Einführung in das zwanzigste Jahrhundert und die Notwendigkeit eines Exkurses
Und damit sind wir fünftens und letztens in unserem Jahrhundert angekommen, dem zwanzigsten Jahrhundert. Hier muss ich zunächst einen Exkurs machen, der vielleicht nicht ganz leicht ist. Wir müssen ihn aber machen, um die Lehren von Barth und Bultmann zu verstehen.
Es gab einen dänischen Christen, Theologen und Philosophen namens Sören Kierkegaard (1813–1855). Er wurde nicht alt, hat aber in seinem relativ kurzen Leben viel entdeckt, erkannt und geschrieben. Dieser dänische Theologe und Philosoph wurde sowohl Wegbereiter der dialektischen Theologie – ich erkläre gleich, was das ist – als auch des Existenzialismus, der existenzialistischen Theologie.
Kierkegaard lehrte zunächst drei Stadien des Menschenlebens. Er meinte, dass ein Mensch nicht nur biologisch verschiedene Entwicklungsphasen durchläuft, vom Säugling über das Kleinkind usw., sondern auch geistig. Oft beginnt die Entwicklung mit dem ästhetischen Stadium. Hier lebt der Mensch als Genussmensch, der ausschließlich für die sichtbaren, zeitlichen und schönen Dinge lebt – für die vordergründigen, vergänglichen und diesseitigen Dinge.
Das nächste Stadium ist das ethische Stadium. Hier tritt der Mensch zum Absoluten, zur Wahl zwischen Gut und Böse. Er erkennt: „Moment mal, in dieser Welt ist nicht alles neutral.“ Er muss sich entscheiden, ob er dem Guten oder dem Bösen folgen will. Dieses Stadium nennt Kierkegaard das ethische, in dem das Gewissen erwacht.
Schließlich spricht er vom religiösen Stadium. Hier zeigt der Mensch Reue über seine Sündhaftigkeit. Angesichts der Forderung Gottes erfasst er im Glauben den gegenwärtigen Christus. Nach Kierkegaard vollzieht sich in diesem Stadium die Synthese, sodass der Mensch in der Existenz lebt.
Dialektik und Synthese bei Kierkegaard und Hegel
Das sind jetzt schwere philosophische Gedanken, aber ich will versuchen, sie kurz zu erklären.
In Deutschland gab es einen Philosophen namens Hegel, der unser modernes Denken mehr geprägt hat, als wir alle ahnen. Hegel hatte eine Lehre, die zur Grundlage des Denkens unserer Neuzeit wurde: These und Antithese ergeben eine Synthese. Diese Synthese ist jedoch weder eine endgültige These noch eine endgültige Antwort. Stattdessen wird wieder eine Antithese aufgestellt, und daraus entsteht erneut eine Synthese.
Diese Synthese wird wiederum zur neuen These, der eine Antithese gegenübersteht, und es entsteht eine weitere Synthese. Dieses System, diese Gedanken Hegels, wurden zur Grundlage für den Relativismus. Seitdem gibt es keine absolute Wahrheit mehr in der Welt, sondern alles ist relativ.
Nehmen wir zum Beispiel die Bibel: Unsere These könnte sein, dass die Bibel Gottes Wort ist. Dem wird entgegengehalten: Nein, das ist Menschenwort. Daraus entsteht eine Synthese: Manchmal ist die Bibel Gottes Wort, manchmal Menschenwort. Seitdem gibt es nichts Absolutes mehr in der Welt.
Archimedes sagte einmal: „Gebt mir einen festen Punkt, dann hebe ich die Welt aus den Angeln.“ Der moderne Mensch sagt hingegen: Es gibt keinen festen Punkt. Alles ist relativ, und seitdem ist alles im Fluss.
So hat auch Kierkegaard das verstanden. Er sagt: Wenn der Mensch in das religiöse Stadium kommt und Reue zeigt, dann war auf der einen Seite sein Diesseitsleben, das er genossen hat. Auf der anderen Seite sieht er Gottes moralische Grundsätze als seine Maßstäbe. Wenn er das erkennt und daraus Konsequenzen zieht, entsteht eine Synthese, sein neues religiöses Leben.
