen, der fähig sei, die Regierungsgeschäfte Russlands zu führen.
Sophie Dorothee, alias Maria Fedorowna, sollte die Mutter dieses Enkels sein. Sie gebar Paul zehn Kinder.
Alexander war der erste, Konstantin das vierte Kind. Das freut uns Schwaben besonders, denn die Katharina, die auf dem Roten Berg predigt, war die hochgeschätzte Gattin von Wilhelm dem Ersten. Katharinenstift, Katharinenhospital, Landesschirurkasse – alles wurde von ihr in kurzer Zeit gegründet.
So geht es weiter: Michael, Nikolaus – alle berühmte Persönlichkeiten. Paul bemerkte, dass er von seiner Mutter nicht geschätzt wurde, und schätzte deshalb besonders die Liebe seiner Sophie, Dorothee oder Maria Fedorowna.
Sie baute in Pawlowsk, eigentlich in der Pampa hinter Petersburg, ein wunderbares Schloss mit Seen und einer Idealvorstellung, die ein bisschen an Hohenheim erinnerte. Dort richtete sie eine landwirtschaftliche Hochschule ein. Sie ließ sogar Max Eid nach Pawlowsk kommen.
Sie gründete eine Schule für Landkinder, eine Rettungsanstalt und eine Versuchsstation. Sie führte neue Molkereien ein und wollte viel tun, bereits in der Vorarbeit für die Befreiung der Leibeigenen.
Wo wirklicher Glaube ist, gibt es auch sozial-diakonisches Engagement.
Als wir das letzte Mal dort waren, Frau Wirtz, haben wir in der Bücherei in Pawlowsk entdeckt, dass die Deutschen dort furchtbar zerstört haben, bevor sie wieder weggegangen sind.
Dort fanden wir Bände von Lafater, Erbauungsbücher, Johann Arndts „Wahres Christentum“. Eine Frau im Schloss von Pawlowsk hielt sonntäglich Andachten, Hausandachten. Professor Deggerhauf betonte, dass sie „Stündler“ hielt.
Die Hauslehrer und Hauslehrerinnen für ihre Kinder ließ sie aus Württemberg kommen. Sie sagte: „Wir brauchen geistlichen Input“, oder anders ausgedrückt: „Wir müssen geistlich etwas mitbekommen.“
Katharina die Große, die fast unendlich lebte und nicht umzubringen war, war eine richtige deutsche Fürstin. Sie setzte sich gegen alle Männer durch und dehnte das russische Reich bis zum Schwarzen Meer aus. Sie hatte Pläne, das Gebiet bis zur Türkei auszudehnen.
Sie war eine geniale Fürstin, doch der Glaube wirkte sich wenig in der Ethik aus. Das ist ja die Not Russlands: So viel Saufen und Ehebruch, ähnlich wie heute bei uns.
Wo die Bibel nicht mehr ernst genommen wird, wird auch das Leben nicht mehr geordnet. Katharina legte ihrem Volk nicht viel Gutes vor.
Sophie Dorothee hingegen dachte: Wenn Jesus gesagt hat „Salz der Erde“, dann bin ich ein kleiner Anstoß, ein kleines Ferment zum Guten.
Katharina die Große sagte jedoch: „Das geht nicht, dass diese fromme Bigotte, kleinkarierte Frau mit dem Inkarnat einer Rose bigott und engstirnig ist.“
Sie holte eine Baronin Liefen aus dem Baltikum als Erzieherin für die Kinder. Diese war viel zu fromm und engstirnig. „So geht das nicht!“
Wenn man heute von fundamentalistisch oder evangelikal spricht, dann haben die damals in Russland schon gesagt: „Das geht nicht mehr.“
Deshalb nahmen die beiden ältesten Söhne, Alexander und Konstantin, der Mutter das Sorgerecht weg und gaben sie einem schweizerischen Erzieher namens Delahaye.
Dieser war ein liberaler Mann, der nur sagte: „Jesus ist der eine Mann von Nazareth, von dem das Christentum abstammt.“ Aber er wusste eigentlich nichts von Jesus.
Das war ein Schmerz im Herzen der Mutter. Nicht nur, dass die Kinder brutal von der Großmutter weggenommen wurden, sondern dass ihr auch wichtig war, dass der Glaube an Jesus Christus, an den lebendigen Gott, in ihren Kindern Wurzeln schlägt.
