Das Gespräch

Konrad Eißler
0:00:00
0:20:14

Jesus Christus sucht das Ge­spräch wo auch immer, wann auch immer und mit wem auch immer. Er ist es, der den Weg zu uns sucht und nicht wir sind es, die den Weg zu ihm gehen. Allen hat er etwas zu sagen, so wie jener Frau in Samarien am Jakobsbrunnen, - Predigt zum Pfingstmontag aus der Stiftskirche Stuttgart


Wir wechseln gern ein paar Worte, wenn wir einen netten Bekannten treffen auf der Straße oder im Geschäft: “Hallo! Wie geht’s altes Haus? Schon lange nicht mehr gesehen.” Doch, wir mögen den Plausch. Und wir tauschen gern ein paar Gedanken aus, wenn wir neben einem freundlichen Zeitgenossen im Wartezimmer oder in der Straßenbahn zu sitzen kommen: “Schönen guten Morgen! So, auch in der Stadt? Das Wetter könnte einfach nicht strahlender sein.” Doch, wir lieben den Smalltalk, den kleinen Schwätz. Und wir reden gern stunden­lang, wenn wir bei Freunden zu einem Glas Trollinger eingeladen sind. Um Urlaub oder Sport oder Politik kreisen die Themen. Doch, wir lieben die Unterhaltung. Nur jedesmal, wenn etwas Wesentliches angesprochen wird, wenn etwas Entscheidendes zur Sprache kommt, wenn die plätschernde Unterhaltung zum ernsten Gespräch zu werden droht, dann, ja dann machen wir es gerne wie jener Pudel von nebenan. Wenn der an einem Zaun vorbeigeht und dahinter einen Schäfer­hund wittert, wechselt er schnell auf die andere Straßenseite, gleichsam von der “Gesprächsseite” auf die “Unterhaltungsseite”. Mit unserer Witterung weichen wir gerne dem Unangenehmen aus und wechseln zu anderen Themen. Plaudereien, herzlich gerne, aber Ge­spräche, bitte nein!

Liebe Freunde, Jesus sucht das Gespräch. Ein Plausch zwischen Tür und Angel mag er nicht. Jesus ist kein Schwä­tzer. Einen Smalltalk über den Tisch hinweg liegt ihm nicht. Jesus ist kein Plauderer. Eine Unterhaltung beim Glas Wein will er nicht. Jesus ist kein Entertainer. Jesus ist der Mund Gottes, der We­sentliches und Entscheidendes zu sagen hat, deshalb sucht er nur das Gespräch. Er sucht es am unmöglichen Ort. Wir meinen, ein Chambre Séparée sei dafür notwendig, möglichst mit doppelten Türen und schallschluckenden Wänden. Jesus aber sprach am Jakobsbrunnen, wo sich Kreti und Plethi trafen und wo der Dorftratsch und Dorfbatsch jeden Fernseher vollständig ersetzte. Er suchte es zu unmöglicher Zeit. Wir meinen, eine Abendstunde sei dafür notwendig, möglichst mit open end bis in die tiefe Nacht hinein. Jesus aber sprach um 12 Uhr mittags, wo die Sonne am höchsten stand und die Hitze unerträglich wurde. Er suchte es mit einer unmöglichen Per­son. Wir meinen, eine seriöse Persönlichkeit sei dafür notwendig, möglichst mit Vorkenntnissen in Bibelkunde und Kirchengeschichte. Jesus aber sprach mit einem anrüchigen Flittchen, das ganz be­stimmt keinen Konfirmandenunterricht besucht hat. Sage niemand: Das ist nicht der richtige Ort, und das ist nicht die richtige Stunde, und das ist nicht die rechte Person. Jesus Christus sucht das Ge­spräch wo auch immer, wann auch immer und mit wem auch immer. Er ist es, der den Weg zu uns sucht und nicht wir sind es, die den Weg zu ihm gehen. Er ist es, der uns am Weg findet und nicht wir sind es, die ihn am Weg ausfindig machen. Er ist es, der die Tür zum Glauben aufbricht und nicht wir sind es, die ihm die Tür öff­nen. Keinen lässt er allein stehen. Jeden will er in ein Gespräch verwickeln. Allen hat er etwas zu sagen, so wie jener Frau in Samarien, die dort an der uralten Wasserstelle mit ihrem Krug aufgetaucht war. Natürlich hatte sie einen Namen, aber weil er im Text nicht festgehalten wurde und sie so zu einer namenlosen Samariterin geworden ist, möchte ich sie gerne einmal Frau Durst nennen, Frau Durst von Sychar. Mit ihr wird jenes denkwürdige und bedenkenswerte Gespräch geführt, in das wir uns jetzt einblenden. Das Erste, was wir dabei mitbekommen, ist das:

1. Jesus sagt Frau Durst die Wahrheit

Sie schaut hinunter zu dem Wasser. “Du Herr lässest Wasser in den Tiefen quellen, das alle Ge­schöpfe trinken und ihren Durst löschen”, das weiß auch diese Samariterin. Wasserlos heißt trostlos. Ohne dieses Element ist Leben überhaupt nicht möglich. H2O ist das vornehmste und unent­behrlichste Lebensmittel der Erde. Aber für sie ist das Wasser noch viel mehr. In ihrem Denken ist Wasser Symbol für Liebe. Die Frau hat Durst nach Liebe, so wie wir ihn alle haben. Ohne diese Kraft können wir nicht gedeihen. Auch wenn wir keine Verliebte mehr sind, Liebende sind wir allemal, ein ganzes Leben lang. Kinder, die die Mutterliebe entbehren müssen, leiden an Hospitalismus. Heranwachsende, die zuhause kein warmes Nest haben, holen sich ihre Streicheleinheiten in der Disco. Partner, die vor dem Scherb­enhaufen ihrer Ehe stehen, gehen mit ihren seelischen Tiefs zum Psychiater. Alte, mutterseelenallein im Heim, müssen mit ihren Liebesdefiziten alleine fertig werden. Ohne herzliche Liebe gibt es nur Tod. Wo nicht mehr geliebt wird, greift das Sterben um sich. Wir brauchen die Liebe, deshalb greift Frau Durst danach. Einen Lieb­haber nach dem andern lachte sie sich an. Ein Freund nach dem andern wurde geangelt. Im Mann und Wechsel suchte sie ihren Durst zu stillen. Aber der Brand blieb, Jesus sagt ihr die Wahrheit auf den Kopf zu: “Fünf Männer hast du gehabt und den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.” Vor ihm ist nichts zu vertuschen. Vor ihm ist auch nichts zu verheimlichen. Er sieht und sagt die Wahrheit über unser Leben. “Ich bin schon recht”, so sagt der Geist der Lüge. “Mir kann niemand etwas nachsagen”, so sagt der Geist des Irrtums. “ Jeder hat einen guten Kern”, so sagt der Geist der Verführung. Der Geist der Wahrheit aber sagt: “Gott sei mir Sünder gnädig.” Deshalb brauchen wir mehr als einen Hexenmeister, der sein trübes Süppchen kocht, mehr als einen Zauberkünstler, der seine faulen Tricks zum Besten gibt, mehr als einen Guru, der uns nur Mantrasilben lallen lässt. Für unseren Lebens- und Liebesdurst brauchen wir Jesus. Er wurde an Himmelfahrt nicht pensioniert und auf einen himmlischen Ruhesitz abkommandiert, sondern von Gott ganz neu aktiviert. Im Geist und in der Wahrheit kam er an Pfingsten zu uns. Sicher lässt er sich in kein Gefäß packen. Weder mit der Schale der Vernunft noch mit der Kelle des Glaubens ist er zu packen. Aber im Wort ist er da, wenn er sagt: “Wer von diesem Wort trinkt, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten.” Es muss keiner verdursten, auch wenn er sich in einer erbarmungslosen Wüste befindet. Es muss keiner Durst leiden, auch wenn er in diesem Augenblick mit einem entsetzlichen Brand zu kämpfen hat. Liebesdurst ist seit Pfingsten stillbar. Das ist die Wahrheit und Jesus sagt Frau Durst die Wahrheit. Und das andere, was wir beim Gespräch am Jakobsbrunnen mit­hören können, ist das:

2. Jesus bringt Frau Durst die Wahrheit

Sie schaut hinüber zu dem Berg. “Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?”, das weiß auch diese Samariterin. Berglos heißt schutzlos. Ohne Bergfeste und Burgfried gab es für die Bewohner keine Sicherheit. Erst hinter den Bergen waren sie geborgen. Aber für sie ist der Berg noch viel mehr. In ihrem Denken ist Berg Symbol für Religion. Auf diesem Berg Garizim wurde angebetet. Auf diesem heiligen Berg Garizim wurde Gott geehrt. Auf diesem Reichsheiligtum Garizim, das einst in Konkurrenz zum Jerusalemer Tempel erstellt worden ist, wurde Gottesdienst gefeiert. Die Frau hat also Durst nach Religion, so wie wir ihn alle kennen. Ohne Sehnsucht lebt kein Erdenbürger. Etwas Festes muss der Mensch haben. Auch wenn der Franzose Voltaire spottete, die Religion sei in dem Augenblick entstanden, als ein Betrüger mit einem Dummkopf zusammentraf, so behielt doch der Russ Berdjajew recht, der bemerkte: “Der Mensch ist unheilbar religiös.” Er muss auf etwas stehen. Er muss an etwas glauben. Er muss für etwas opfern. Wenn es nicht Golgatha ist, dann ist eben Garizim. Und wen es nicht Garizim ist, dann ist es eben Mekka. Und wenn es nicht Mekka ist, dann ist es eben Mahareschi, Baghwan, Wassermann oder nur das Haus, das Auto, das Geld. Einen heiligen Berg im Hintergrund hat jeder, wo er je nach Gusto dem Schönen oder dem Guten oder dem Edlen oder dem Verrückten räuchert. Aber Jesus zeigt auf den Berg. Gott ist nicht auf dem Garizim gebannt. Er zeigt auf den Tempel: Gott ist nicht in Jerusalem eingesperrt. Er zeigt auf unsere heiligen Kühe: Gott ist nicht irgendwo festgebunden. Gott ist Geist und damit unverfügbar. Aus allen lokalen Festlegungen ist er ausgebrochen und will nur noch personal seinen Leuten begegnen. Im Geist und in der Wahrheit, das heißt in der Person Jesu Christi will er ange­betet sein.

Liebe Freunde, so müssen wir nicht mehr auf den Garizim klettern, nicht mehr zu einem Tempelberg reisen, nicht mehr an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Person aufsuchen, um unseren religiösen Durst zu stillen, Gott ist in Jesus Christus da. Der schwer beinamputierte und triste Pfarrer Holländer in Alfred An­derschs Buch “Sansibar oder der letzte Grund” sagte: “Irgendein verrückter Eigensinn lässt mich noch an jenen alten Herrn glauben, der sich in Honolulu oder auf dem Orion befindet. Ich glaube an die Ferne Gottes.” Aber Pfarrer Holländer hat den 3. Glaubensartikel vergessen oder nie gelernt. Ich glaube an den Heiligen Geist, ich glaube an die Nähe Gottes, ich glaube an seine Gegenwart. Am Brun­nen, wo die Mittagshitze immer unerträglicher wird: “Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind.” Auf der Straße, wo andere einen Bogen um mich schlagen: “Es ist sein Wort ganz nahe bei dir.” Im Haus, wo Allernächste einem zuleide leben: “Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen.” Im Herzen, wo heillose Stürme und der Verzweiflung und des Zweifels toben: “Mein Heil ist nahe, dass es komme.” Das ist die Wahrheit und Jesus bringt Frau Durst die Wahrheit. Und noch eins, was uns bei diesem Gespräch zu Ohren kommt:

3. Jesus ist für Frau Durst die Wahrheit

Sie schaut hinauf zu dem Himmel. “Die Himmel erzählen die Ehre Gottes”, das weiß auch die Samariterin. Himmellos heißt obdachlos, Menschen brauchen ein Dach überm Kopf. Wehe, wenn Löcher, Ozonlöcher, einen Dachschaden ver­ursachen und das Wohnen unmöglich machen. Aber für sie ist der Himmel noch viel mehr. In ihrem Denken ist Himmel Symbol für Hof­fnung. Alles Gute kommt von oben. Auf den Wolken des Himmels wird des Menschen Sohn herabfahren. Der Tag des Messias kommt. Dann wird dieser Herrscher in Galauniform seine Truppen aufmarschieren lassen. Dann wird dieses Staatsoberhaupt mit Glanz und Gloria seine Machtfülle spielen lassen. Dann wird dieser König von Gottes Gnaden regieren. Die Frau hat also Durst nach Hoffnung, so wie wir ihn alle kennen. Hoffnung ist der Sauerstoff des Lebens. Ein­mal muss er den Stümpern, die ihm ins Handwerk pfuschen, den Meister zeigen. Einmal muss er den Schwätzern, die nur mit großen Worten tönen, das Maul gestopft werden. Einmal muss er in dieser Welt der Kraftprotze seine Muskeln spielen lassen. “Ich weiß, dass dieser Messias kommt”, sagt die Frau. Und Jesus sagt: “Ich bin’s, der mit dir redete.” Kein Herrscher in Galauniform, sondern nur ein Israelit in Wanderkluft, aber: Ich bin’s. Kein Staatsoberhaupt mit Glanz und Gloria, sondern nur ein Hirte mit Stecken und Stab, aber: Ich bin’s. Kein König von Gottes Gnaden, sondern nur ein verspotteter Juden­könig, aber: “Ich bin’s.” Jesus ist der Messias. Jesus ist der Er­wartete, Jesus ist die Hoffnung in Person. Er will nicht zuerst die Welt verändern, sondern die Menschen. Ihnen will er neue Hoffnung geben. Wenn also jemand keine Hoffnung mehr hat für diese Welt und fragt, wer denn dieses Chaos noch in Ordnung bringen könne, dann sagt er: “Ich bin’s”. Und wenn jemand keine Hoffnung mehr hat für die Ehe und fragt, wenn denn diese Hölle verändern könne, dann sagt er: “Ich bin’s”. Und wenn jemand keine Hoffnung mehr hat für diesen Sohn oder für diese Tochter und fragt, wer denn diese Haltlosen noch halten könne, dann sagt er: “Ich bin’s.” Und wenn jemand keine Hoffnung mehr hat für sich selbst und fragt, wer denn ihm letztlich helfen könne, dann sagt er: “Ich bin’s, der mit dir redet. Ich stärke dich, ich helfe dir auch.” Das ist die Wahrheit und Jesus ist für Frau Durst die Wahrheit. Kein Wunder, dass darauf­hin diese Frau alles liegen und stehen lässt. Wie der Wind fliegt sie über den Brunnenweg. Gar nicht schrill genug kann sie nach Sychar zurückkehren. Im Torbogen stößt sie die Männer an, die gerade einen Kuhhandel abschließen: Kommt, seht einen Menschen! Auf dem Bazar ruft sie die Frauen an, die gerade ihre Köpfe zusammenstecken: “Kommt, seht einen Menschen!” Im Hinterhof lädt sie Kinder ein, die gerade mit Steinen nach den Hühnern werfen: “Kommt, sehet einen Menschen!” Überall muss dies laut werden: “Jesus ist kommen, die Quelle der Gnaden, komme, wen dürstet, und trinke wer will.” Hören wir es auch? Durst nach Liebe, nach Religion, nach Hoffnung ist stillbar durch Jesus. Und das ist die Wahrheit.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]