Diese Synthese ist das neue Leben, in dem er jetzt lebt. Kierkegaard meint damit, dass der Mensch in der Existenz lebt – das heißt, er lebt in der Synthese von Zeitlichem und Ewigem. Er lebt noch in dieser Welt, an Tischen und Bänken, aber zugleich ist er Christ, glaubt und ist schon ein Bürger des Himmels. So lebt er in der Synthese und damit in der Existenz.
Das ist ganz vereinfacht ausgedrückt das komplizierte Gedankengebäude von Kierkegaard. Es ist sehr komplex. Dieses Denken nennt man Dialektik. Dialektik bedeutet, dass eine Wahrheit durch zwei scheinbare Gegensätze ausgedrückt wird, dass eine Wahrheit aus zwei scheinbaren Gegensätzen besteht.
Einige von euch kennen vielleicht das Stück von Bertolt Brecht „Mutter Courage und ihre Kinder“. Mutter Courage war eine Händlerin, eine Marketenderin im Dreißigjährigen Krieg. Sie hasste den Krieg, weil er ihre Söhne genommen hatte. Gleichzeitig liebte sie den Krieg, weil die Soldaten ihre Ware kauften.
Das ist Dialektik: Ihr Verhältnis zum Krieg war zwiespältig. Sie hasste ihn und liebte ihn zugleich. So ist auch im religiösen Bereich eine Seite gegen eine andere gestellt, und daraus entsteht eine Synthese. In dieser Synthese lebt man dann.
Leben und Wirken von Karl Barth
Karl Barth wurde 1886 in Basel geboren und wuchs in Bern auf. Er studierte Theologie in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg. Barth war ein hochbegabter Mann. Im Jahr 1911 wurde er Pfarrer in Savenwiel im Kanton Aargau. Acht Jahre später, im Jahr 1919, schrieb er dort seinen Römerbrief-Kommentar, der ihn weltberühmt machte.
Ab 1921 war er Professor in Göttingen, Münster und Bonn. Im Jahr 1933 wurde Barth zum geistigen Führer im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Er leistete Großes und stellte sich entschieden gegen den Nationalsozialismus. Die Barmer Erklärung entstand 1934 und wandte sich gegen das deutsche Christentum der Nazis. Dieses Dokument stammt maßgeblich aus seiner Feder und ist stark von ihm geprägt. Damit hat er Bedeutendes geleistet.
Von 1935 bis 1968 war er Professor in Basel. Nachdem er von den Nazis vertrieben wurde, musste er auswandern, kehrte aber später zurück und nahm seine Professur in Basel wieder auf.
Sein Hauptwerk ist die sogenannte Kirchliche Dogmatik. Dieses Werk gilt als die umfangreichste Dogmatik der Kirchengeschichte. Es umfasst etwa zehntausend Seiten hochgestochene Theologie. Kaum ein Theologe schafft es, dieses Werk vollständig zu lesen. Dennoch ist die Kirchliche Dogmatik von Karl Barth heute weltweit ein Standardwerk in der Theologie.
Grundprinzipien von Barths Theologie
Kommen wir zu seiner Theologie. Barths Theologie ist von drei Grundprinzipien geprägt, die den Charakter von Axiomen annehmen – Axiomen in der Physik, also Grundwahrheiten, die unumstößlich sind.
Erstens: Der Mensch kann von sich aus nichts über Gott wissen. Das stimmt. Alle wirklich Theologie muss daher Offenbarungstheologie sein. Das ist hundertprozentig richtig. Ja, wir wüssten nichts von Gott, wir hätten nur die Schöpfung, ja, die Naturerkenntnis, aber über das Wesen Gottes wüssten wir nichts, wenn wir keine Bibel hätten. Das ist in Ordnung.
Zweitens: Religion – damit meint er jetzt alle Religionen in dieser Welt – geht nicht auf Offenbarung zurück, sondern ist wesenhaft Unglaube. Er sagt: Die hinduistischen Veden sind nicht von Gott inspiriert, sie enthalten keine Wahrheit. Es ist mutig, dass er das damals so sagte. Die Bhagavadgita des Hinduismus ist nicht inspiriert, der Buddhismus auch nicht, und der Koran ist ebenfalls nicht inspiriert.