In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an ihren Seelsorger Lafater. Er schrieb in einem Brief: „Summa summarum: Christus oder absolute Verzweiflung. Man kann nicht nur ein bisschen Christentum haben, sondern man muss den lebendigen Christus haben.“
Er dichtete das Lied, das wir früher im Religionsunterricht gelernt haben:
„Von dir, o Vater, nimm mein Herz.
Glück, Unglück, Freuden oder Schmerz,
ist alles dunkel um mich her.
Die Seele müd und freudenleer,
bist du doch meine Zuversicht,
bist in der Nacht, o Gott, mein Licht.
Wenn niemand dich erquicken kann,
so schaue deinen Heiland an,
schütt aus dein Herz vor seinem Sohn.
Denn seine Macht und Huld ist groß,
sei die Schwester könnt jetzt nur wunderbar.“
Wir sollten es wieder neu erlernen: Gedächtnistraining „Christus oder absolute Verzweiflung“. An das hat sich Sophie Dorothee gehalten.
Dann kam die Tragödie: 1801 starb Katharina die Große. Mit großem Pomp wurde sie bestattet. Nun musste Paul Zar aller Reussen werden.
Paul wurde immer merkwürdiger, immer unfähiger zum Regieren. Er ging seinen eigenen Hobbys nach.
Eine Offiziersgruppe trat an Maria Fedorowna und den neugekrönten Zaren Alexander heran.
Wie gesagt, Alexander war nicht gekrönt, sondern Paul war noch Zar. Die Offiziere fragten: „Was können wir tun, um den Vater unschädlich zu machen? Können wir ihn einsperren, ins Ausland bringen oder in ein Kloster?“
Das war die übliche Methode in Russland, wenn ein Prinz nicht taugte. Peter der Große ließ so jemanden in einem Kloster umkommen.
Paul I. hatte Angst. Er merkte, dass alle gegen ihn waren: Katharina wollte ihn nicht hochkommen lassen, die Offiziere waren gegen ihn, die Regenten waren gegen ihn, wahrscheinlich auch Alexander.
Er ließ sich den Michaelspalast bauen. Dieser liegt an der Neva, nicht weit von der Hermitage, dem Winterpalast, in einem Park. Es ist ein riesiger Bunker, ähnlich der Reichskanzlei in Berlin.
Dort ließ Paul die Türen zu seinen privaten Gemächern verrammeln, damit niemand zu ihm durchkommt, der ihm wieder ans Leben gehen könnte.
In dieser verrückten, aber berechtigten Angst vor Mördern konnte er sich nicht mehr sicher fühlen.
Wahrscheinlich war das der Grund, dass man ihn 1801 entmachten wollte. Man konnte ihn nicht einfach in einer Sänfte wegschaffen und fesseln. Er wehrte sich so lange mit seinem Degen, dass man ihm eine Schlinge um den Kopf warf und ihn erdrosselte.
Dabei rief er: „Helft mir doch!“ Seine Angehörigen, seine Familie, seine Frau und auch Alexander hörten das.
Professor Deggerhauf hat immer gesagt: Man kann auch die großen sozialen...
Die Persönlichkeit und Lebensgeschichte von Zar Alexander I.
Ich möchte in der nächsten halben Stunde noch einiges über ihn erzählen, insbesondere über seine Sternstunde zwischen 1815 und 1825. Doch wie kam es dazu?
Alexander I. war in jungen Jahren als schwacher, körperlich schmächtiger, aber hochgewachsener Fürst in das Amt gerufen worden, nachdem 1801 sein Vater, Paul oder Pavel, ermordet worden war. Alexander wusste von der Verschwörung, konnte sie jedoch nicht verhindern. Er hatte gehofft, sein Vater würde nur abgesetzt und irgendwo deportiert. Stattdessen musste er miterleben, wie sein Vater im heute sogenannten Ingenieurschloss, dem Michaelspalast, um Hilfe rief, als er erstickt wurde. Paul hatte selbst die Wände zumauern lassen, sodass niemand ihm helfen konnte. Mit dieser Schuld ging Alexander durchs Leben: Er hatte zwar keine blutigen Hände, aber er wusste um die Verschwörung und sah sich gezwungen, um des Reiches Willen zu handeln. Er dachte: Mein Vater, der Paul, muss abgesetzt werden, denn er ist ja wahnsinnig!
