Ganz herzlichen Dank für die Einladung und auch für die Begrüßung. Ich bin gerne zu euch gekommen, meine lieben Geschwister. „Sturm erprobt“ – das ist das Wort, das über dem ganzen Kongress steht. Deshalb habe ich mich heute früh gefragt: Lasse ich es bei der Sturmfrisur, mit der ich aufgewacht bin, oder zähme ich die Haare?
Ich habe mich dann für die widerspenstige Zähmung entschieden – auch aus dem Grund, dass nicht jetzt eine Stunde lang ein paar Leute denken, Christoph Redel war angekündigt, warum ist Boris Johnson gekommen?
Stellt euch vor, euch wird auf der Einkaufsstraße in eurem Ort ein Mikrofon unter die Nase gehalten und ihr werdet gefragt: „Was oder wen liebst du?“ Ich vermute, dass ich nicht als Erstes schlagfertig sagen würde: „Ich liebe die Bibel.“ Ich denke, ich würde schon sagen, dass ich Jesus liebe und meine Familie. Aber die Bibel lieben – das wäre nicht das Erste, was ich sagen würde.
Ich habe überlegt, warum das so ist. Könnte es damit zusammenhängen, dass die Bibel doch schon ein ziemlich dickes, mächtiges Buch ist? Und irgendwie auch so alt? Wenn wir die Bibel lesen, begegnet uns vieles, was wir aus unserer Alltagswelt nicht kennen. Im Alten Testament ist die Rede von Stämmen und Nomaden, die durch die Wüste ziehen. Da tauchen Kamele auf, die uns wahrscheinlich höchstens noch im Zoo begegnen. Wir reden auch nicht mehr von einer römischen Herrschaft, die besteht. Und wir wohnen mit unseren Familien üblicherweise nicht mehr in einem Haus, das ziemlich exakt aus einem großen Raum besteht, in dem sich faktisch das gesamte Leben abspielt.
Es ist eine Welt, die doch relativ weit weg ist – jedenfalls von uns, die wir in Europa leben. Und doch gibt es etwas, Verschiedenes, aber auch etwas, das uns mit den Menschen der Bibel verbindet und uns die Bibel über die Jahrtausende hinweg ganz nahebringt.
Und das ist das hier: Wenn die Bibel im Psalm 119 oder auch in anderen Texten davon spricht: „Dein Wort ist in meinem Mund süßer als Honig“, da passiert etwas bei uns. Denn ich glaube, wir alle wissen, wie Honig schmeckt. Honig war in Israel wichtig, und zwar, um Speisen Süße zu geben – also um Dinge zu süßen. Der Rohrzucker, wie wir ihn heute kennen, war unbekannt. Das heißt, der Honig war dafür da, dass Dinge süß werden.
Und auf Süßes sprechen wir an. Es gibt durchaus immer Menschen, die das nicht so sehr mögen, aber macht mal den Test – oder lasst es bei Kindern: Bietet einem einjährigen Kind eine Gewürzgurke und Eis an. Ich ahne, wie dieses Experiment ausgeht.
Wir haben vier Kinder und haben manches ausprobiert, unter anderem die ersten zwei Kinder mehrere Jahre überhaupt von Süßigkeiten fernzuhalten. Das hat bei den jüngeren Kindern nicht mehr geklappt. Sobald sie merken, dass – sag ich mal – dieses Lächeln auf dem Gesicht ist, das die Süße in unsere Gesichtszüge zaubert, dann merken sie, dass es da etwas gibt, was sie gerade verpassen.
Unsere jüngste Tochter war auch so eine Naschkatze. Sie hat uns später erzählt, dass sie auch gerne mal heimlich still und leise an das Tiefkühlfach ging, um Eis herauszuholen. Und dann war sie clever genug, die Verpackung vom Eis beim Gelben Sack nicht oben aufzulegen – denn dann hätte es ja jeder gesehen –, sondern sie hat sie eingegraben.
Nun könnte ich sagen: Freunde, lasst uns Naschkatzen am Wort Gottes werden. Aber es ist nicht so, dass dieses Wort unser Leben nur garnieren soll – als Topping, als das Süße, das oben draufkommt.
In der Bibel finden wir vielmehr das Wort des lebendigen Gottes, das wir im Leben und im Sterben brauchen. Es ist das Wort, auf das wir unser Leben gründen können, weil es Gottes Wort ist. Der lebendige Herr der Welt spricht hier zu uns.
Ich möchte heute Morgen in meinen Überlegungen diesem Gedanken in vier Schritten nachgehen. Für mich ist es ausreichend, wenn ihr einen Satz mitnehmt, der euch im Herzen getroffen hat. Mein Anspruch ist nicht, dass ihr euch alles merkt oder versucht, das, was ich sage, umfassend nachzuvollziehen.
Es geht mir vielmehr darum, dass ihr von einem Satz berührt werdet, den Gott heute Morgen ganz persönlich für euch hat.
Mein erster Gedanke: Gott kommt uns nah in seinem Wort. Habt ihr schon einmal versucht, einen Kaktus zu umarmen? Keine so gute Idee. Habt ihr schon einmal gemerkt, wie schwierig es ist, dass Menschen sich näherkommen können? Wir sagen dann oft: Na ja, die Chemie hat nicht gestimmt.
Bei uns Menschen reicht es schon, dass die Chemie nicht stimmt, und wir können keine Nähe herstellen. Da geht es um Menschen. Und jetzt stellt euch Gott vor. Gott schafft diese Welt, und der große, lebendige Gott schafft diese Welt und will uns nahekommen. Wie kann das sein?
Wir sagen von Gott, er ist ewig. Gott ist allmächtig, Gott ist allwissend, Gott ist heilig. Wenn wir das mit dem abgleichen, wer wir sind und was wir sind, dann merken wir, wie gewaltig der Abstand ist, wie unendlich der Abstand zwischen dem heiligen Gott und uns Menschen. Aber Gott nimmt diese Mammutaufgabe auf sich, und Gott kommt uns nah.
