Festhalten

Konrad Eißler
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Was halten Sie von …? Immer sind die Meinungen über andere geteilt, auch über Jesus. “Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis”, sagt der Apostel, und das heißt: Lasst uns Jesus hoch und tief und nahe halten. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Was halten Sie zum Beispiel von Picasso, dem spanischen Maler Pablo Picasso? Die einen halten viel von ihm. Sie preisen ihn als den bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts, der für Generationen von Künstlern vorbildlich geworden ist. Die andern halten wenig von ihm. Mit seiner Auflösung des Gegenständlichen in die völlige Abstraktion können sie so gut wie nichts anfangen. Und die dritten halten gar nichts von ihm. Sein Zentralwerk, das in New York ausgestellte Kolossalgemälde “Guernica”, würden sie nicht einmal in ihrer Garage aufhängen. Die Meinungen über Picasso sind geteilt.

Oder was halten Sie zum Beispiel von Strawinsky, dem russischen Komponisten Igor Strawinsky? Die einen halten viel von ihm. Sie verehren ihn als Begründer eines musikalischen Neoklassizismus, der jahrzehntelang die musikalische Weltsprache war. Die andern halten wenig von ihm. Mit seiner Übernahme der Zwölftontechnik Schönbergs ist ihre Begeisterung für ihn gebremst. Die dritten halten gar nichts von ihm. Selbst sein Frühwerk “Der Feuervogel” zündet kein Fünkchen der Begeisterung bei ihnen an. Die Meinungen über Strawinsky sind auch geteilt.

Oder was halten Sie zum Beispiel von Corbusier, dem französischen Architekten Charles Le Corbusier? Die einen halten viel von ihm. Sie bestaunen ihn als einen der bedeutendsten Baukünstler überhaupt. Die andern halten wenig von ihm. Mit seinen kubisch vereinfachten und glatt verputzten Bauwerken können sie sich nicht anfreunden. Und die dritten halten gar nichts von ihm. Wenn seine berühmte Kirche in Ronchamp ihre Gemeindekirche wäre, würden sie sie nicht einmal am Heiligen Abend besuchen. Die Meinungen über Corbusier sind erst recht geteilt.

Immer sind die Meinungen über andere geteilt. Immer sind die Meinungen über andere verschieden. Immer sind die Meinungen über andere unterschiedlich, auch über Jesus, dem jüdischen Zimmermannssohn Jesus Christus. Die einen halten viel von ihm und beten ihn als den einzigen Sohn Gottes an, der an Weihnachten im Stall von Bethlehem zur Welt kam. Die andern halten wenig von ihm und wollen nichts mit seinem schrecklichen Leiden und blutigen Sterben zu tun haben. Die andern halten gar nichts von ihm und sagen: ein großer Verführer, sonst nichts.

Was halten Sie von ihm? Was Sie von Picasso halten, ist nicht so wichtig. Aber was halten Sie von Jesus? Was Sie von Igor Strawinsky halten, ist nicht so entscheidend. Aber was halten Sie von Jesus Christus? Was Sie von Le Corbusier halten, ist nicht so bedeutend. Aber was halten Sie von Jesus Christus, dem Sohn Gottes?

Der Apostel sagt: “Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis”, auch wenn uns immer wieder Menschen abhalten und sagen: Jesu Wort ist zu spitz. “Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis”, auch wenn uns immer wieder Menschen aufhalten und sagen: Jesu Weg ist zu steil. “Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis”, auch wenn uns Menschen immer wieder fernhalten und sagen: Jesu Tür ist zu eng. “Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis”, so wie es unsere Väter formuliert und unsere Lehrer gelehrt haben: “Ich glaube an Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes unseren Herrn.”

Das schließt neben vielem anderen, das in diesem Bekenntnis steckt, auch diese dreifache dringende und herzliche Bitte unseres Textes ein:

1. Lasst uns Jesus hoch halten

Kinder denken auf der Spielplatzebene. Wer auf der Schaukel am höchsten schwingt, mit Steinen am weitesten wirft und im Sandkasten am lautesten schreit, der ist der große Max. Ein pfiffiges Bürschchen wird auf dem Spielplatz hochgehalten. Studenten denken auf der Hochschulebene. Wer mit Prädikatsexamen abschließt, seinen Doktor cum laude macht und sich an die Habilitation wagt, der ist das große Ass. Ein heller Kopf wird auf der Hochschule hochgehalten. Erwachsene denken auf der Berufsebene. Wer 10 Mille verdient, seinen Arbeitstag einteilen kann und andere für sich schaffen lässt, der ist der große Boss. Ein kluger Chef wird im Beruf hochgehalten.