Ich habe Ihnen bisher ein sehr schmeichelhaftes Bild von Paul gezeigt, doch es gibt auch ein anderes, das ich allerdings nur auf Dia habe. Dort sieht man klar: Wir Schwaben würden sagen, er war „nicht recht Bacher“. Man wusste, dass Katharina die Große seine Mutter war. Wer der Vater war, wusste man bei Katharina der Großen nie genau – ob es einer ihrer Liebhaber war. Jedenfalls dachte Katharina die Große schon immer, dass ihr Sohn Paul nicht ihr Nachfolger und Herrscher des großen Reiches sein könne. Auch Friedrich der Große sagte: „Das wird nicht lange gut gehen, sie werden ihn sehr schnell um die Ecke bringen.“ Friedrich der Große erkannte als Regent klar, dass ein so großes und schwieriges Reich wie Russland nicht von einem geistig schwachen, merkwürdigen Mann regiert werden könne.
Alexander trug diese Schuld von Jugend an mit sich. Damals gab es noch Leibeigenschaft, kein allgemeines Schulwesen und kein Hospitalwesen, und in Russland herrschte grenzenlose Armut. Von seiner Mutter hatte er ein Erbe übernommen, das er ändern wollte, aber nicht konnte.
Dann kam 1813 – schon vorher – der Überfall Napoleons auf Russland. Die beiden Generale Suworow und Barclay de Tolly hatten die Taktik, Napoleon sich in den Weiten Russlands totlaufen zu lassen. Napoleon erging es ähnlich wie Adolf Hitler: Die beste Verteidigung Russlands war, ihn ins Leere laufen zu lassen und möglichst wenig Gegenwehr zu leisten. Trotzdem wurden Zar und seine Generale für diese Taktik kritisiert. Die Russen fragten: Was ist los? Ihr kämpft ja gar nicht, unsere Armeen ziehen sich zurück. Barclay de Tolly, der aus englischem Adel stammte, gab sein Amt auf, Suworow kämpfte weiter. Doch Alexander I. war ziemlich geschlagen und fragte sich: Mache ich etwas falsch?
Eines Morgens kam er verzweifelt in das Arbeitszimmer seines Freundes, des Fürsten Galizin, den er seit Jugend kannte und an den Hof geholt hatte. Der Fürst Galizin war erst jung zum Glauben gekommen und hatte immer eine Bibel auf seinem Schreibtisch liegen. Der Zar blätterte in den Akten und auch in der Bibel. Sein Blick fiel auf Psalm 91: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt.“ Er las weiter: „Der Herr ist meine Zuversicht, meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.“ Dieses Wort schlug wie ein Blitz bei ihm ein. Er sagte zu Galizin: „Mit so einem Wort kann man leben.“ Dann ging er weg, ließ sich in seiner Troschka nach Hause fahren und bat seine Frau, die Großfürstin Elisabeth von Baden, um eine Bibel. Er selbst hatte keine, denn damals gab es in Russland nur Bibeln, die in Klöstern und Kirchen benutzt wurden, in Altslawisch gehalten und kaum verständlich. Elisabeth hatte eine verständliche Bibel, und er bat sie: „Gib mir deine Bibel.“
Von diesem Zeitpunkt an lag auf dem Schreibtisch des Zaren die Bibel. Schon nach einem halben Jahr sagte Doktor Hofrath Jungstilling aus Karlsruhe, sie sei so zerlesen wie bei uns zu Hause ein Schulbuch.
Als Napoleon nach dem Brand von Moskau Russland verlassen musste, starben 300 Württemberger Elend an der Beresina, kaum einer kehrte zurück. Als Napoleon Vilna verließ, lautete die Meldung aus seinem Hauptquartier: „Seiner Majestät, dem Kaiser, geht es gut.“ Was der Truppe geschah, war nebensächlich.
Am gleichen Tag, an dem Napoleon sich gen Westen auf den Weg machte, unterzeichnete Alexander I. ein Dekret, dass in Russland eine Bibelgesellschaft gegründet werden solle. Alle, die guten Willens seien, sollten sich für die Verbreitung der Bibel einsetzen. Seine Majestät, der Zar aller Reußen, hatte sich durch eigene Erfahrung überzeugt, wie hilfreich die Bibel sein kann. Sie war für ihn ein Gottesgeschenk in der Notzeit. Sein Herz war vom Bibelwort berührt, und er begriff, was für ein Geschenk die Bibel ist.