Es gibt heute viele, die sagen: Ja, alles enthält ein bisschen Wahrheit, und wir müssen das so zusammennehmen, dann enthalten sie die ganze Wahrheit. Nein, das sagt Barth nicht. Er sagt: Religion geht nicht auf Offenbarung zurück, sondern ist wesentlich Unglaube. So ermutigt er damals.
Drittens: Jesus Christus ist das eine Wort Gottes an die Menschen, und die Bibel ist das Zeugnis dieser Offenbarung. Das lassen wir zunächst auch mal so stehen. Aber wer genau hinhört, merkt, dass hier in diesem Satz schon eine Weichenstellung drin ist, die wir gleich weiterverfolgen werden: Jesus Christus ist das eine Wort Gottes an die Menschen, und die Bibel ist das Zeugnis dieser Offenbarung.
Barths Sicht im Römerbriefkommentar und Objektivismus
Im Römerbriefkommentar von 1919 entfaltet Barth folgende Sicht: Er sagt, die Welt stehe samt aller Anstrengungen des Menschen unter Gottes Gericht. Das stimmt. Das Kreuz Jesu ist das Zeichen dieses Gerichts. Auch das stimmt. Das Kreuz hat eine negative Seite. Ja, im Kreuz sagt Gott Nein zur Sünde der Menschen. Das stimmt ebenfalls.
Es ist ein Zeichen des Gerichts, und jeder Glaube, der in irgendeiner Weise Gestalt gewinnt, wird bei Barth jetzt sofort zur Religion und damit zur Eigenmächtigkeit und Sünde. Man merkt, was hier passiert: Barth betont einseitig Gottes Erlösungswerk, die Rettungstat am Kreuz, und sagt, dass dies vor zweitausend Jahren geschehen ist. Damals wurde Gott Mensch, war in Christus und hat am Kreuz die Erlösung vollbracht.
Der Mensch kann jetzt überhaupt nichts tun, gar nichts, auch nicht mehr glauben als eine Antwort von ihm. Er geht sogar so weit zu sagen, Glaube sei ein Hohlraum, in dem sich Gottes Treue ergieße. Glaube sei überhaupt nichts, nur ein Hohlraum, in dem sich Gottes Treue ergieße – so kann er es wörtlich ausdrücken.
Barth schlägt nun stark im Pendelschlag auf die andere Seite aus, nachdem er die Frömmler abgelehnt hat, die ihre eigene Frömmigkeit betonten. Er lehnt alles ab, was der Mensch an frommen Gefühlen oder eigenen Glaubensäußerungen haben könnte. Entscheidend sei nur, was Gott am Kreuz getan hat.
Diese Lehre nennt man Objektivismus. Barth lehnt alle subjektiven Elemente des Menschen ab: Dass der Mensch das vollbrachte Heil persönlich ergreifen muss, dass er sich dieses Heil im Glauben aneignen muss, umkehren und glauben muss. Sich das persönlich in sein Leben schenken zu lassen, lehnt Barth ab.
Darum nennt man seine Lehre Objektivismus – eine einseitige Betonung dessen, was Gott getan hat, und eine Ablehnung dessen, was der Mensch als Antwort tun muss.
Die Bibel sagt aber, Gott habe jedermann den Glauben angeboten – angeboten, nicht aufgedrängt. Jetzt wartet Gott auf eine Reaktion, auf eine Antwort. Darum stehen im Neuen Testament viele Imperative: glaubt, kehrt um, ringt, suchet, dringt ein. „Jaget nach“ und all diese Dinge – da werden wir herausgefordert. Wir müssen auf das antworten, was Gott getan hat.
Aber das lehnt Barth ganz ab.