Diese Aufgabe ist für ihn doppelt herausfordernd. Nicht nur, weil Gott der Schöpfer und wir Geschöpfe sind, sondern weil wir rebellische Geschöpfe sind, weil wir Sünder sind. Aber auch wenn wir als Menschen untreu sind, bleibt er doch treu und kann sich selbst nicht verleugnen.
Gott sucht die Nähe des Menschen. Gott hat die Welt durch sein Wort geschaffen, und durch sein Wort kommt Gott uns nah. Das Wort Gottes überbrückt den Graben zwischen dem lebendigen, heiligen Gott und unsündigen Menschen.
Ich habe einen Autor mitgebracht: Johann Gottfried Hamann. Er war ein Zeitgenosse des Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Hamann selbst lebte auch in Königsberg, und die beiden waren befreundet. Er war ein kritischer Freund Kants. Hamann kam auf einer Geschäftsreise in London durch die Lektüre der Bibel zum lebendigen Glauben an Jesus Christus. Er lernte, der Bibel zu vertrauen.
Hamann spricht in einem seiner Texte von einer dreifachen Erniedrigung Gottes. Er sagt, dieser große Gott macht sich selbst gering, und er tut es in dreifacher Weise.
Er tut es darin, dass Gott den Menschen mit seinem Odem belebt. Wir dürfen Gottes Odem in uns haben und davon leben. Gott erniedrigt sich darin, dass er im Sohn Mensch wurde. Gott nimmt als Mensch all das auf sich, wodurch wir als Menschen gehen.
Nach Hamann besteht die dritte Erniedrigung Gottes darin, dass Gott sich den Menschen in ihrer Sprache offenbarte. Wir könnten Gott sonst nicht verstehen, wir könnten Gott sonst nicht nahen, wenn Gott nicht den Weg in die Erniedrigung ginge, dass er uns in menschlicher Sprache begegnet.
„Gott ein Schriftsteller“ – das ist der Ausruf des Staunens, den Hamann ans Ende stellt. Gott ist ein Schriftsteller und ein Fleißiger: 66 Bücher, eintausendeinhundert Kapitel, einunddreißigtausend Verse. Wer die Bibel von vorne bis hinten durchliest, braucht dafür eine Weile.
Aber warum ist das so? Warum begegnet uns Gott in diesem Buch, das selbst im Dünndruck immer noch dick ist? Nun, dieses Buch ist nichts anderes als Gottes Selbstvorstellung an uns.
Meine Selbstvorstellung könnte relativ kurz ausfallen. Ich überreiche jemandem meine Visitenkarte. Dort sind die wichtigsten Infos quasi drauf, und man kann mich sozusagen auch kontaktieren. Es ist nicht zu erwarten, dass Gott sich in Form einer Visitenkarte vorstellt. Aber dieses Buch ist Gottes Visitenkarte. Gott stellt sich uns vor.
Diese Selbstvorstellung Gottes durchbricht die Mauer des Desinteresses, die Mauer des Misstrauens, die Mauer der Gleichgültigkeit. Wir finden es in der Bibel immer wieder, wie Gottes Wort Menschen anspricht.
Ich rufe nur einige Namen auf: Mose, der die Schuhe auszieht und dann im Dornbusch Gottes Wort, Gottes Reden begegnet: „Ich bin, der ich bin“, „Ich werde sein, der ich sein werde“. Oder Samuel, der im Tempel schläft und aus dem Schlaf gerissen wird, weil Gott ihn anruft, weil Gott ihn anspricht. Oder Andreas und Petrus, die vom Fischen weg von Jesus gerufen werden und dem Wort dieses Jesus folgen.
Und schließlich Paulus, der auf der Straße nach Damaskus unterwegs ist, um die Gemeinde Jesu zu verfolgen, und den der Anruf Gottes vom Pferd wirft. Gottes Wort hat Kraft, Gottes Wort schlägt ein, Gottes Wort durchkreuzt die Pläne unseres Lebens.
Die Bibel entwickelt keine Theorie darüber, was es heißt, dass Gott gegenwärtig ist. Wir singen das in einem alten Choral: „Es Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten.“ Die Bibel zeigt uns nicht, was es heißt, dass Gott gegenwärtig ist, denn sie geht davon aus, dass Gott seiner Schöpfung gegenwärtig ist.
In der Geschichte des Volkes Gottes mit Israel, in der Geschichte Jesu mit seinem Gottesvolk, kommt es auf eine Pointe an, auf etwas anderes: nämlich den Gott, der immer da ist. Entscheidend ist, dass Gott uns sein Angesicht zuwendet, dass Gott uns gnädig begegnet.
Gott ist da, das gilt erst einmal grundsätzlich. Aber es geht im Verhältnis Gottes zu uns nicht einfach darum, dass Gott da ist wie die Luft zum Atmen, sondern darum, dass Gott uns sein Angesicht zuwendet.
Denkt ihr noch an die Jahreslosung? „Ich bin ein Gott, der dich sieht.“ Das Sehen geschieht mit dem Angesicht: „Ich bin ein Gott, der dich sieht“, oder „Du bist ein Gott, der mich sieht“, sagt Hager.
Deshalb finden wir in der Bibel so viele Worte, die von Gottes Angesicht sprechen. Es geht darum, dass wir Gottes Angesicht suchen, dass wir die Zuwendung seines Angesichts brauchen.
„Was betrübst du dich, meine Seele, und bist unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht.“ Das Angesicht Gottes zu erfahren bedeutet, Hilfe zu bekommen. Das Angesicht Gottes zugewendet zu bekommen bedeutet, Wegleitung von Gott zu erhalten.