Er beauftragte seinen Freund, den Fürsten Galitzin, der zugleich Oberprokuror war – also Oberlandesbischof für alle Religionen in Russland –, zusammen mit Metropoliten der orthodoxen Kirche, regionale Bibelgesellschaften aufzubauen. Diese sollten nicht nur in Petersburg und Moskau, sondern auch bis hinunter nach Georgien entstehen.
Die orthodoxe Kirche unterstützte das Vorhaben, denn der Papst, der als Heiliger galt, hatte es befohlen.
Auswirkungen der Bibelbewegung und die Stundisten
Was hat diese Bibelbewegung bewirkt? Diese dreiviertel Millionen Bibeln führten dazu, dass es plötzlich neben den schwäbischen, hessischen und badischen Siedlern im Schwarzmeerraum auch Russen gab, die in der Bibel lesen konnten und es tatsächlich taten.
Wenn diese Russen zur Sommeraushilfsarbeit bei den deutschen Kolonisten waren, bemerkten sie, dass viele von ihnen Hausandacht hielten. Nicht alle, aber sehr viele lasen morgens und abends in der Bibel. Am Sonntag hielten sie ihre Stunde – so nannten die schwäbischen Siedler diese Zusammenkünfte. Diesen Begriff übernahmen auch die russischen Erntearbeiter, die Saisonarbeiter. Wenn sie von dieser Praxis ergriffen waren, kauften sie sich von ihrem kirchlichen Lohn eine Bibel und begannen, in ihren eigenen Dörfern ebenfalls Stunden abzuhalten.
Vielleicht haben Sie schon vom Begriff „Stundisten“ gehört. Das waren diejenigen, die von den deutschen Kolonisten den Impuls erhielten, die Bibel auch als Laien zu lesen und sich in Gemeinschaften um die Bibel zu versammeln. Man nannte sie Stundisten, ein deutsches Stichwort, mit dem man zugleich versuchte, sie als eine Art Infiltration von Geheimagenten aus Deutschland darzustellen. Von Anfang an wurden sie diskriminiert – anders als die deutschen Kolonisten, denen Religionsfreiheit zugesichert war. Diese durften ihre Bibelstunden abhalten.
Doch plötzlich gab es Russen, die nicht mehr die Ikonen anbeteten, weil sie verstanden, dass es nicht nur um Ikonen geht, sondern um den Herrn Jesus selbst. Sie gingen nicht mehr zur Beichte, sondern sagten: Ich darf es dem Herrn Jesus selbst sagen, wenn etwas danebengegangen ist. Sie zündeten keinen Weihrauch mehr an und entwickelten eine ganz neue Form von Frömmigkeit.
Daraufhin beschwerten sich die Popen, die Priester, und ließen sofort die Polizei hinter den Stundisten herjagen. Von Anfang an wurden die Stundisten, besonders im Raum um das Schwarze Meer, verfolgt. Schließlich machten die Gouverneure eine Eingabe nach Petersburg. Schon damals, etwa im Jahr 1843, stellten sie fest, dass man äußerlich an den Dörfern erkennen konnte, in welchen Stundisten wohnten. Das gesamte Aussehen dieser Dörfer war anders – fast wie verzaubert.
Man konnte den Stundisten die schwierigste Arbeit anvertrauen, sie betrogen niemanden und man konnte davon ausgehen, dass sie niemanden anlügen würden. Man konnte sie zu Vorarbeitern ernennen und ihnen vertrauen. Sie ließen niemanden im Dorf ungetröstet sterben. Das war etwas, was später auch das Geheimbüro der NKWD hundert Jahre später feststellte.
Von den Evangeliumschristen wurde damals schon 1843 von den russischen Stundisten erkannt: Von diesem ersten Bibelimpuls, der auf Alexander I. zurückging, entstand eine mächtige evangelische Bewegung im russischen Volk. Diese Bewegung bewährte sich durch Leiden. Viele wurden allein deshalb deportiert, weil sie Stunden hielten, und nach Sibirien verschleppt und von ihren Familien getrennt.
Wenn heute eine mächtige Bewegung von Evangeliumschristen, Evangeliumsmenoniten und Brüdern in Russland existiert, geht sie auf diese ersten Anfänge zurück.