Barths radikale Wende in der Prädestinationslehre und Allversöhnung
Und dann kommt noch etwas hinzu: Beim Durchdenken der alten Prädestinationslehre von Calvin, also der Vorherbestimmungslehre, vollzieht Barth eine radikale Wende. Calvin hatte diese Lehre sehr düster dargestellt. Er sprach von einer doppelten Prädestination, das heißt, dass Gott schon von Ewigkeit her über jeden Menschen bestimmt habe, wo er einmal sein wird. Die einen würden immer in der Hölle sein, die anderen immer im Himmel, lehrte Calvin in letzter Konsequenz.
Diese Lehre entspricht jedoch nicht der Bibel. So hat Gott nicht gehandelt. Aus etwas Bedrohlich-Düsterem wurde bei Barth die Grundlage einer allgemeinen Heilsgewissheit. Barth sagte, Gott wählt Christus, den einen Christus, seinen Sohn, und wendet sich in Christus der Menschheit zu. Christus ist der eine Verfluchte, der am Kreuz für alle den Fluch auf sich nahm. Jetzt ist er auch der eine Erwählte. Barth sagt, in Christus erwählt Gott jetzt die ganze Menschheit und schenkt ihr praktisch das Heil und rettet sie.
Barth betont: Außerhalb von Christus gibt es kein Heil, und innerhalb von Christus gibt es kein Unheil. Das stimmt auch, aber er zieht es so absolut weiter, dass er sagt, in Christus ist das große Ja Gottes zum Ausdruck gekommen. Gott spricht über seine Schöpfung und seine Menschen. Barth weitet dieses Ja so umfassend aus, dass es außerdem nichts mehr gibt, nur noch das große Ja.
1919, in seinem Kommentar zum Römerbrief, betont Barth noch sehr stark das Nein Gottes und das Gericht über die Sünde. Doch später, in seiner weiteren theologischen Entwicklung, geht er ganz in die andere Richtung und bringt das große Ja Gottes, das keinen Platz mehr lässt für irgendein Nein des Menschen.
Nun kommt die verhängnisvolle Auswirkung: Das Heil in Christus ist erschienen, und niemand kann durch Glauben oder Unglauben etwas dazu oder davon tun. Hier steht Barth faktisch auf dem Boden der Allversöhnung. Er sagt, am Kreuz von Golgatha ist die ganze Welt bekehrt, die ganze Welt ist durch das Kreuz errettet. Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst. Punkt.
Barth macht hier einen Schlussstrich und geht nicht weiter. Doch wie schreibt Paulus weiter? „So bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.“ Das fällt bei Barth weg, das fällt unter den Tisch. Er bleibt stehen bei der Aussage, dass Gott die Welt mit sich versöhnt hat. Jetzt sind alle Menschen seit Golgatha versöhnt.
Deshalb gibt es bei Barth keine Umkehr oder Bekehrung im Sinne des Neuen Testaments. Bekehrung ist für ihn Teilhabe an der in Christus bereits vollzogenen Bekehrung. Wörtlich kann Barth sagen: Wer dürfte im Ernst für das, was seine oder eines anderen Menschen Bekehrung betrifft, einen anderen Termin wissen wollen als den Tag von Golgatha, an dem Christus die Wende und Veränderung der menschlichen Situation an unserer Stelle für uns alle vollzogen hat?
Man erkennt, was er tut: Das ist Objektivismus. Er sagt, am Kreuz haben sich alle Menschen bekehrt. Dort ist unsere Bekehrung passiert. Das stimmt nicht ganz. Dort ist unsere Erlösung geschehen, aber die Bekehrung muss jetzt in unserem Leben stattfinden.
Es soll gefragt worden sein: „Herr Barth, haben Sie sich bekehrt?“ Da hat er geantwortet: „Vor 1948 Jahren am Kreuz von Golgatha.“ Er hat sich nicht bekehrt, dort hat Christus ihn und uns alle erlöst. Aber diese Erlösung muss in diesem Leben angenommen werden, und das lehnt Barth ab.
Das ist wichtig, dass wir das wissen und erkennen. Er sagt, am Kreuz von Golgatha hat sich die ganze Welt bekehrt. Dort hat sich Gottes Zorn ein für allemal entladen. Am Kreuz sind Gericht und Hölle für immer erledigt. Nach Barth ist die Hölle seit Golgatha leer.
