Einleitung und Kontext des Textes
Wir stehen bei Richter 16. In den letzten Tagen habe ich mit einigen meiner Freunde eine kleine Diskussion geführt. Dabei sagte einer: „Ich stimme dir meistens zu und auch deiner Auslegung, aber letzten Dienstag war ich nicht einverstanden. Du hast das Gebet Simsons besprochen, hast aber den entscheidenden Punkt ausgelassen. Nämlich, dass Simson sagt: ‚Herr, hilf mir, dass ich mich räche.‘“
Wir sind alle so edle Leute, dass wir an so einem Gebet natürlich Anstoß nehmen. Daraufhin habe ich gesagt: „Beruhige dich doch, wir haben ja noch Zeit, das wird heute Abend besprochen.“
Ich möchte Sie aber bitten, schlagen Sie den Text auf. Simson – es gibt immer Leute, die nur einmal da sind – Simson ist der erwählte Held Gottes, den Gott erwählt hat, um Israel aus der Hand der Philister zu befreien, der gottlosen Mächte.
Doch Simson hat seine Erwählung gering geachtet. Deshalb hat Gott ihn in die Hände der Feinde gegeben, in die Hände der Philister. Diese haben ihm die Augen ausgestochen, ihn ins Gefängnis geworfen und ihm die Haare abgeschoren. Das war das Zeichen seiner Erwählung.
Denn die Israeliten, die Naziräer, die Erwählten Gottes, durften kein Schermesser auf ihrem Haupt haben. An ihnen konnten Friseure nicht viel verdienen.
Simsons Gefangenschaft und das Gebet um Rache
Im Gefängnis wachsen ihm die Haare langsam wieder nach. Wahrscheinlich kommt er dadurch zur Umkehr, zur Buße. Dann findet das große Götzenfest der Philister statt, bei dem sie sich im Tempel ihres Gottes Dagon versammeln und ihn preisen.
In Vers 24 heißt es: Als das Volk ihn sah, lobten sie ihren Gott und sagten: „Unser Gott hat uns unseren Feind in unsere Hände gegeben, der unser Land verwüstet und viele von uns getötet hat.“
Simson wird nun von einem Knaben hereingeführt. Dieser soll auf der Harfe spielen, während der blinde und geschlagene Feind dem Triumphgeschrei zu Ehren Dagons lauscht.
Man stellt Simson zwischen zwei Säulen. In Vers 28 heißt es: Simson aber rief den Herrn an und sprach: „Herr, gedenke meiner und stärke mich doch, Gott, diesmal, damit ich mich an meinen Feinden, den Philistern, rächen kann.“
Dann fasst er die beiden Säulen, beugt sich und bringt sie zum Einsturz. Das ganze Haus stürzt ein. Vers 30 beschreibt: „Meine Seele sterbe mit den Philistern!“ Er neigte sich kräftig, und das Haus fiel auf die Fürsten und auf das ganze Volk, das darin war. Dabei starben mehr Menschen als bei seinem Leben.
Seine Brüder und das ganze Haus seines Vaters kamen herab, hoben ihn auf, trugen ihn hinaus und begruben ihn im Grab seines Vaters Manoah.
Die Herausforderung des Rachegebets
Meine Freunde, diese Geschichte wirft uns die ganze Zeit viele Fragen auf. Eine Frage taucht besonders auf, wie ich eben sagte, beim Gebet in Vers 28: „Stärke mich, mein Gott, dass ich mich für meine beiden Augen auf einmal an den Philister räche.“
Das ist die erste Frage, die in diesem Text aufkommt. Wird hier wirklich gebetet: „Herr, ich will mich rächen, hilf mir dabei!“? In der Bibel gibt es ein Wort: „Die Rache ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten.“
Der Apostel Petrus ermahnt die Christen, die schrecklich verfolgt werden und Ungerechtigkeit ertragen müssen, die Sonne nicht über ihren Zorn untergehen zu lassen. Sie sollen daran denken, dass der Herr Vergelter ist und rächen will. Deshalb sollen wir uns nicht selbst rächen. Rache ist eine unchristliche Angelegenheit.
Liebe Freunde, wenn wir an Rache denken, denken wir meistens an wilde Gegenden wie Kurdistan und Dolch- oder Blutrache, nicht wahr? Aber nein, liebe Freunde, Rache ist bei uns ganz alltäglich.
Zum Beispiel Frau Meier im ersten Stock. Diese Woche hatte sie die Kellertreppe zu fegen, hat es aber nicht getan. Da denke ich nicht daran, nächste Woche den Vorflur zu fegen. Wenn sie das nicht machen will, dann bleibt es eben so. Das ist für uns gerecht, finden Sie nicht?