Deshalb fleht der Psalmbeter immer wieder: „Wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit und verbirg nicht dein Angesicht vor deinem Knecht, denn mir ist Angst, erhöre mich eilends.“
Merkt ihr, dass das Hören auf das Wort Gottes hier zusammengebracht wird mit der Zuwendung des Angesichts Gottes? Wenn uns jemand fragt: „Wie ist das, dass Gott dir sein Angesicht zuwendet?“ – dann ist es darin, dass Gott sein Wort in unser Leben hineinspricht, dass Gott sich in der Vielzahl der Stimmen, die in uns sind und die außerhalb von uns sind, mit seinem Wort vernehmbar hineinspricht. Nicht unbedingt laut, aber so, dass wir aufmerken.
Gottes Angesicht steht für seine Majestät und für seine Güte zugleich. Wir sehen das auch an Jesus, wir sehen das an dem ewigen Wort, von dem die Bibel sagt: „Das Wort wurde Fleisch.“ Jesus, der als zweite Person der Trinität Gottes ewiges Wort ist, hält seine Göttlichkeit nicht fest wie ein Raubgut. Sondern er legt sie nieder und kommt zu uns in diese Welt, begegnet uns als das Bild Gottes, wie es in Kolosser 1,15 heißt.
In Jesus hören wir unverfälschtes Wort Gottes. In Jesus begegnet uns das Wort Gottes in Person. Wir sprechen manchmal davon: „Dieses Bild hat mich angesprochen.“ Merkt ihr, wie das zusammenläuft? Wir sehen da etwas, aber es ist eigentlich eher ein Hören: „Dieses Bild hat mich angesprochen.“
Ich erinnere mich, wie ich mit zwei amerikanischen Freunden, einem älteren Ehepaar, die Gemälde alter Meister in Kassel, Wilhelmshöhe, besucht habe. Uns haben diese alten Meister so sehr angesprochen, dass die Alarmanlage losging. Man darf nämlich nicht näher als 1,50 Meter an diese Bilder herankommen. Ja, und das hatten wir irgendwie in unserer staunenden Haltung gegenüber diesen Bildern missachtet. Dann bekommt man gleich Besuch von der Security.
Aber diese Bilder haben uns angesprochen. Jesus ist das Bild Gottes, das uns ansprechen will. Jesus ist das Wort Gottes, das in unser Herz sprechen will. Jesus ist das lebendige Wort Gottes, das in uns regieren will.
Es ist ein Wort, vor dem wir kapitulieren dürfen. Es ist ein Wort, vor dem wir in die Knie gehen dürfen. Es ist ein großes Wort. Es ist ein kraftvolles Wort. Es ist ein lebendiges Wort.
Jetzt können wir sagen: Ja, okay, also Jesus ist das Wort Gottes. Warum dann trotzdem noch dieses dicke Buch? Auf Jesus läuft doch alles zu. Was die Propheten sagen, findet seine Mitte in Jesus. Was die Apostel uns überliefern, findet seine Mitte in Jesus.
Gott stellt sich uns vor – in diesem dicken Buch, in einem Buch, das ja keinen Standards unserer Zeit mehr standhält. Da gibt es Wiederholungen, ja, vier Evangelien, es gibt Parallelberichte, im Alten Testament zwei Schöpfungsberichte und so weiter. Warum so viel? Warum dieses dicke Buch?
Nun, das Erste, was wir in der Beschäftigung mit Gottes Wort lernen sollen, ist folgendes: Dieses Buch ist uns nicht gegeben, damit wir Gott auf den Begriff bringen oder ihn in den Griff bekommen.
Das heißt, dieses Wort ist etwas ganz anderes als der Beipackzettel bei einem Medikament oder die Gebrauchsanweisung für ein technisches Gerät. Solche Anleitungen gibt es heutzutage immer weniger, weil technische Schritte oft selbst erklärend sein müssen, sonst verschwinden die Produkte vom Markt. Beipackzettel gibt es vielleicht noch, aber sie dienen dazu, die Medikation zu verstehen und den Gebrauch in den Griff zu bekommen.
Genau das geschieht nicht, wenn wir uns auf Gottes Wort einlassen. Gott begegnet uns in seinem Wort, doch er wird uns nicht verfügbar. Gott lässt sich weder auf den Begriff bringen noch in den Begriff bekommen.
Ich mache das an einem ganz einfachen Beispiel deutlich. Beide Verse habt ihr vielleicht schon mal gelesen; sie stammen aus dem Propheten Hesekiel. Da heißt es in Hesekiel 18,31: "Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist." Und dann in Hesekiel 36,26 heißt es: "Und ich, Gott, will euch ein neues Herz und einen neuen Geist geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen."
Jetzt können wir mit den Maßstäben unserer Logik herangehen und sagen: "Du hast einen Widerspruch." So ist das mit der Bibel. Wir können ihr nicht trauen, es gibt sogar Widersprüche, Spannungen, Unklarheiten, Übersetzungsschwächen und so weiter.
Die Bibel lädt uns nicht dazu ein, ihrer Logik auf den Grund zu gehen, sondern sie als Einladung zu einer Beziehung zu verstehen. Und in einer Beziehung hat vieles sehr Unterschiedliches Platz.
Ich habe darüber nachgedacht und festgestellt: Wenn ich meine Kommunikation mit meiner Frau überprüfe, würde ich sagen, dass dort beides vorkommen kann. Ich kann zu meiner Frau sagen: "Also, musste diese Anschaffung jetzt wirklich sein? Und musste sie zu diesem Preis sein?" Ich muss gleich dazu sagen, meine Frau ist sehr sparsam. Aber es kann trotzdem sein, dass ich das mal sage, weil mir das nicht einleuchtet. Warum muss das so teuer sein?
Es gibt aber auch eine andere Situation, in der ich zu meiner Frau sage: "Ich bin nicht hier, um zu sparen." Das erste wäre eher eine Alltagssituation, zum Beispiel bei einem Haushaltsgerät oder Ähnlichem. Der zweite Satz stammt aus dem Urlaubskontext: Ich fahre nicht in den Urlaub, um zu sparen.