Kritik an Barths Dogmatik und deren Folgen für die Kirche
Interessant ist, dass ich die kirchliche Dogmatik, die zehntausend Seiten umfasst, noch nicht ganz gelesen habe. Doch jemand anderes hat dies getan. Heute lässt sich das auch mit Computern leicht feststellen: Ein Bibelvers des Neuen Testaments wird in dieser Dogmatik nicht zitiert. Auf zehntausend Seiten kommt er nicht vor. Wisst ihr, welcher zentrale Vers des Neuen Testaments das ist? Es ist 1. Korinther 1,18: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden.“
Dieses Wort zitiert er auf zehntausend Seiten nie – ein zentrales Wort des Neuen Testaments. Ihr könnt mir glauben, er zitiert es nicht. Sein Schüler Emil Brunner, der Schweizer Emil Brunner, hat selbst über ihn gesagt: „Bei Karl Barth schwimmen alle Menschen im seichten Wasser, niemand kann mehr ertrinken.“ Niemand kann mehr ertrinken, sagt Golgatha.
Alle sind schon Christen, nur der Unterschied ist, dass manche es wissen und die meisten es noch nicht wissen. Wir wären jetzt diejenigen, die wissen, dass wir Christen sind. Die anderen sind auch Christen, aber sie wissen es nicht. Deshalb ist Mission bei Barth nicht mehr der Ruf zur Umkehr, sondern Information: „Du bist Christ“, sagt Golgatha, „weißt du das nicht?“
Versteht ihr jetzt die Predigten der Barth-Schüler und -Enkel, die heute auf den Kanzeln stehen? Die Pfarrer, die wir heute in Deutschland haben – es gibt etwa 30 Pfarrer und Pfarrerinnen –, ich möchte behaupten, dass davon 25 Bartianer sind, also die Theologie von Karl Barth übernommen und zu ihrer eigenen gemacht haben.
In der ganzen Welt, wo heute Theologie studiert wird, muss man sich irgendwann mit Karl Barth auseinandersetzen. Ich weiß nicht, wie es in Amerika an bibeltreuen Seminaren ist – zum Glück nicht –, aber sonst an den Universitäten überall muss man sich mindestens ein Semester mit Karl Barth beschäftigen.
Und das ist das Verhängnisvolle: Aus unserem Land ging die Reformationsbotschaft in die ganze Welt. Aber aus unserem Land ist in diesem Jahr auch die Theologie von Barth und von Bultmann in die ganze Welt gegangen – leider. Das ist die tiefe Tragik.
Auswirkungen der badischen Theologie auf Predigt und Gemeinde
Das Kennzeichen der badischen Theologie ist, dass der Zorn Gottes nicht mehr betont wird. Wenn man noch die Gelegenheit hat, Predigten von evangelischen Pfarrern zu hören – oder vielleicht eher bei Beerdigungen – kann man das gut feststellen.
Badische Pfarrer, also evangelische Theologen aus Baden, erkennt man sofort daran, dass sie predigen. Natürlich predigen sie aus der Bibel, natürlich sprechen sie von Jesus, von Gott und von allem. Aber man wird kein Wort hören von Gottes Zorn, von Gottes Gericht, vom Verlorengehen oder von der Hölle. Vielleicht hört man auch nicht mehr viel über die Sünde. Das ist das Ergebnis der badischen Theologie.
Das ist ganz erschütternd: Es gibt keine Hölle mehr, auch keine Evangelisation und keine Mission mehr. Wo Badener im Pfarramt sind, gibt es in der kirchlichen Gemeinde keine Evangelisation.
Das muss ich leider auch von meinem eigenen Schwager sagen. Er ist schon seit dreißig Jahren Pfarrer oder sogar noch länger. Er hat noch nie eine Evangelisation veranstaltet, denn er braucht das nicht. Er hat bei Karl Barth in Göttingen studiert, hat ihn live gehört und ist ganz überzeugt von der barth’schen Theologie.