Heute habe ich in einer Zeitung einen netten Artikel gelesen, wie man mit Leuten umgehen soll, die so frech auf der Straße sind und sich einfach auf unsere Füße stellen. Das war ein netter Artikel, nicht wahr? Da können wir ja nicht einfach still hingehen und das so hinnehmen. Man müsste dann vielleicht ein paar Minuten später einfach mal auf ihre Füße treten und sagen: „Entschuldigen Sie, ich konnte nicht anders.“ Verstehen Sie?
Liebe Freunde, wir haben es alle mit solchen kleinen Rachedingen zu tun, nicht wahr? Dauernd! Ich kann mich im Büro an der amtlichen Stelle rächen, nicht wahr? Wenn ich sage: „Ich brauche schnell das und das“, dann sagen sie: „Der Herr wird warten lernen.“ Und dann kann ich 14 Tage auf die Sache warten.
So, meine Freunde, das ganze Leben besteht ja aus kleinen Racheaktionen. Überlegen Sie mal, wo Sie sich in der letzten Woche gerächt haben, nicht wahr?
Wenn Sie das überlegt haben, dann stehen Sie noch einmal auf und fragen sich: „Wie kann Simson das tun?“ Das liegt uns sehr im Blut. Aber es ist richtig: Rache ist unchristlich.
Und wir sind schnell dabei zu sagen: „Lieber Simson, da kommt es nun doch heraus.“ Das sind Geschichten, die ich höre, aus dem Alten Testament, wo ein strenger Gott herrscht. So hat es doch der große Nazi-Weltanschauungsdirigent Rosenberg gesagt: Im Alten Testament gibt es einen Rachegott, das ist alles nur Rache. Das Neue Testament sei ganz anders.
Und hier haben wir so eine Stelle. Trotzdem, obwohl wir selbst kleine Racheengel sind, sind wir schnell bereit, Simson zu verurteilen.
Simsons Gebet wird erhört und seine Stellung als Glaubensheld
Aber, meine Freunde, jetzt bitte ich Sie, Folgendes zu bedenken. Erstens: Der Herr hat das Gebet des Simson erhört. Simson bat: „Stärke mich noch einmal, damit ich mich rächen kann.“ Das war ein einfaches Gebet, und der Herr sagte: „Ich erhöre dich.“ Daraufhin gab es einen großen Sieg über die Feinde.
Das sollte uns nachdenklich machen, nicht wahr? Der Herr hat nicht gesagt: „Pfui, Simson, so beten wir nicht, ich höre nicht zu, meine Ohren sind verstockt.“ Nein, der Herr hat ihn erhört. Er nahm sein Gebet an und gab Simson die Chance, sich zu rächen.
Zweitens sollten wir bedenken, dass Simson im Hebräerbrief im elften Kapitel unter den großen Glaubenshelden aufgeführt wird. Ich hoffe, das wissen Sie. Wenn nicht, dann ist das kein Grund zur Scham, aber verraten Sie es bitte nicht weiter.
Im Hebräerbrief Kapitel 11 werden alle großen Glaubenshelden des Alten Bundes genannt: Durch den Glauben zog Mose aus, durch den Glauben tat Abraham große Dinge, durch den Glauben segnete Jakob seine Söhne. Dort wird eine ganze Galerie von Glaubenshelden beschrieben. Am Ende steht auch Simson unter diesen Glaubenshelden.
Wenn Simson ein ungeistlicher, wüster Kerl gewesen wäre, wie er uns manchmal erscheint – mit all seinen komplizierten Frauengeschichten und seinem letzten Rachegebet – dann stünde er wahrscheinlich nicht unter den Glaubenshelden.
Darum sollten wir vorsichtig sein, wenn wir solche Gottesmänner schnell verurteilen. Ich erinnere mich an Religionsstände, an denen oft gesagt wird: „Wir müssen deutlich sehen, dass diese Männer große Schwächen hatten.“ Natürlich hatten sie Schwächen, aber seien Sie erst einmal vorsichtig mit den großen Glaubensvorbildern. Wir kleinen Menschen sollten nicht vorschnell über sie urteilen, verstehen Sie?
Gott erhört sein Gebet, und er zählt ihn zu den Glaubenden. Das muss vorausgeschickt werden, wenn wir über diese etwas zweifelhaften Gebete sprechen.
Fleischliches und Geistliches im Gebet des Simson
Und dazu möchte ich nun einige Dinge sagen. Erstens wird hier deutlich, dass auch bei einem Glaubenshelden wie Simson im Gedränge, selbst beim Beten, allerlei Fleischliches mitunterlaufen kann.