Merkt ihr, eigentlich ist das ein Widerspruch: Will ich jetzt, dass sie spart, oder will ich, dass sie nicht spart? Aber dieser Widerspruch verschwindet, wenn klar wird, dass es hier nicht um Logik geht, sondern um eine Beziehung. Es geht um die Beziehung, die ich zu meiner Frau habe.
Und in der Bibel geht es um die Beziehung, die Gott zu uns hat. In dieser Beziehung hat ein Reichtum an Kommunikation seinen Platz.
Gott hat ein Wort für unser Herz. Manchmal ist es ein Wort, in dem Gott uns auffordert, uns von unserer Übertretung abzuwenden. Gott sagt: Es ist jetzt an dir, Nein zu sagen. Es ist an dir, dich abzuwenden von diesem Bösen. Es ist an dir, aufzuhören mit dem, was du da tust.
Und dann gibt es ein zerbrochenes Herz. Da gibt es jemanden, der sagt: "Herr, ich will frei werden von dieser Verhaltensweise. Herr, ich will aufhören mit dem, was ich getan habe. Schenkst du mir ein neues Herz? Ich kann es nicht."
Und dann kommt die Verheißung Gottes: "Ich will dir ein neues Herz und einen neuen Geist geben."
Beides hat in der Beziehung des lebendigen Gottes zu uns seinen Platz. Und wir brauchen beides. Deshalb geht es hier um ein Wort, das uns in eine Beziehung hineinstellt.
Mit diesem Wort werden wir nicht fertig. Ob du im ersten Jahr deines Glaubenslebens stehst und noch viele wunderbare Entdeckungen mit unserem Herrn vor dir hast, oder ob du schon 40 Jahre mit diesem Herrn unterwegs bist – mit diesem Wort wirst du in diesem Leben nicht fertig.
Dieses Wort ist reicher als aller Reichtum dieser Welt, den wir uns vorstellen können. Und dieses Wort hat ein Wort für unser Herz.
Unsere Lebenssituationen sind unterschiedlich, unsere Umstände verändern sich, und Gott spricht uns in unsere jeweilige Situation hinein.
Deshalb wird derjenige, der die Bibel unbeteiligt liest, der sie aus der Distanz heraus sezieren und analysieren will, feststellen, dass es Widersprüche gibt. Aber der oder die, die in einer Beziehung mit dem Autor dieses Wortes stehen, mit dem lebendigen Gott, wissen: Nein, hier geht es nicht um Widersprüche.
Ich weiß, dass hier dieses Wort steht, das ich damals gebraucht habe. Diese direkte, klare Ansage habe ich von Gott gebraucht, als ich mich in Dinge verfangen habe, die nicht gut waren.
Und hier ist das Wort, das ich damals gebraucht habe, als ich zerbrochen war, als ich Mobbing erfahren habe, als ich ausgegrenzt wurde, als ich nicht mehr weiter wusste, als es für mich nur noch eine Sackgasse gab.
Da kam Gott und hat mir ein neues Herz geschenkt.
Die Bibel ist auch deshalb so dick, weil Gott sich mit uns Zeit nimmt. Denn was gehört zu einer guten Beziehung? Zeit miteinander zu verbringen.
Wir leben in einer wahnsinnig beschleunigten Zeit. Meine Hochschule hat letztes Jahr ein neues Gebäude eingeweiht. Wir sind sehr dankbar für diesen Neubau, und die Pulte wurden so mit Hightech ausgestattet, dass man im Unterricht ganz viel machen kann.
Ich habe damals die technische Einweisung verpasst, und ein Jahr später sagt der ITler: "Das wird jetzt alles neu an den Pulten." Ich dachte, so kurz ist die Halbwertzeit technischer Infrastruktur heute. So wahnsinnig schnell geht das heute. Jetzt brauchen wir eine neue Einweisung.
Gott lässt sich mit seinem Wort die Zeit, die wir brauchen.
Gott kommt zu uns, fügt uns in seine Gemeinde ein und stellt sich uns in Jesus vor als den Weg.
Merkt ihr mal, was für eine dynamische Metapher das ist? Was Christen auszeichnet, ist nicht ein Standpunkt, sondern dass sie auf einem Weg sind – der Weg, der unser Herr selbst ist.
Jesus sagt: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben."
Und auf diesem Weg, den wir mit Jesus gehen, können wir nicht in die Irre gehen.
Ein zweiter Gedanke: Mit Gott in Beziehung, Vertrauen wagen.
Ich hatte von der Beziehung gesprochen, die Gott zu uns aufbaut, indem er den riesigen, unendlichen Abstand zwischen seiner eigenen Heiligkeit und unserer Kleinheit, unserer Geschöpflichkeit, überbrückt. Gottes Wort sehnt sich nach einer Antwort. Gott sehnt sich in seinem Wort danach, dass wir auf das antworten, was er uns schenkt.
So führt uns Gott in eine Beziehung hinein, die quasi aus zwei Vektoren besteht. Das eine ist die Beziehung zu Gott, das andere die Beziehung zu unserem Nächsten, zur Gemeinde, zu den Menschen, die uns anvertraut sind und die wir mit dem Wort Gottes erreichen wollen.
Schauen wir uns in den nächsten Minuten einmal diese Beziehung zu Gott an. Ich habe sie überschrieben mit "Vertrauen wagen", denn die Beziehung zu Gott – sich auf diese Beziehung einzulassen – ist ein Wagnis. Man kann es nicht anders sagen.
Glaube macht Sinn oder Glauben macht Spaß – das kann man nicht einfach so versprechen. Denn der Glaube macht nicht einfach Sinn, jedenfalls nicht, wenn wir den Sinn dieser Welt suchen. Die Bibel ist da sehr viel ehrlicher und realistischer.