Er sagt, das sind alles Christen. Ich habe ihm dann gesagt: „Das sind doch nicht alles Christen.“ Darauf antwortete er: „Ja, vielleicht sind es Christen ohne Christus, aber es sind Christen.“ Christen ohne Christus – ja, das ist Karl Barth.
Das wollte Karl Barth vielleicht nicht, aber ihr wisst, wie das oft ist: Die Schüler oder Enkel bringen etwas noch viel Schärferes heraus, was beim Lehrer nur in Ansätzen vorhanden war. So ist es auch bei Barth und bei Bultmann.
Einführung in Rudolf Bultmann und seine Theologie
Barth-Schüler Emil Brunner aus der Schweiz hat eine hervorragende Ethik verfasst. Er ist ebenfalls ein Schüler von Barth und in seiner Theologie von ihm geprägt. Rudolf Bultmann wurde in seiner Jugend ebenfalls von Karl Barth beeinflusst.
Kommen wir nun langsam zum Schluss, zunächst noch kurz zu Rudolf Bultmann. Bultmann war ein weiterer großer Theologe im deutschsprachigen Raum. Während Barth Schweizer war, stammte Bultmann aus Deutschland. Er lebte bis 1976 und war ein eigenartiger Mann. Zu Hause spielte er Reichslieder auf dem Harmonium. Kennt man diese alten Heilslieder, wie zum Beispiel „Welch Glück, erlöst zu sein“? Solche Lieder spielte er.
Doch seinen Studenten vermittelte er andere, tiefgründige Inhalte. Der Dekan Haus in Karlsruhe, ein gläubiger Mann und Kenner Bultmanns, pflegte zu sagen: „Wenn ich Bultmann lese, springen mir die Dämonen entgegen.“ Das ist kein oberflächlicher Irrtum, sondern handfeste Theologie. Das Neue Testament spricht ja auch von Lehren der Dämonen in der letzten Zeit.
Was Bultmann alles losgelassen hat, möchte ich hier näher darstellen. Er ist der Begründer der formgeschichtlichen Schule. Diese geht davon aus, dass die Christenheit nicht zwischen den tatsächlichen Worten Jesu und dem, was ihm später in den Mund gelegt wurde, unterschieden hat.
Man nennt das Gemeindetheologie. Dabei wird herausgefiltert, was Jesus wirklich gesagt hat oder gesagt haben könnte, und was ihm nachträglich zugeschrieben wurde. Letzteres wird dann als Gemeindetheologie bezeichnet. Diese wurde von den Generationen bis zur schriftlichen Abfassung hin hinzugefügt und zugeschrieben. Somit ist es Gemeindetheologie.
Bultmanns Entmythologisierung und ihre Konsequenzen
Bultmann ist bekannt geworden durch seine Entmythologisierungslehre. Er knüpft damit an David Friedrich Strauss an, den wir vorhin schon kennengelernt hatten. Entmythologisierung bedeutet die Herausfilterung aller Wunder und übernatürlichen Dinge in der Bibel, die man mit dem Verstand nicht erklären kann und die den physikalischen Gesetzen widersprechen.
Sein Kernsatz lautet in seinem Standardwerk "Neues Testament und Mythos" auf Seite 18: Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Hilfe in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Das ist der Kernsatz von Rudolf Bultmann, seine Haltung. Das passt nicht zusammen im zwanzigsten Jahrhundert mit Atomkraft und so weiter und gleichzeitig an die Sagen- und Wunderwelt des Neuen Testaments zu glauben.
Das ist erschütternd, und das hat er gelehrt. Seine Studenten haben das über viele Semester aufgenommen, und auch die Bultmann-Schüler sind heute im Pfarramt. Bultmann filterte also in der Folge alles aus der Bibel heraus, was nicht mit dem menschlichen Verstand zu erklären war, und deutete es um.
Das bekannteste Beispiel ist die Speisung der Fünftausend. Wie deutet er das? Er sagt nicht, dass Jesus wirklich aus ein paar Broten und Fischen so eine Menge Speise gemacht hat. Vielmehr hat Jesus als guter Psychologe ihren Geiz überwunden. Die Menschen hatten alle ihr Vesper dabei, wollten das aber nicht herausgeben und nicht mit den anderen teilen. Jesus brachte sie psychologisch so weit, dass sie dann doch ihr Vesper aus der Tasche holten und es mit den anderen teilten. So wurden alle satt. So erklärt er die Speisung der Fünftausend.