Die Bibel unterscheidet zwischen Geistlichem und Fleischlichem. Mit „fleischlich“ bezeichnet sie alles, was auf dem Beet des Natürlichen wächst. Das ist vor Gott ein Gräuel. Wenn alles ganz richtig wäre, würde der Geist Gottes uns vollkommen durchdringen. Aber solange wir im Fleisch leben, gibt es immer einen Kampf zwischen Natur und Heiligem Geist, zwischen Fleisch und Spiritus Sanctus. Es ist immer ein Kampf.
Liebe Freunde, weil es so ist, wird bis zu unserem Tod wohl alles, was wir tun, immer wieder beschmutzt sein – auch von Fleischlichem. Sehen Sie, wir tun vielleicht eine gute Tat, und im nächsten Augenblick denken wir: „Wir sind doch feine Kerle.“ Schon neigt sich die Waage wieder herunter, und die Tat ist befleckt durch das Fleisch. Das geht uns allen so, nicht wahr?
Oder wir lesen in der Bibel eine schöne Erkenntnis über eine herrliche Sache, und schon bilden wir uns ein, besonders schlau oder besonders wichtig zu sein. Verstehen Sie, es ist immer so, dass sich auch bei unseren besten Dingen, solange wir hier auf Erden sind, Fleischliches untermischt. Das wird hier ganz deutlich, und die Bibel sagt es ganz klar.
Simson betet im Glauben: „Herr, gib mir Kraft, stärke mich noch einmal.“ Wir haben letztes Mal den Anfang seines Gebets besprochen und gesehen, dass es ein wundervolles Gebet ist. Aber nun rutscht ihm hier etwas sehr Natürliches mit durch.
Haben wir das Recht, Simson zu verurteilen? Glauben Sie nicht, dass unsere Gebete auch genauso sind? Dass da immer wieder Fleischliches mituntermischt ist? Wenn wir überhaupt so beten könnten, dass es ein reines, heiliges Gebet wäre – Herr, Herr –, erinnern Sie sich? Ich wünsche mir, wir könnten so beten, dass wir die Tür im Himmel einschlagen. Ja, das wäre doch etwas!
Ich erinnere mich, dass der liebe alte Bruder Christlieb uns einmal erzählte – die unter uns, die noch von der ganz alten Generation sind, so aus der Urzeit – wie ich. Sie haben noch die Tersdegensru-Konferenz vor 1939 erlebt. Diese Konferenz wurde vor 1939 verboten. Dort gehörte es zum Team, das auf dem Podium saß, so wie heute Thechtmayr und andere Leute sitzen. Dort saß der alte Pfarrer Christlieb, Pfarrer in Heidberg, Postwildberger Hütte, im Ohrbergischen Land, hinter dem Mond und hinter einem Bretterzaun. Dort war er Pfarrer.
Er hat mir einmal gesagt: „Gott hat mich eben dort hingeführt und mich auch wieder weggeführt, und das war richtig so.“ In der Einsamkeit hat er Kraft getankt. Dann kam er herunter von seinen Bergen und hielt am Morgen der Achtersteckens-Ruhkonferenz eine Ansprache. Die Konferenz war angemessen und gut besucht.
Er erzählte, dass er einmal auf einer Fachkonferenz sehr wütend war, weil dort gottloses Zeug gesprochen wurde – theologischer Tinnef. Da sagte Bruder Busch: „Weißt du, da brauchen wir nicht zu diskutieren. Mir ist es auch einmal so gegangen. Ich war bei einer Konferenz, und dort wurde liberales Zeug geredet. Das tat mir richtig weh, so Bibelkritikskram.“
Bruder Busch berichtete weiter: „Ich saß innerlich schreiend da und betete: ‚Herr, stopfe ihm das Maul!‘“ Diesen alten lieben Bruder mit seinem sanften Bart sehe ich noch vor mir. Doch auf einmal wurde er ganz grimmig und rief: „Herr, stopfe ihm das Maul!“ Und was meinst du? Gott hat es getan, hat sein Gebet erhört.
Der Mann konnte nicht weiterreden, verhedderte sich und setzte sich schließlich. Dann sagte Bruder Busch noch einige Worte: Natürlich hätte Gott wahrscheinlich an dieser Art des Gebets nicht viel Freude gehabt. Er hätte es auch freundlicher sagen können: „Herr, drück ihm den Mund zu.“
Verstehen Sie, bei Simson wird deutlich, dass selbst bei einem großen, gesegneten Gottesmann allerlei Fleischliches mitunterläuft. Gott sieht das nicht an; er hört das Gebet von Simson.