Nochmal ein kurzer bibelkundlicher Durchgang: Da sind die Erzeltern – früher hat man gesagt Erzväter, heute sagen wir Erzeltern. Die Erzeltern empfangen quasi eine Nachkommensverheißung. Dafür braucht es ja auch zwei. Sie empfangen diese Verheißung, aber die Frau ist unfruchtbar. Es ist nicht einfach, dass Gott in das Leben eines Menschen kommt und alles sofort Sinn ergibt. Zuerst stellt sich die Frage: Warum? Wie, Gott, passt das zu deinem Wort?
Oder da ist Mose, der als Führer des Volkes bestellt wird, der bevollmächtigt wird, das Volk aus Ägypten herauszuführen. Aber das Volk ist ungehorsam und ungeduldig. Es ist kein einfacher Weg, auf den Mose gestellt wird. Gott gibt eine Verheißung, doch es braucht bei Mose und Josua immer wieder aufs Neue das Vertrauen darauf, dass Gottes Wort sich als wahr erweisen wird – und zwar gegen allen Augenschein des Moments.
Oder da sind die großen Verheißungen, die über David ausgesprochen sind, über das Haus Davids. Dann lesen wir davon, dass David mit Gott siegt, und wenige Seiten weiter, dass David gegen Gott sündigt. Wir fragen uns: Kann diese Verheißung jemals wahr werden?
Sich auf die Beziehung zu Gott einzulassen, verlangt uns Vertrauen ab. Auch Paulus erlebt das. Paulus, wie ich schon sagte, wird vom Pferd gerissen, kann erst einmal ein paar Tage lang nichts sehen und wird dann zum großen Apostel der Völker. Doch auch für Paulus wird sehr schnell klar: Die Umkehr, die er erlebt hat, führt ihn nicht in einen geschmeidigen Weg der Nachfolge, in ein sorgenloses Leben.
Paulus erkennt sehr schnell, dass er in der Beziehung zu Gott alles hat – und das kann Verschiedenes bedeuten. Er kann niedrig sein und hoch sein, ihm ist alles und jedes vertraut. Satt sein und hungern, Überfluss haben und Mangel leiden – er vermag alles durch den, der ihn mächtig macht.
Merkt ihr, was hier geschieht? Die Bibel ist sehr realistisch. Sie weist uns auf einen Weg, ohne uns die Garantie zu geben: Geh mit Jesus, und alles wird gut.
Die Väter des Glaubens haben das auf unterschiedliche Weise ausgedrückt. Einer schreibt: Gott nimmt uns nicht immer die Last ab, aber er stärkt uns die Schultern – die Schultern dafür, dass wir niedrig sein und hoch sein, satt sein und hungern können.
Ein anderer Glaubensvater sagt: Gott ändert nicht immer die Umstände, aber er verändert uns, sodass wir die Umstände in neuem Licht sehen.
Wie geschieht das? Indem wir uns auf Gottes Verheißungen einlassen. Von diesen ist die größte Verheißung nicht, dass du alle irdischen Gaben haben wirst, die du dir wünschst oder von denen du meinst, dass du sie brauchst. Sondern in Gottes Wort empfangen wir die eine Gabe, die wirklich zählt: Vergebung – Vergebung unserer Schuld, Vergebung unserer Sünden, den Anfang, den Beginn, die Kraft zu einem neuen Leben.
Wenn wir uns also auf Gottes Wort einlassen, wenn wir uns auf einen Weg einlassen, der beständig begleitet ist von diesem Buch, das sich wie ein Raum über unser Leben aufspannt, ein Wort, das wir durchwandern dürfen, abschreiten dürfen, dann braucht es dafür geöffnete Augen des Herzens.
"Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz."
Als ich Psalm 119 aufs Neue gelesen und meditiert habe, wurde mir klar: Eigentlich ist das ein Gebet, das sich quasi wie eine Liturgie an den Beginn jeder stillen Zeit am Morgen setzen müsste. Denn ohne die geöffneten Augen des Herzens können wir Gottes Wort nicht verstehen – weder als Gesetz noch als Evangelium.
Bleibt es ein fernes Wort, bleibt es ein dumpfer Hall, bleibt es eine widersprüchliche Anordnung von Texten. Deshalb sind die Lektüre der Bibel und die Praxis des Gebets eng miteinander verbunden.
Wenn wir die Psalmen öffnen, da, wo Menschen mit Gott reden, da, wo sie sich öffnen für Gottes Wort, begegnen uns immer wieder diese Gebete: "Öffne, Herr, mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz."
Und wenn die Augen unseres Herzens geöffnet werden, dann werden wir Wunder sehen, dann werden wir Wunder erleben. Denn die Augen des Herzens öffnen uns für Gottes Charakter, für seine Absichten, für Gottes Herzenssache.
Gottes Herzenssache ist seine Gemeinde. Gottes Herzenssache sind die Kinder, die ihm in der Einfalt des Glaubens nachfolgen.
Das ist keine in unserer Zeit populäre Einstellung. Wir wollen alles verstehen, wir hinterfragen alles, wir haben eine Grundskepsis, eine Haltung des Verdachts. Und hier, in Gottes Wort, werden wir eingeladen, zu vertrauen – auch dort, wo wir nicht verstehen.
Ich habe den Eindruck, dass in den vergangenen Jahren – ich kann es nicht genauer sagen, welchen Zeitraum das umfasst, aber ich habe so einen Eindruck – dass es eine bestimmte Schlagseite gibt, die bis in die evangelikale Verkündigung hineinreicht.
Und es ist die Schlagseite, dass wir uns aus dem Reichtum des Wortes Gottes ganz stark auf das Moment des Zuspruchs und der Ermutigung konzentrieren. Du bist gut, du bist schön, du bist wertvoll, du bist von Gott geliebt, du bist angenommen.