Und die Auferstehung Jesu ist noch sehr wichtig. Obwohl man sagt, Jesus sei auferstanden – selbstverständlich, er ist auferstanden im Glauben seiner Jünger. Die Jünger konnten nicht damit fertigwerden, dass er am Kreuz gescheitert war. Sie sagten einfach: „Die Geschichte war so schön, das muss eine unendliche Geschichte werden. Ja, die kann hier noch nicht zu Ende sein.“ Sie sagten weiter, er lebt unter uns, und sie halten weiter daran fest. So sei er im Glauben seiner Jünger auferstanden. Er sei ins Kerygma auferstanden, sagt Bultmann. Das heißt, dort wo er gepredigt wird, dort wo er bezeugt wird, da lebt er weiter – genauso wie Goethe in seinen Werken weiterlebt, wo er gelesen wird.
Und das ist natürlich falsch. Das Neue Testament zeigt uns ganz deutlich, dass er nicht im Glauben seiner Jünger, sondern gegen den Glauben seiner Jünger auferstanden ist. Die Jünger konnten es ja nicht fassen. Das zeigen ja alle Evangelisten. Sie konnten es überhaupt nicht fassen. Jesus musste sie ja noch lange danach schelten wegen ihres Unglaubens. Gegen den Glauben, nicht im Glauben der Jünger ist er auferstanden.
Nachfolger Bultmanns und die Entwicklung der Theologie
Bultmann-Schüler waren unter anderem Käsemann, der lehrte, dass es Bultmann, Käsemann und Drewermann gibt. Ja, diese drei kann man in einem Atemzug nennen. Im Neuen Testament seien Glaube und Aberglaube zugleich enthalten, sagt Käsemann.
Oder Dorothee Söller, die ebenfalls von dieser ganzen Entwicklung geprägt wurde. Sie ging sogar so weit, in Anlehnung an Bischof Robinson in England, zur sogenannten Gott-ist-tot-Theologie zu gelangen. Dorothee Söller ist eine evangelische Theologieprofessorin, die in Hamburg lehrt. Sie wird von der evangelischen Kirchensteuer bezahlt und verkündet dort offiziell: Gott ist tot, es gibt keinen persönlichen Gott, Gott ist eine Chiffre für Mitmenschlichkeit.
Ich habe eine Predigt von ihr zu Hause, und es ist haarsträubend, was diese Frau verkündet. Mein Freund Dankmar Fischer aus Hamburg, von der Heilsarmee, besuchte einmal einen ihrer Vorträge in Heilsarmee-Uniform. Dort war sie sichtbar irritiert, als er da saß. Sie ist ziemlich frech und sagte von der Katheterstufe herunter: „Was will denn dieses Heilskamel hier?“
Daraufhin stand Dankmar Fischer auf und antwortete: „Ich bin froh, dass ich nicht bekennen muss, niedergefahren zur Sölle.“ Schlagfertig, wie nur Dankmar Fischer sein kann. Das war auflockernd, aber dennoch traurig, dass solch eine Theologie heute gelehrt werden kann, ohne dass ein Lehrzuchtverfahren eingeleitet wird.
In der katholischen Kirche ist so etwas undenkbar. Trebermann wurde die Lehrerlaubnis entzogen, Küng ebenfalls. Die katholische Kirche ist in dieser Hinsicht natürlich viel konsequenter. Allerdings hilft das auch wenig, denn danach werden diese Theologen oft noch populärer als zuvor und haben noch mehr Zulauf. Das nützt also auch nichts.
Schlussfolgerungen und persönliches Fazit
Kommen wir zur Schlussfolgerung. Der Bultmann-Schüler Heinz Zahnd schließt sein Buch Die Sache mit Gott mit dem Satz: „Gott muss uns auch unsere Theologie vergeben, vielleicht nicht so sehr wie unsere Sünden.“ Das war eine wahre Erkenntnis, die er da zum Ausdruck gebracht hat.