Die damals dachten auf der Tempelebene. Wer am Versöhnungstag den Tempel durchschreitet, den Vorhang zum Allerheiligsten öffnet und dort frisches Opferblut versprengt, der ist der hohe Priester. Ein geweihter Gottesmann wird im Tempel hochgehalten.

Und der Apostel sagt, wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch einen ganz anderen Horizont haben. Wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch eine ganz andere Dimension erobern. Wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch auf eine ganz andere Ebene treten.

Christen denken nämlich auf der Himmelsebene. Wer am Himmelfahrtstag die kosmischen Räume durchschreitet, den Zugang zum göttlichen Hauptquartier öffnet und dort an die Schalthebel aller Macht gelangt, der ist der absolute König. Ein mit Gottes Geist ordinierter und ein in Gottes Macht investierter Jesus Christus wird im Himmel hochgehalten.

Das hat Konsequenzen für unser Denken: Wer bei Jesus an einen edlen Menschen denkt, der mitten in den Elendsquartieren seine Welthungerhilfe in Gang setzt, denkt nichts Falsches. Jesus hat Hungrige satt gemacht, aber wir müssen ihn höher halten. Wer bei Jesus an einen hilfreichen Arzt denkt, der Sterbenskranke wieder auf die Füße stellt, denkt nichts Verkehrtes. Jesus hat Kranke gesund gemacht, aber wir müssen ihn noch höher halten. Wer bei Jesus an einen bedeutenden Propheten denkt, der vollmächtig zur Sache ruft, denkt nichts Schlechtes. Jesus hat Gottes Wort verkündigt, aber wir müssen ihn noch viel höher halten.

Jesus ist der Sohn Gottes, und so addiert Paul Gerhardt die Superlative, “der Größte, der Schönste, der Beste, der Süßte und Allergewisste, aus allen Schätzen der edelste Hort.”

Lasst uns Jesus ganz hochhalten.

Aber hat er damit nicht abgehoben? Ist er damit nicht als Super-Mega-Gott in weite Ferne gerückt? Wird er damit nicht zum kosmischen Weltenlenker, zu dem wir kein Vertrauen mehr haben und von dem wir mit indianischer Spruchweisheit misstrauisch sagen: “Glaube dem nicht, der nicht wenigstens einen halben Mond in deinen Mokassin gegangen ist.”

Der Apostel weiß das, deshalb unterstreicht er im Bekenntnis auch das Zweite:

2. Lasst uns Jesus tief halten

Eines Tages hat er seine königlichen Kleider abgelegt. Der Sohn Gottes, von dem Johannes sagte, dass er nicht wert sei, seine Schuhriemen aufzulösen, kam auf unsere Ebene. Nicht nur einen halben Mond, sondern 30 Jahre lang ging er in unseren Mokassins.

Wir sehen ihn in der Wüste. Dort wird er von der Versuchung attackiert: “Geh deinen Weg und lass dir nichts von oben vorschreiben”, flüstert ihm der Versucher ins Ohr: “Hunger hast du? Ein bisschen Hokuspokus und der ist weg. Ehre suchst du? Verteile Brot und du bist der King. Macht brauchst du? Bete mich an.” Jesus war in der Wüste, aber wir müssen ihn tiefer halten.

Wir sehen ihn in Gethsemane. Dort wird er von der Schwachheit attackiert. Ein zitternder und zagender Herr, der sogar Blut schwitzt, liegt auf den Knien und fleht: “Mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch von mir.” Jesus war in Gethsemane, aber wir müssen ihn noch tiefer halten.

Wir sehen ihn auf Golgatha. Dort wird er von der Verlassenheit attackiert. Rohe Hände richten ihn so, dass er in keinen Schuh mehr passt. Barfuß, halb nackt, ganz zerschlagen legen sie ihn aufs Kreuz. Ein entsetzlicher Schrei zerreißt die trügerische Stille: “Mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Jesus war auf Golgatha, aber wir müssen ihn noch viel tiefer halten.