Und nichts davon ist falsch. Es liegt aber eine Gefahr darin, nur diesen einen Aspekt stark zu machen – auch wenn ich verstehen kann, dass wir uns an diese Zusagen klammern. Denn viele von uns, jedenfalls die, die im Berufsleben stehen, leben unter Hochdruck, unter enormem Leistungsdruck, auch irgendwie unter Konsumdruck – ihr merkt schon, überall drückt es.
Wir sehnen uns danach, diesem Druck zu entkommen. Und dann erleben wir bei Gott ein Gegenüber, das uns nicht weiter zudrückt, sondern in die Arme nimmt und sagt: "Hier bei mir darfst du sein, du musst nichts leisten."
Und doch ist es wichtig, dass wir nie aus dem Blick verlieren: Das lebendige Wort Gottes begegnet uns in der doppelten Gestalt von Zuspruch und Anspruch.
Die Bibel fordert uns heraus, im Gehorsam des Glaubens uns dem Willen des Vaters unterzuordnen, den Weg zu gehen, den Jesus uns vorlegt, uns an seine Gebote zu halten.
Ich habe das mal in folgendem Satz formuliert, der ganz viele Gs enthält – ihr müsst aber nicht gehen, könnt bleiben: Gottes Gebote sind Geländer für den Gehorsam des Glaubens.
Gottes Gebote sind Geländer für den Gehorsam des Glaubens. Geländer sind doch nichts Schlimmes. Geländer sind etwas sehr Hilfreiches.
Wer im Gebirge unterwegs ist und an einem Steilhang so etwas wie ein Geländer hat, wird wahrscheinlich dankbar sein. Das Geländer gibt uns Führung, gibt uns Stabilität.
Und die Gebote Gottes, die Wunder von Gottes Geboten, sollen uns die Augen geöffnet werden. Die Gebote Gottes sind ein Geländer, das uns hilft, an der Hand unseres Herrn zu gehen.
Aber warum fällt es eigentlich so schwer, Gottes Geboten zu folgen? Wir sind keine Gesellschaft, die einhellig zustimmt, und wir sind insgesamt eher von Strömungen umgeben, die skeptisch sind, wenn es um Sünde, Gehorsam, Nachfolge und diese Dinge geht.
Warum fällt es so schwer, Gottes Geboten zu folgen – vor allem auch in Fragen von Sexualität, Partnerschaft, sehr persönlichen Fragen der Lebensführung?
Nun, ich glaube, es hat mit etwas Innerem und Äußerem zu tun. Es hat mit dem Inneren zu tun, dass in unserem Herzen immer noch etwas ist, was neu die Frage stellt: Gott, meinst du es wirklich gut mit mir? Du sagst mir, dass ich hier einen Weg gehen soll, den ich mir gar nicht vorstellen kann. Das ist so schwer, das ist unmöglich. Kann ich dir wirklich vertrauen? Oder enthalten mir deine Gebote das Eigentliche, die Fülle meines Lebens vor?
Vielleicht kennt ihr diese Fragen des Zweifels. Ich muss gestehen, wenn ich über die Jahrzehnte meines Lebens, beginnend auch vom Theologiestudium, zurückschaue, waren meine Probleme eigentlich nie so sehr intellektuelle Zweifel: Gibt es Gott? Kann Gott in der Geschichte wirken? Und so weiter.
Sondern was ich kenne und was mich viel tiefer trifft als intellektuelle Fragen, ist dieser dämonische Zweifel: Meint es Gott wirklich gut mit dir? Oder errichtet Gott die Schranke des Gebots, weil dahinter die Wiese viel grüner ist und wir da nicht hin sollen, weil er uns das nicht gönnt?
Kennt ihr das? Die Bibel will uns aus diesen Zweifeln herausführen, indem sie uns an Jesus weist, an den Gekreuzigten, der den Weg des Gehorsams gegangen ist bis ans Ende.
Ich zitiere abschließend zu diesem Punkt Mark Twain, ein irgendwie auch Spötter, kann man sagen, aber er hat manches Kluges und Gutes gesagt. Er hat einmal gesagt: "Ich habe keine Schwierigkeiten mit dem, was ich in der Bibel nicht verstehe. Probleme machen mir die Stellen, die ich sehr gut verstehe."
Theologen sind unfassbar gut darin, hermeneutische Komplexitäten herzustellen und zu sagen: Es ist alles gar nicht so einfach und muss ausgelegt werden usw. Aber ich glaube, häufig ist es tatsächlich so, wie Mark Twain sagt.
Wir haben schon richtig gehört, wir haben schon verstanden, was dieses Wort uns sagt – aber wir wollen es nicht hören.
Drittens: Mit dem Nächsten in Beziehung Liebe weitergeben.
Ich hatte bereits über die Beziehung gesprochen, zu der Gott uns durch sein Wort einlädt. Wir sind mit Gott in Beziehung, bleiben mit ihm auf dem Weg, vertrauen ihm die Führung unseres Lebens an und gehen mit ihm weiter. Doch wir sind nicht allein unterwegs.
Wenn man John Bunyan liest und seine Pilgerreise betrachtet – ein gutes Buch, das ich empfehlen würde – muss man eine Sache bedenken: Anders als bei John Bunyan, der Christian, sind wir als Christen tatsächlich nicht allein unterwegs, sondern als Volk Gottes. Das bedeutet auch, dass der Blick nach rechts und links immer wieder wichtig ist: Wer ist da mit mir gemeinsam auf dem Weg?
Gottes Wort stellt uns also auf den Weg des Glaubens und zugleich in die Gemeinschaft der Geschwister und in diese Welt mit ihrer Not. Der Apostel Johannes erinnert uns daran: Wenn jemand spricht, ich liebe Gott und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.
Das ist ein starkes Wort. Hier wird einfach gesagt: Du kannst zehnmal sagen, dass du Gott liebst, aber wenn das nicht sichtbar wird in der Beziehung zu den Geschwistern, dann bist du ein Lügner. Das muss man erst einmal aushalten, sich das sagen zu lassen. Es wird begründet damit, dass wir Gott nicht sehen können, während der Bruder oder die Schwester uns direkt vor die Augen gestellt sind.