Wir wollen heute jedoch nicht richten, im Sinne von Steine werfen auf die genannten Männer oder Frauen. Sie stehen und fallen mit Gott. Er wird sie beurteilen und richten, und vor ihm werden sie sich verantworten müssen – ebenso wie wir mit unserem Leben.
Es ist nicht unsere Aufgabe, uns über diese Menschen zu erheben. Wer weiß, aus welchen Gründen sie auf diese Wege kamen? Das wissen wir nicht. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, aufzuklären, was sie lehren und wie gefährlich ihre Lehren sind.
Karl Barth, dessen Gebete man immer wieder im Losungsbuch lesen kann, viele Christen kennen ihn und vertrauen ihm. Doch viele wissen nicht, was hinter seiner Theologie steht. Barth könnte gefährlicher und verhängnisvoller sein als Bultmann – das wissen viele gar nicht.
Wer sich weiter informieren möchte, sollte unbedingt das Buch Die große Enttäuschung von Heinrich Jochums lesen. Es beschäftigt sich intensiv mit der Theologie von Karl Barth. Jochums kannte Barth wie kaum ein anderer, er hat die kirchliche Dogmatik durchgelesen und kannte Karl Barth persönlich. Barth ging in seinem Elternhaus ein und aus. Das ist ein sehr informatives Büchlein.
Wir haben heute Nachmittag manches Positive, aber auch viel Negatives gehört und gelesen. Wir grenzen uns von einem großen Teil der evangelischen Theologie, von Luther bis zur Gegenwart, laut und vernehmlich ab – ich tue das auf jeden Fall.
Dabei müssen wir differenzieren. Ich bin dankbar für vieles. Menschlich gesprochen: Ohne Martin Luther würden wir jetzt nicht hier sitzen. Vielleicht hätte Gott einen anderen gebraucht, aber ohne ihn wären wir nicht hier. Das müssen wir so differenziert sehen – mit einem lachenden und dankbaren Auge.
Doch wir sehen auch, wo Falsches hineingekommen ist und wo das heute angelangt ist. Aber stärker als unser Nein zu Strauss, Ritschl und Barth ist unser Ja zu Jesus Christus und unser Ja zur Botschaft der Heiligen Schrift – zur ganzen Botschaft der Heiligen Schrift.
Alles wird vergehen, auch die Werke der sogenannten großen Theologen und auch unsere Werke. Aber die Bibel vergeht nicht.
Meine persönliche Konsequenz, als ich das für mich alles erkannte, war die, die im Hebräerbrief steht: dass wir uns nun zu ihm hinaus begeben, aus dem Lager hinausgehen und seine Schmach tragen. Für mich bedeutet das auch, dieses religiöse Lager der evangelischen Kirche zu verlassen.
Obwohl ich diese Kirche eine Zeit lang wirklich geliebt habe und auch versucht habe, innerhalb dieser Kirche etwas zu bewegen und zu evangelisieren, musste ich eines Tages die Konsequenz ziehen: raus aus dem Lager. Denn die Bibel lehrt uns auch, Namenschristen von falschen religiösen Systemen zu trennen (2. Korinther 6,14 ff.).
Auch im Hebräerbrief wird den Christen damals geraten, aus dem Judentum hinauszugehen – es war ebenfalls ein religiöses Lager. Vielleicht sollte der eine oder andere auch darüber nachdenken, ob er sich noch mit dieser Kirche identifizieren kann, die heute einfach den Pluralismus und dieses Spektrum vertritt, wie wir es in der letzten Stunde beschrieben haben.
Da muss jeder persönlich seinen Weg finden und seine Konsequenzen ziehen. Aber vielleicht hilft das dem einen oder anderen.
Ich sage noch einmal zum Schluss: Wir wollen nicht richten. Wir wollen uns damit abfinden, dass diese Kirche diesen Weg eingeschlagen hat und heute dort angekommen ist. Aber wir wollen verstehen, was heute gepredigt und gelehrt wird, damit wir vielleicht manchen Menschen den Weg aus dieser Situation zeigen können.