Die geistliche Prägung von Zar Alexander I. durch seine Mutter Sophie Dorothee
Aber ich möchte jetzt noch etwas zurückgehen. Ich habe Ihnen von Alexander erzählt, der die Bibel sehr wichtig nahm, die Bibelgesellschaft gründete und Johannes Evangelista Gosner nach Petersburg holte. Zuvor hatte er Ignaz Lindl versetzt, der als katholischer Propst nach Odessa ging, um dort unter Katholiken zu evangelisieren. Alles ging von Alexander I. aus.
Wie kam es zu dieser geistlichen Prägung bei ihm? Wie konnte Gott ihn zu einem Werkzeug machen? Deshalb möchte ich Ihnen heute etwas von der schwäbischen Prinzessin Sophie Dorothee erzählen, die liebevoll in Württemberg „Dörte“ genannt wurde.
Als sie Zarenfrau wurde, also Gemahlin von Paul I., der zum Zaren bestimmt war, musste sie orthodox werden. Sie ließ die orthodoxe Taufe über sich ergehen. Der Geheimrat, der dabei war, bemerkte: Überzeugung werde später nachgeliefert. Er merkte, dass sie innerlich bewusst evangelisch bleiben wollte. Bei der orthodoxen Taufe erhielt sie den Namen Maria Fedorowna.
Ich spreche heute also nicht von zwei Prinzessinnen, sondern von der gleichen Person: Sophie Dorothee, wie sie ursprünglich hieß, ist zugleich Maria Fedorowna, die Mutter von Alexander. Sie war eine schwäbische Prinzessin, geboren in Treptow-Pommern, aufgewachsen in dieser schwäbischen Exklave mitten in Frankreich, Maubeliar Mömpelgard. Ihr Vater war dort als Verwalter eingesetzt und sorgte in dem kleinen Mömpelgard für ein liebevolles Familienleben.
Es gab zwar nicht viele Staatsgeschäfte zu erledigen, doch die Mutter, ebenfalls Dorothee genannt, sorgte dafür, dass man abends nicht nur spielte, sondern auch religiöse Schriften las. Hausandachten waren ganz selbstverständlich in dem kleinen Schloss von Mömpelgard. Vor allem wurde der Pfarrer Lafater aus Zürich als Seelsorger immer wieder ins Haus geholt. Die kleine Sophie Dorothee entwickelte ein enges Verhältnis zu ihm. Auch später suchte sie immer wieder seinen Rat und schrieb ihm Briefe.
Schon früh fiel der Blick Russlands auf diese kleine Sophie Dorothee. Sie muss eine liebliche Gestalt gewesen sein. Geheimagenten berichteten Kaiserin Katharina der Großen, dass sie eine künftige Zarin sein würde. Doch Katharina meinte, sie sei absolut zu jung – damals war sie zwölf Jahre alt. Fünf Jahre später war die Situation anders. Sophie Dorothee war siebzehn, und als die Kaiserin die ersten Bilder von ihr sah, sagte sie: „Ich bin leidenschaftlich begeistert von dieser bezaubernden Prinzessin.“
Katharina die Große war selbst eine deutsche Prinzessin und sprach ihre Muttersprache ohne Übersetzung. Sie meinte, Sophie Dorothee sei genau so, wie man sich eine künftige Zarin wünscht: schlank wie eine Nymphe, mit einer Gesichtsfarbe weiß wie eine Lilie und dem Inkarnat einer Rose. Sie sei von hohem Wuchs und habe doch eine erfreuliche Fülle. Im Gang zeige sie Leichtigkeit, aus ihrem Gesicht spreche milde Herzensgüte und Aufrichtigkeit. Alle seien von ihr entzückt, und wer sie nicht liebe, sei selbst im Unrecht. Man rühme ihre Schönheit und Manieren. Sie werde gewiss eine Macht über das Herz ihres Gemahls haben und diese Macht unstreitig gut gebrauchen.
Schön, gut gewachsen, gesund, klug und mit guten Manieren – das sei die richtige Frau für den verrückten Paul. Auch Katharina sorgte sich sehr, wie das gut gehen sollte. Pauls erste Gemahlin war sehr früh gestorben, ohne einen Erben zu hinterlassen. Paul selbst wollte ehrlich gesagt nicht mehr heiraten. Er war ein Soldat, der seine kleine Kompanie herumdirigierte und die Begeisterung für Soldatenspiele aus Preußen übernommen hatte. Er ahmte Friedrich den Großen nach, etwa mit dem Dreispitz, einem großen Denkmal in Pawlowsk, seinem Schloss. Dort stand er so, dass man meinte, er sei der alte Fritz.