Liebe Leute, es ist besser, wir beten – auch wenn ein dummes Gebet mitunterläuft, wie bei Simson – als gar nicht oder elend zu beten. Finden Sie nicht? Das ist das Erste, was gesagt werden muss. Ich gebe also zu: Es ist eine fleischige Sache. Aber es ist Gebet, und der Herr hört sein Gebet an.
Alternative Übersetzung und geistlicher Kampf im Gebet
Ich muss zu diesem Punkt noch etwas hinzufügen. Es gibt ja ganz wundervolle Ausleger des Alten Testaments, nämlich die jüdischen Rabbinen. Sie forschen im Alten Testament auf eine ganz andere Weise als wir, denn sie haben das Neue Testament nicht.
Ich kann nur sagen, was ich dazu zusammengelesen habe: Die Rabbinen sagen, man kann ein bestimmtes Wort aus dem Hebräischen auch anders übersetzen. Das wäre dann richtiger. Wenn man zum Beispiel einmal hineinsieht, da übersetzt Luther: „Herr, stärke mich noch diesmal, dass ich für meine beiden Augen mich auf einmal räche an den Philistern.“
Man kann das nach Hebräisch aber eigentlich auch so übersetzen: „Stärke mich diesmal, dass ich mich – ich sage es etwas ausführlicher – wenigstens für eins meiner beiden Augen räche an den Philistern.“ Und an dieser Auslegung haben die Rabbinen festgehalten. Wie Sie wissen, ist Hebräisch eine ganz einfache, primitive Sprache. Solche Sätze kann man also tatsächlich so übersetzen: „Herr, hilf mir, dass ich mich für eins meiner beiden Augen rächen kann.“
Dahinter steht die Vorstellung, dass Simson in Busse und Demut steht. Er sagt: „Ich habe das Gericht verdient, nicht? Über ein Auge lass mir abbrechen, das andere bleibt. Dann ist es noch deine Sache und reines Gericht, das habe ich verdient.“ Aber über das andere Auge bittet er: „Hilf mir, lass mich wenigstens abrechnen mit ihnen.“
Und dann steht da: „Ist es nicht besser?“ – Verstehen Sie, „ist es nicht besser?“ Aber man spürt dahinter den Kampf des Simson. Er möchte geistlich sein, wie unter dem Gericht Gottes, das er im Gefängnis erlebt hat. So ringt seine Natur in dieser Situation.
Das wollte ich nur am Rande sagen. Das zweite, was ich hier ansprechen möchte, ist Folgendes: Auch bei den Besten läuft viel Fleischliches mit im Gebet. Ich ertappe mich oft dabei. Ja, liebe Freunde, wie viel bete ich eigentlich für meine persönlichen Dinge und wie wenig für den Sieg des Reiches Gottes?
Ich habe euch mal gefragt, wie ihr betet. Da habe ich so gebetet: Herr, schenke auch im Gottesdienst, dass es richtig freut und aufgenommen wird. Da gab es Angst davor. Und dann musste ich plötzlich innehalten und mich fragen: Betest du eigentlich darum, dass am Ende niemand außer Jesus gesehen wird, dass er geehrt wird? Oder betest du darum, dass es dir gelingt?
Verstehen Sie den Unterschied? Es geht nicht darum, dass es dir gelingt. Und dann spüre ich, dass auch der geringste Gramm davon, wenn ich bete, dass mir eine Predigt gelingt, schon falsch ist. Man dürfte bei seiner Predigt nur bitten: „Ergehe, dass du geehrt wirst.“
Und wenn ich hundertmal scheitere und alle mich auslachen, und du wirst geehrt – und das übertrage ich auf mein eigenes Leben – dann geht viel Fleischliches in das Gebet mit hinein.
Simsons Rache als Kampf um die Ehre Gottes
Und dann muss ich noch etwas Zweites ansprechen. Ich habe mich lange mit diesem Rachegebet Simsons beschäftigt und mir darüber den Kopf zerbrochen. Jetzt nehmen Sie mir das mal ab: Ich könnte mir vorstellen, dass für Simson seine Niederlage – dass er im Gefängnis geblendet saß – eben doch auch eine Niederlage seines Herrn und Heiligen war. Und dass seine Rache eine Rache des Herrn und ein Sieg des Herrn ist.
Ich muss das erklären. Sehen Sie, folgen Sie mir, oder rede ich zu theologisch? Im Neuen Testament wird uns ganz deutlich gesagt, dass der Herr und seine Leute fest zusammengehören. Als Saul die Gemeinde verfolgte, die Jesus nachfolgte, sagte Jesus zu ihm: „Was verfolgst du mich?“ Denn Christen zu töten, heißt den Herrn zu töten. Verstehen Sie? Die Bibel sagt, dass wir der Leib Christi sind, und wer an ihn glaubt, gehört zu ihm.