Das erste Bewährungsfeld unseres Vertrauens auf Gott, unseres Glaubens und Vertrauens auf sein Wort sind die Menschen, die uns unmittelbar zugeordnet sind – das ist die Familie. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass wir sie uns nicht ausgesucht haben. Ich habe nicht ausgesucht, wer meine Eltern sind, habe mir nicht ausgesucht, dass ich in der Geschwisterfolge an mittlerer Stelle stehe, und all das, was das an „Sandwich-Klischees“ nach sich zieht, habe ich nicht ausgesucht. Trotzdem bin ich verantwortlich, meine Beziehung zu diesen Menschen gut zu gestalten.
Dann kommen wir in die Gemeinde. Natürlich sagen wir heute immer mehr: Ich suche mir die Gemeinde. Aber wenn wir uns einer Gemeinde anschließen, ist es Gott, der Menschen dazufügt. Und wir merken: Oh, habe ich mir gar nicht so ausgesucht, aber es ist jetzt das Volk Gottes, in das du hineingestellt bist.
Eines der häufigsten Wörter im Neuen Testament ist das griechische Wort allelon – „einander“. Es kommt sehr häufig vor. Ich zitiere nur mal: „Nehmt einander an“, „Beneidet einander nicht“, „Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen“, „Ordnet euch einander unter in der Furcht Christi“. Die ganzen Paulusbriefe sind voll von diesem „Einander“, „Miteinander“.
Du kannst nicht Christ für dich sein. Du kannst deine Beziehung zu Jesus nicht für dich allein leben. Denn in dem Moment, wo du Kind Gottes bist, hast du eine große Familie gewonnen – eine große Familie bekommen. In dem Moment, wo du zum Glauben an Jesus Christus gekommen bist, bist du Glied geworden an einem Organismus, wo alles zusammengehört. So wie beim Körper alle Organe, Muskeln und Gliedmaßen zusammengehören, so gehören wir miteinander in die Gemeinde.
Jetzt könnte man sagen: Na ja, aber für das Verhältnis zu meinem Nächsten, vielleicht auch gerade für das Verhältnis zu meinem schwierigen Nächsten, ist das Wort vielleicht auch ein bisschen wenig. Muss das nicht zur Tat werden? Zwei Gedanken dazu:
Im Deutschen stellen wir das sehr scharf gegenüber: nur die Worte und dann die Tat. Im biblischen Verständnis ist das eigentlich ganz anders. Wenn Gott spricht, tut er etwas. Gott sprach, und die Welt kam ins Sein. Es ist nicht so, dass Gott einfach spricht und danach noch etwas tut, sondern indem Gott etwas ausspricht, wird etwas.
Sprachwissenschaftler im zwanzigsten Jahrhundert haben dafür Wörter erfunden, zum Beispiel „performative Sprache“ oder „Sprechakte“. Da passiert beim Sprechen etwas. Ein Alltagsbeispiel: Ein Brautpaar steht vor dem Standesbeamten, und dieser erklärt: „Ich erkläre euch zu Mann und Frau.“ Das ist nicht nur ein Wort, da passiert etwas – ab dem Moment sind sie wirklich verheiratet.
So ist es auch mit dem lebendigen, wirksamen Wort Gottes, das uns in der Bibel begegnet. Es ist ein mächtiges, ein Tatwort. Das Wort Gottes belehrt uns, ermahnt uns, ermuntert uns, tröstet uns, verheißt etwas und leitet uns. Vertrauen wir darauf, dass Gottes Wort diese Wirkmacht hat.
Ich hatte eine Phase, vielleicht auch bedingt durch manche theologische Literatur, die ich gelesen habe, in der ich immer wieder hörte: Wenn Menschen in Trauer oder Not sind, ist es wichtig, nicht einfach ein Trostwort aus der Bibel zu geben – so im Sinne eines billigen Trostes. Das war immer die Assoziation: Ihnen eine Grußkarte zu schicken, das ist ein billiger Trost, nach dem Motto „auf jeden Bruch ein Bibelspruch“. Ich dachte, vielleicht muss die Person erst selbst verstehen, was diese Situation für sie bedeutet.
Doch ich habe mein Vertrauen neu gefasst, dass wir mit dem Wort Gottes auch in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen großzügig sein sollten. Dazu hat auch die Situation beigetragen, die ich vorhin erzählte: Als ich unter massivem Beschuss im Internet stand, bekam ich unter anderem eine E-Mail von einem englischen Professor, dem ich nicht oft begegnet bin. Doch wenn ich ihm begegnet bin, war er mir immer ein väterlicher Freund. Ich sage euch: Was für ein Segen es ist, einen väterlichen Freund zu haben.
Er schrieb mir eine E-Mail inmitten der Diskussion um sexuelle Orientierung. Es gibt sehr viel fehlgeleiteten Selbsthass, der häufig gegen den eigentlichen Botschafter des Friedens gerichtet ist. Hier passt das Wort des Apostels, der an die Thessalonicher schreibt: „Damit niemand in dieser Zeit der Bedrängnis ins Wanken komme, denn ihr wisst, dass uns dies alles auferlegt ist.“
Dieses Wort hat mich genau in dieser Zeit erreicht. Es hat mir sehr geholfen, den Blick auf Gott zu richten und zu verstehen, dass auch das, was ich gerade erlebe, kein Zufall ist. Es ist nicht einfach eine entfesselte Welt, in der jeder tun und lassen kann, was er will, sondern Gott hat die Dinge unter Kontrolle. Gott sitzt im Regiment. Und wie ihr selbst wisst: „Uns ist dies alles auferlegt.“
Dieses Wort hat mir geholfen, die Last, die ich damals zu tragen hatte, ganz anders zu tragen – als eine Last, die Gott mir auferlegt, damit ich durch diese Zeit hindurchgehe.