Doch Katharina sagte: „Es wird geheiratet. Ich besorge dir eine richtige Frau, die hoffentlich auch einen Erben gebiert, falls wir den Paul fallen lassen müssen.“ Katharina die Große war eine geniale Herrscherin. Sie ließ ihren eigenen Ehemann beseitigen, als er nicht mehr taugte, und machte sich selbst zur Kaiserin. Vielleicht müsse man Paul auch einfach verschwinden lassen – in irgendeinem Schloss. Dann brauche man einen Enkel, der fähig sei, die Regierungsgeschäfte Russlands zu übernehmen.
Sophie Dorothee, alias Maria Fedorowna, sollte die Mutter dieses Erben sein. Sie gebar Paul zehn Kinder. Alexander war das erste, Konstantin das zweite, das vierte Kind war Katharina, was uns Schwaben besonders freut. Diese Katharina war die hochgeschätzte Gattin von Wilhelm I., der auf dem Roten Berg predigte. Das Katharinenstift, das Katharinenhospital und die Landesschirurkasse wurden alle in kurzer Zeit von ihr gegründet.
So ging es weiter mit Michael, Nikolaus und anderen berühmten Kindern. Paul merkte, dass er von seiner Mutter nicht geschätzt wurde. Die Mutter hatte etwas gegen ihn. Deshalb schätzte er besonders die Liebe seiner Sophie Dorothee, beziehungsweise Maria Fedorowna. Sie baute in Pawlowsk, eigentlich in der Pampa hinter Petersburg, ein wunderbares Schloss mit Seen und einer Idealvorstellung, die ein bisschen an Hohenheim erinnerte.
Dort gab es auch eine landwirtschaftliche Hochschule. Sie holte sogar Max Eid nach Pawlowsk, richtete eine Schule für Landkinder ein und eine gewisse Rettungsanstalt. Außerdem unterhielt sie eine Versuchsstation, führte neue Molkereien ein und wollte sehr viel tun – schon in der Vorarbeit für die Befreiung der Leibeigenen. Wo wirklicher Glaube ist, gibt es auch sozialdiakonisches Engagement.
Als wir das letzte Mal dort waren, haben wir in der Bücherei in Pawlowsk entdeckt, dass die Deutschen dort noch große Zerstörungen angerichtet hatten, bevor sie wieder gingen. Dort fanden sich Bände von Lafater, Erbauungsbücher und Werke von Johann Arndt, etwa „Wahres Christentum“. Eine Frau im Schloss von Pawlowsk hielt, wie unser Professor Deggerhauf immer betonte, sonntäglich Andachten, Hausandachten. Deggerhauf sagte, sie habe Stündler gehalten.
Die Hauslehrer und Hauslehrerinnen für ihre Kinder ließ sie aus Württemberg kommen. Sie sagte, man brauche einen geistlichen Input, man müsse geistlich etwas mitbekommen. Das war eine schwierige Situation, denn Katharina die Große, die fast unendlich lange lebte und nicht umzubringen war, war eine echte deutsche Fürstin. Sie hatte mit allen Männern fertiggemacht und das russische Reich bis zum Schwarzen Meer ausgedehnt. Sie plante sogar, weiter bis zur Türkei vorzustoßen.
Sie war eine geniale Fürstin, aber in Russland wirkte ihr Glaube kaum in der Ethik. Das war die Not des Landes. Deshalb gab es viel Saufen und Ehebruch – ähnlich wie heute bei uns. Wo die Bibel nicht mehr ernst genommen wird, wird auch das Leben nicht mehr geordnet. Katharina hatte ihrem Volk nicht viel Gutes vorgelegt. Aber Sophie Dorothee dachte: Wenn Jesus gesagt hat, wir sollen das Salz der Erde sein, dann möchte ich wenigstens ein kleiner Anstoß, ein kleines Ferment zum Guten sein.
Katharina die Große sagte jedoch: „Das geht nicht, dass diese fromme Bigotte, diese kleinkarierte Frau, plötzlich alles verändert.“ Dabei war die liebenswerte Prinzessin mit dem Inkarnat einer Rose nicht bigott und kleinkariert, sondern von edlem Wuchs. Doch Katharina holte eine Baronin Liefen aus dem Baltikum als Erzieherin für die Kinder, die viel zu fromm und engstirnig war. So ging es nicht.