Wir können gar nicht ernst genug nehmen, wie die Bibel den Herrn und seine gläubige Gemeinde als einen Leib beschreibt. Sie gehören unauflöslich zusammen. Der Herr sagt im Alten Testament: „Wer euch antastet, meine Gemeinde, der tastet sein Augapfel an.“ Denn damit wird er selbst gekränkt. „Ihr sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein.“ Herr und sein Volk gehören zusammen.
Nun ist es so, dass Simson, der wegen seiner Sünde im Gefängnis sitzt, gedemütigt und geblendet ist. Aber, Herr, es ist doch auch deine Niederlage. Und wenn du es schenkst, dass dein Knecht noch einmal einen Sieg erringt, dann ist das dein Sieg. „Gib, dass ich mich rächen kann!“ Dahinter kann stehen – ich weiß es nicht genau – ein Ringen um die Ehre Gottes. Er fühlt sich schuldig, weil die Ehre seines Herrn in den Staub getreten wurde. „Herr, gib mir Rache! Herr, gib, dass dein Name noch einmal groß vor den Feinden dasteht. Dass sich das Blatt wendet, nicht ein Volk am Boden liegt, sondern ein Volk herrlich ist.“
Ich bin überzeugt, dass das dahintersteht. Sie verstehen mich? Unser Begriff „Herr, gib mir Rache“ klingt zunächst abscheulich. Aber der Herr hört dieses Gebet, und Simson gilt als Glaubensheld. Ich versuche, das zu verstehen. Und dann antworte ich: Erstens, das ganze Gebet ist richtig. Es ist zwar mit Unreinem vermischt, das ist schlimm, aber es ist so – wir sind im Fleisch.
Zweitens: Vielleicht ist es gar nicht so zu verstehen, wie wir es hören – „Ich will mich rächen!“ –, sondern es ist ein Kampf um die Ehre seines Herrn, die durch seine Schuld am Boden liegt. Habe ich mich deutlich ausgedrückt? Ja.
Die Frage nach Selbstmord oder Märtyrertod
Nun muss ich einen Schritt weitergehen. Im Übrigen bleiben natürlich viele Fragen offen – Fragen über Fragen.
Eine weitere Frage, die mich sehr beschäftigt, habe ich neulich schon kurz angeschnitten: War es Selbstmord oder war er ein Märtyrer? Als Simson die Säulen fasste und rief: „Meine Seele sterbe mit den Philistern!“, neigte er sich, und das ganze Haus stürzte zusammen. Die Philisterfürsten, das ganze Volk und Simson wurden erschlagen.
Diese Szene hat die Bibel schon immer innerlich bewegt. Das ist etwas Wunderbares. Unter den Auslegern der Bibel wird ernsthaft darüber diskutiert: War das Selbstmord oder ein Akt des Märtyrertums?
Man könnte sagen: Was interessiert mich diese Frage? Doch meine Freunde, diese Frage kann für uns heute sehr aktuell sein. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Ich hatte einen Studienfreund namens Paul Schneider. Wir verbrachten in Tübingen herrliche Tage miteinander. Er war ein wunderbarer Mensch, von dem ich schon einmal gesprochen habe.
Später wurde er Pfarrer in Dickenschied, und wir gehörten beide der Bekennenden Kirche an. Kurz bevor er für immer aus unserem Sichtfeld verschwand, besuchte er mich noch einmal. Es war schön, wir verstanden uns prächtig.
Wir standen vor einer schwierigen Frage. Paul Schneider bekam von einem kleinen Ortsgruppenleiter eine Ausweisung aus seiner Gemeinde. Zuerst ging er weg, doch dann überlegte er: Darf ich das? Ich war überzeugt, dass es Gottes Weg für mich ist, hier Pfarrer zu sein. Darf ich mir von einer menschlichen Instanz diesen Platz verbieten lassen?
Er dachte in aller Stille darüber nach und besprach es mit Brüdern. Diese warnten ihn: „Geh nicht zurück, das ist Selbstmord. Du wirst sofort verhaftet, ins KZ gebracht und kommst nicht zurück. Du kannst dir genauso gut direkt eine Kugel in den Kopf schießen.“
Meine Freunde, wenn er zurückgegangen wäre, war das Selbstmord oder Gehorsam gegen den Herrn? Hier haben Sie die Simson-Frage, verstehen Sie?
Paul Schneider hatte eine Familie, eine nette Frau und Kinder. Er wusste genau, dass wenn er zurückging, das sein Ende bedeutete. Die Gemeinde war ihm mit allen Drohungen verboten worden. Er sagte: Entweder habe ich gelogen, als ich sagte, Gott habe mich in dieses Amt berufen, oder ich bin jetzt ein Verräter.