Wir sehen ihn hineingewickelt ins Leichentuch, hinuntergelegt in die Grabkammer, hinabgestiegen in das Reich des Todes. Jesus war in der Hölle und das ist die unterste Ebene. Jesus hat also nicht nur die Himmel bis zur höchsten Höhe, sondern auch die Hölle bis zur tiefsten Tiefe durchschritten. Lasst uns Jesus ganz tief halten.

Nun gibt es kein Loch mehr, das er nicht kennt. Und wenn einer sagt: “Wer hat schon eine Ahnung von dem Loch, in das ich nach dem Tod meines Mannes gefallen bin?”, dann meldet sich dieser Herr zu Wort: “Ich war schon dort. Ich kenne mich aus. Ich litt auch an diesem Loch.”

Nun gibt es keine Höhle mehr, die er nicht kennt. Und wenn einer sagt: “Wer hat schon eine Ahnung von der Höhle, in der ich mit meiner Krankheit gefangen bin?”, dann meldet sich dieser Herr zu Wort und sagt: “Ich war schon dort. Ich kenne mich aus. Ich litt auch an dieser Höhle.”

Nun gibt es keinen Abgrund mehr, den er nicht kennt. Und wenn eine sagt: “Wer hat schon eine Ahnung von dem Abgrund, in dem ich mich seit dem Abbruch meiner Schwangerschaft befinde?”, dann meldet sich dieser Herr zu Wort und sagt: “Ich war schon dort. Ich kenne mich aus. Ich litt an allen Abgründen.”

Jesus steckte in unserer Haut. Er weiß, wo uns der Schuh drückt. Er ist zum Nachbar unserer Leiden und Schwachheiten geworden.

Deshalb das Dritte in diesem Bekenntnis:

3. Lasst uns Jesus nahe halten

Also ganz nahe zu ihm halten, den heißen Draht zu ihm ganz kurz halten. Das meint der Apostel, wenn er seinen Text mit der Aufforderung abschließt: “Lasst uns herzutreten mit Zuversicht.”

Der Jesus, der die allerfernsten Himmel und allerfernsten Höllen durchschritten hat, wohnt in allernächster Nähe, nicht über die Straße hinüber, nicht um die Ecke herum, keinen Steinwurf weit, sondern in Hörweite, in Rufweite, in engstem Sprechkontakt. Und er ist hilfsbereit, nicht wenn er Zeit hat, wenn er Lust hat, wenn er Sprechstunde hat, nein, er ist hilfsbereit, “wenn wir Hilfe nötig haben”.

Also wenn es in der Schule nicht klappt und die Zeugnisse immer mehr in den Keller rutschen, lasst uns herzutreten mit Zuversicht. Und wenn es in der Familie nicht klappt und einer dem andern zuleide lebt, lasst uns herzutreten mit Zuversicht. Und wenn es in der Fabrik nicht klappt und meine Arbeitsstelle in Gefahr ist, lasst uns herzutreten mit Zuversicht. Und wenn es in der Gemeinde nicht klappt und manche meinen, in eine geistvollere Gemeinde überwechseln zu müssen, lasst uns herzutreten mit Zuversicht. Und wenn es im Herzen nicht klappt mit all den Zweifeln und Sorgen, lasst uns herzutreten mit Zuversicht. Und wenn wir bei alledem keine Hilfe nötig haben, spätestens beim Sterben sind wir alle höchst hilfsbedürftig.

Als es bei Dostojewski, dem russischen Denker und Dichter zu Ende ging, hatte er noch zwei Bitten, die ihm auch erfüllt wurden. Einmal wollte er die Geschichte vom verlorenen Sohn hören, wie da droben der Herr dem durchgebrannten und abgebrannten Schwerenöter die Tür zum Vaterhaus öffnet. Und dann wollte er noch die Geschichte von der Taufe am Jordan hören, wie da unten der Herr seinen Weg ins Leiden hinein beginnt. Mit dem Blick nach oben und dem Blick nach unten wollte er dem Tod ins Angesicht blicken.

Er wusste es also, und wir sollen es auch wissen: Wer diesen Jesus ganz hochhält und diesen Jesus ganz tief hält, der ist von ihm ganz nahe und fest gehalten, heute, morgen, immer.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]