Damals sagte man in Russland schon, dass das fundamentalistisch oder evangelikal sei – das gehe nicht mehr. Deshalb nahmen die beiden ältesten Söhne, Alexander und Konstantin, der Mutter weg und gaben sie einem schweizerischen Erzieher namens Delahaye. Er war ein liberaler Mann, der etwa sagte: Jesus sei ein Mann von Nazareth, von dem das Christentum abstamme, aber mehr wusste er nicht von Jesus.
Das war ein Schmerz im Herzen der Mutter. Nicht nur, dass die Kinder brutal von der Großmutter, ihrer Schwiegermutter, weggenommen wurden. Es war ihr auch wichtig, dass der Glaube an Jesus Christus, die Beziehung zum lebendigen Gott, in ihren Kindern wirklich Wurzeln schlägt. Nun wollte Katharina genau das Gegenteil.
In ihrer Verzweiflung wandte sich Maria Fedorowna an ihren Seelsorger Lafater. Er schrieb in einem Brief: „Summa summarum Christus oder absolute Verzweiflung.“ Man könne nicht nur ein bisschen Christentum haben, sondern müsse den lebendigen Christus haben.
Er dichtete das Lied, das wir früher im Religionsunterricht gelernt haben:
„Von dir, o Vater, nimm mein Herz,
Glück, Unglück, Freuden oder Schmerz,
ist alles dunkel um mich her,
die Seele müd und freudenleer,
bist du doch meine Zuversicht,
bist in der Nacht, o Gott, mein Licht.
Wenn niemand dich erquicken kann,
so schau deinen Heiland an,
schütt aus dein Herz vor seinem Sohn.
Denn seine Macht und Huld ist groß.“
Sein Rat war wunderbar. Wir sollten es wieder neu erlernen: Gedächtnistraining – Christus oder absolute Verzweiflung. Daran hat sich Maria Fedorowna gehalten.
Die Ermordung von Zar Paul I. und die Folgen für Alexander I.
Und dann kam die Tragödie: 1801 starb Katharina die Große. Sie wurde mit großem Pomp bestattet, und alle wussten nun, dass Paul Zar aller Russen werden musste. Paul war immer merkwürdiger geworden und immer unfähiger zum Regieren. Er war hauptsächlich seinen eigenen Hobbys nachgegangen.
Eine Offiziersgruppe wandte sich sogar an Maria Fedorowna und an den neugekrönten Zaren Alexander. Wie gesagt, Alexander war nicht gekrönt, sondern Paul war der gekrönte Zar. Nach dem Tod Katharinas wandten sie sich sozusagen an den Thronfolger und fragten: Was können wir tun, um den Vater unschädlich zu machen? Können wir ihn irgendwo einsperren, ins Ausland bringen oder in ein Kloster?
Das war die übliche Methode in Russland, wenn ein Prinz nicht taugte: Man schob ihn ab. So hatte es schon Peter der Große gemacht, der jemanden in einem Kloster hat umkommen lassen.
Paul I. aber war in großer Angst. Er merkte, dass alle gegen ihn waren. Katharina hatte nicht gewollt, dass er an die Macht kam. Die Offiziere waren gegen ihn, die Regenten ebenfalls, und wahrscheinlich auch Alexander, der nur darauf wartete, dass Paul abtrat.
Paul ließ sich den Michaelspalast bauen. Er liegt an der Neva, gar nicht weit von der Hermitage, vom Winterpalast entfernt, in einem Park. Der Palast ist eigentlich ein riesiger Bunker, ähnlich wie später die Reichskanzlei in Berlin, uneinnehmbar.
Paul I. ließ auch die Türen zu seinen privaten Gemächern verrammeln, damit niemand eindringen konnte, der ihm ans Leben gehen wollte. Er lebte in einer verrückten, aber berechtigten Angst vor Mördern.
Wahrscheinlich war das der Grund, warum man ihn 1801 entmachten wollte. Als man ihn entmachten wollte, konnte man ihn nicht einfach in einer Sänfte wegschaffen und fesseln. Er wehrte sich so lange, auch mit seinem Degen, dass nichts anderes übrig blieb, als ihm eine Schlinge um den Hals zu legen und ihn zu erdrosseln.
Dabei rief er: »Helft mir doch!« Seine Angehörigen, seine Familie und seine Frau, ebenso Alexander, hörten dies.
Professor Deger-Hauf sagte immer, man könne auch die großen sozialen...