Dann ging er zurück. An einem Sonntagmorgen stand er wieder auf der Kanzel, predigte den Gottesdienst. Doch mittags wurde er verhaftet, kam ins Konzentrationslager und starb dort elend. Die Beerdigung wurde zwar erlaubt, aber der Sarg versiegelt. SS-Leute begleiteten die Trauerfeier, damit niemand sehen konnte, wie zugerichtet er war.
Verstehen Sie, es gab Leute, die sagten: „Lieber Paul Schneider, das ist Selbstmord, zurückzugehen.“ Doch er hat es mit Gott ausgemacht: „Das ist mein Ruf.“
Ist Ihnen klar, das ist eine Geschichte aus unserer Zeit.
Simson hatte von Jugend an den Ruf, Israel von den Philistern zu befreien. Hier fasst er die Elite des Philistervolkes – die fünf Fürsten – und alle anderen. Das ist ein Einbruch ins Reich der Finsternis. Wenn er sieht, dass sein Leben dabei zugrunde geht, kann er das nicht verhindern. Aber es geht um Gehorsam gegenüber dem Herrn, der ihn in diesen Kampf gestellt hat.
Sein Gebet fügt sich in die Linie seines Auftrags: „Herr, kämpfe noch einmal mit den Philistern!“ Dieses Gebet wird erhört. Das ganze Geschehen folgt Gottes Auftrag, im Kampf mit der Welt. Auch wenn sein Leben dabei vergeht.
Deshalb sage ich: Simson gehört niemals zu den Selbstmördern. Selbstmord ist wirklich Sünde – Gott bewahre uns davor.
Wir wissen nicht, was in den Herzen von Menschen in schweren Zeiten vorgeht. Aber das ist hier nicht der Fall. Hier ist ein Mann, auf den das Wort zutrifft, trotz all seiner Schwächen.
In der Offenbarung heißt es: „Sie haben überwunden durch das Blut des Lammes und haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tod.“
Herr und Auftrag waren ihm wichtiger als das eigene Leben. So stehen sie in der Offenbarung, die gekrönt werden: Sie haben überwunden und ihr Leben nicht geliebt bis in den Tod.
Die Bedeutung von Treue im Alltag und das Märtyrertum
Meine Freunde, als ich heute Nachmittag in meiner Vorbereitung an diesen Punkt gekommen bin, bekam ich schreckliches Herzklopfen. Ich dachte darüber nach, wie weit wir davon entfernt sind. Liebe Freunde, Menschen wie Paul Schneider oder Simson führen den Auftrag des Herrn aus, selbst wenn ihr Leben dadurch zerstört wird. Wie viel opfern wir eigentlich für unseren Heiland? Wie viel?
Man bekommt Herzklopfen, wenn man darüber nachdenkt, was für ein Wohlstandschristentum wir heute haben – einen ganz gewöhnlichen Christenstand. Nun, wir sollen uns nicht krampfhaft in Märtyrersituationen bringen. Verstehen Sie, wenn der Herr mir ruhige und friedliche Tage schenkt, dann darf ich sie dankbar genießen, ja? Es wäre verrückt, wenn ich mir überlegte, wo ich Säulen einreißen kann, damit mir ein Haus auf den Kopf fällt. Das wäre sehr unklug, nicht wahr?
Es gibt eine nette Geschichte von meinem Vater. Eine liebe Tante fragte ihn einmal, nachdem sie die Offenbarung gelesen hatte, das Wort: „Sie haben überwunden durch das Blut des Lammes, sie haben ihr Leben nicht geliebt und sind tot.“ Sie fühlte sich weit davon entfernt. Wenn heute die Forderung an sie gestellt würde, um Jesu Willen zu sterben, dann könnte sie das keineswegs. Sie wollte wissen, was sie tun müsse, um dahin zu kommen. Mein Vater gab ihr eine gute Antwort: Nur heute recht treu seinem Heiland sein. Ich glaube, das ist eine gute Antwort.
Verstehen Sie, solange der Herr uns keine großen Prüfungen auferlegt wie bei Simson, wollen wir es in den kleinen Dingen recht ernst nehmen, ja? Wir versagen dann noch glorreich darin. Verstehen Sie: Heute treu sein. Ich bin Pazifist und brauche ungern militärische Bilder, aber es hilft nichts. Nicht immer werden große Schlachten geschlagen. Der Soldat wird für eine große Schlacht ausgebildet, aber oft kämpft er in ziemlich kleinen, lächerlichen Situationen, am Skistand und so weiter.
So ist es auch in der großen Schlacht des Reiches Gottes. In den täglichen Prüfungen meines Lebens lege ich vielleicht ein Bekenntnis ab, das nötig wird. Eine Liebe zeigt sich, wenn mir jemand dumm kommt. Wenn ich dann in der Straßenbahn meine Hühneraugen aufstelle und sage: „Es dürfte lieber so sein“, nicht wahr? Das sind die kleinen Prüfungen.
Bestehe die kleinen Prüfungen, überwinde deine Sünde. Am Ende des Tages werden wir alle genug haben, wofür wir um Vergebung bitten müssen. Aber dieses Heute-Treu-Sein ist wichtig. Ich sagte, Fragen über Fragen. Kann ich noch fünf Minuten eine besprechen? Ja, es sind heute schwere Dinge.
Simsons letzter Schrei: Verzweiflung und Dunkelheit
Die dritte Frage taucht bei mir auf, wenn ich an den letzten Schrei Simsons denke. Wollen Sie mal sehen? In Vers 30, also Vers 29, erfasste er die beiden Mittelsäulen, auf denen das Haus stand und das sich daran hielt – eine mit seiner rechten, die andere mit seiner linken Hand. Dann sprach er: „Meine Seele sterbe mit den Philistern!“ und neigte sich kräftig. Daraufhin fiel das Haus auf alle.
Das ist der letzte Schrei eines Mannes: „Meine Seele sterbe mit den Philistern.“ In diesem letzten Wort von Simson finde ich viel mehr Finsternis als in seinem Gebet um Rache. Ich kann nicht anders, als zu sagen: Hier steckt sehr viel Verzweiflung drin.
Ich möchte Ihnen das zeigen. Verstehen Sie, hier ist wirklich jemand, der in einem Moment noch einmal im großen Glauben gebetet hat, im Glauben eine große Tat vollbringt und dabei selbst ganz klein wird. Es ist viel Dunkelheit und Verzweiflung darin – und das gibt es.
Ach, liebe Freunde, ich habe in Württemberg eine liebe alte Tante, eine geschiedene Frau, die einfach die Theorie aufgestellt hat: Auch die großartigsten Leute müssen einmal „arm ausgeigen“. Sie verstehen diesen Ausdruck „einmal arm ausgeigen“? Ich kann ihn Ihnen nie ins Hochdeutsche übersetzen, das geht einfach nicht. Aber ich hoffe, Sie verstehen ihn im Klaren nach. „Arm hinausgeigen“ kann man nicht übersetzen. Es bedeutet, dass man am Ende ganz klein wird.
Sie begründet das mit Bibelstellen wie: „Der Herr wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“ Also kommen wir alle heulend an. Ja, das war nicht groß. Ich sage zu meiner Tante: Gott schenke mir, dass es nicht allgemein stimmt. Ich möchte nicht „arm ausgegeigt“ werden.
Ich sage ja, Zinzendorf hat gebetet: „Herr, schenke mir ein Todesbein, eine selige Gebärde“, und er ist liturgisch gestorben, nachdem er seine Brüder gesegnet hatte. Er ist nicht „arm ausgegeigt“. Ich würde daraus kein Gesetz machen.
Aber bei Simson ist es wirklich so: Dieser ganz starke Mann wird am Ende von Gott so zerbrochen, dass er ihm einen großen Sieg schenkt, ihn aber selbst so zerbricht, dass sein letzter Schrei von viel Finsternis und Verzweiflung beladen ist. Diesem starken Mann kann Gott nicht ersparen, dass er „armhause“ bekommt.
Verstehen Sie, was gemeint ist, wenn er „armhause“ bekommt? Sonst bin ich so dumm, dass ich es nicht übersetzen kann. Ich werde am Schluss klein gemacht. Ich möchte Ihnen eben zeigen, warum da so viel Armut drinsteckt.
Erstens sagt Simson: „Meine Seele sterbe.“ Ich habe verschiedene Kommentare gelesen. Einige haben sich daran geärgert und übersetzt: „Dann will ich mit den Philistern untergehen.“ Mir blieb nichts anderes übrig, als das Hebräische selbst nachzusehen. Dort steht tatsächlich „nefesch“ – „meine Seele“. Da steht wieder: „Meine Seele sterbe mit den Philistern.“
Sehen Sie, die Bibel sagt etwas anderes: Unser Leib stirbt wohl, aber mein Ich, meine Seele, stirbt nicht. Als der reiche Mann in der Hölle der Qual war, sah er auf und sah Lazarus. Jesus sagte dem Schächer: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ In der Offenbarung heißt es, dass unter dem Altar die Seelen derer gesehen wurden, die um des Evangeliums willen ermordet wurden.
Es gibt heute einen großen Streit darüber, ob der Mensch völlig stirbt oder ob er in einem tiefen, tausendjährigen Schlaf liegt – oder wie lange auch immer bis zur Auferstehung. Ich glaube das nicht. Jesus sagt: Niemand kann mich aus meiner Hand reißen, dann kann mich auch der Tod nicht herausreißen.
Verstehen Sie? Ich glaube, dass es eindeutig klar in der Bibel ist, dass meine Seele, mein „nefesch“ – so heißt es im Hebräischen –, mein Ich bewahrt bleibt, bis zum Tag der Auferstehung, an dem er mir einen neuen Leib gibt.
Und sehen Sie, in dieser Hoffnung sagt Paulus etwa: „Ich habe Lust, daheim zu sein beim Herrn.“ „Meine Seele sterbe“ – das heißt, Simson hat in diesem Augenblick einen Sieg, aber ohne jede persönliche Hoffnung für sich. Er sieht kein Ewigkeitslicht, verstehen Sie? Gar kein Ewigkeitslicht, wenn er sagt: „Meine Seele sterbe.“
Sein Leib stirbt sowieso mit den Philistern, verstehen Sie? Aber er sagt nicht: „Mein Leib sterbe“, sondern: „Meine Seele sterbe.“ Sagt er wirklich „meine Seele sterbe“? Er hat in diesem Augenblick keinen Blick auf die Ewigkeit, glaube ich.
Ich bin überzeugt, dass er unter den vollendeten Heiligen ist – nicht nur meiner Überzeugung nach. In Hebräer 11 und 12 heißt es, dass sie unserem Kampf zuschauen. Aber in dem Augenblick hat Simson kein Licht, nur dunkle Überzweifelung. Und er schreit: Wie hat Gott diesen starken Mann im letzten Moment so „arm“ gemacht?
Dann weiter: Ich möchte es mal so ausdrücken: Es gibt auch von Paulus einen letzten Schrei. Es ist zwar nicht sein letztes Wort, aber wir können es beinahe als letztes Wort aus einem seiner Briefe nehmen, den er aus dem Gefängnis schreibt. Dort schreibt er: „Ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben gehalten.“
Sehen Sie, bis dahin wäre es beinahe wie bei Simson: „Jetzt sterbe ich.“ Aber dann fährt Paulus fort: „Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr den Überwindern geben wird.“ Diese Hoffnung fehlt völlig bei Simson.
Gott hat ihn im Augenblick seines Todes noch einmal in tiefe Dunkelheit gestürzt. Wir müssen diesen letzten Schrei Simsons vergleichen mit dem Ruf Jesu. Auch er hat von seiner Seele gesprochen: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“
Das ist „nephesh“ in deine Hände geben, ganz anders als „meine Seele sterbe mit den Philistern.“ Ich gebe meine Seele in deine Hände. So sagt nicht nur der Sohn Gottes, sondern auch Stephanus, der erste Märtyrer: „Herr, nimm meinen Geist auf!“ Und als er das gesagt hat, verschied er.
Der erste Mächtige Stephanus sagt: „Herr, nimm meinen Geist auf!“ Wie Jesus gibt er seinen Geist in die Hände Gottes. Das ist genau das Gegenteil von „Meine Seele sterbe mit den Philistern.“
Meine Freunde, es hat mir ein wenig gegraut, als ich diesen sterbenden Simson sah. Er gehört zu den Glaubenshelden. Es gehört zu den dunklen oder durchaus begreiflichen Wegen Gottes, dass Gott diesen Mann, der in sich so stark war, im Sterben noch so klein machte, dass er nicht seinen großen Sieg sah, sondern dass in seinem letzten Schrei nur Dunkelheit und Verzweiflung zu hören sind.
Und weil ich überzeugt bin, dass Simson im Sterben auch zum Herrn ging, versuche ich mir vorzustellen, welch ein Wandel das wohl war: Der Augenblick in dieser Finsternis – „meine Seele sterbe mit denen, die mich geblendet haben“ – und dann ein Aufwachen am Angesicht des Herrn im Licht, wo keine Anfechtung mehr ist, wo keine Delila mehr ist, wo keine Philister mehr die Augen ausstechen.
Von einer Sekunde auf die andere wird er in eine andere Dimension versetzt. Da wird einem klar, was es heißt: „O selig die Ruhe bei Jesus im Licht!“ Was es bedeutet, aus dieser Nacht ins Licht zu kommen. Und das ist Gnade, nicht wahr?
An Simson wird deutlich, wie es Gnade ist, wie es ein Geschenk ist, wie es im Glauben geschieht.