Ich bin überzeugt, dass wir einander Worte des lebendigen Gottes zusprechen sollten. Und wir sollten uns davon auch nicht abhalten lassen – gerade in einer Zeit, in der Worte so entwertet sind. Wodurch? Weil wir eine digitale Labergesellschaft sind. Im Internet gibt es keine physische Grenze für irgendetwas. Du kannst schreiben, so viel, so lang und so oft du willst. Aber das Viele entwertet auch das Wort. Es wird beliebig, konturlos, vieles einfach. Das ist eine Wortinflation.
Ich denke an eine Situation an einer früheren Hochschule, wo ich lehrte. Es gab eine schräge Fundraising-Aktion: Es sollte eine bestimmte Summe erreicht werden. Dafür gab es eine Mega-Vorlesung, 77 Stunden Vorlesung – ich weiß nicht mehr genau, ob es 77 waren. Stundenlang sollten wir uns abwechselnd Vorlesungen halten, um Aufmerksamkeit auf die Hochschule zu lenken und so Geld zu generieren.
Mein erster Impuls, als ich die Idee hörte, war: Was für eine Wortinflation! Ist es wirklich so wertvoll, so lange und so viel zu reden? Mein Vorschlag, dass es vielleicht Menschen gäbe, die dafür Geld bezahlen würden, dass wir mal die Klappe halten, machte mich nicht besonders beliebt. In einer Profession, in der ich selbst viel reden muss, war das wohl nicht die beste Idee. Aber so war es.
Das Erste, was wir lernen: Gottes Wort bewirkt etwas. Gottes Wort spricht Menschen an.
Das Zweite, was man lernen kann: Taten sind häufig Wegbereiter für das Wort. Das ist der Ausdruck, den Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik verwendet. Er schreibt: Wenn Wort und Tat in Konflikt geraten, musst du natürlich zuerst den Hungrigen speisen, bevor du ihm das Evangelium weitergibst. Denn er kann das Wort nicht aufnehmen, wenn er fast vor Hunger stirbt.
So lesen Menschen unser Leben. Die größte Herausforderung für die Gemeinde Jesu ist, wie wir leben. Die Menschen um uns herum werden sich an dieses dicke Buch erst einmal nicht heranwagen. Wenn sie etwas von dem sehen, was Jesus in dieser Welt tut, dann sehen sie es entweder an uns – oder sie sehen es nicht.
Paulus schreibt: „Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln des Herzens.“ Gottes Geist macht uns lesbar.
Als geliebte Christi sollen wir Gottes Wort vernehmbar machen.
Zum Schluss einige kurze Gedanken zu Gottes Wort:
Gottes Wort bewegt die Kunst. Es ist eine Frage der Haltung, wie wir der Bibel begegnen. Ich hatte schon gesagt, dass wir dem Wort angemessen begegnen, wenn wir mit Gebet starten: „Herr, öffne die Augen meines Herzens, damit ich sehe die Wunder in deinem Gesetz.“
Richard Foster, ein geistlicher Autor aus den Vereinigten Staaten, hat ein Buch geschrieben: „Gottes Herz steht allen offen“. Dabei geht es ganz wesentlich um die Bibel. Er schlägt vor, dass wir die Bibel auf eine dreifache Weise lesen. Das ist mein Schlussimpuls, damit es auch praktisch wird.
Er sagt, wir sollen erstens die Bibel erwartungsvoll lesen. Erwartungsvoll die Bibel zu lesen bedeutet, sich klarzumachen: Die menschlichen Autoren der Bibel – Paulus, Matthäus und andere – sind schon lange tot, sie gehören in eine andere Zeit. Aber es gibt einen lebendigen Autor, der auf uns wartet.
Ist das nicht ein großartiger Zuspruch? Wenn wir die Bibel öffnen, werden wir erwartet. Wenn wir Gottesdienst feiern und zum Gotteswort versammelt sind, sind nicht wir diejenigen, die Gott einladen, dass er kommt, sondern Gott heißt uns willkommen, in seine Gegenwart zu treten. Hoffentlich kommen wir mit erwartungsvollen Herzen und erwarten, dass Gott sich manifestiert im Geist und in der Wahrheit.
Wir begegnen hier dem wahren Leben.
Manchmal denken wir vielleicht bei der Frage, ob wir zum Gebetstreffen gehen oder nicht: Ich verpasse doch so viel. Das ist eine besondere Not – ich sage mal – der jüngeren Generation, mit der ich an der Hochschule zu tun habe. Die Angst, irgendetwas zu verpassen.
Das Internet und das Smartphone sind genau die Medien, die diese Angst immer neu befeuern. Es ist so viel mehr, als du mitbekommen könntest. Und dann in die Gemeinde zu gehen, die Bibel zu öffnen und sich eine stille Zeit zu nehmen, in der ich nur in der Gegenwart Gottes sein möchte, kann diese Angst wachrufen: Was verpasse ich jetzt gerade in diesem Moment?
Tatsächlich ist es umgekehrt: Erwartungsvoll die Bibel zu lesen bedeutet, wenn ich dieses Buch öffne, begegnet mir hier das wahre Leben. Wenn ich dieses Buch nicht öffne, verpasse ich das wirklich Wichtige in meinem Leben – nämlich dass Gott mich anspricht.
Das Zweite, was Richard Foster vorschlägt, ist, die Bibel aufmerksam zu lesen. Er empfiehlt, die Bibel fortlaufend, zumindest in größeren Abschnitten zu lesen, nicht nur in Häppchen. Und bei allem Respekt vor der Segensgeschichte der Herrnhuter Losungen: Sie können die fortlaufende Bibellese nicht ersetzen.
Wenn Gott sich uns in diesem Wort vorstellt, können wir aus dieser Selbstvorstellung Gottes nicht einzelne Wörter heraussuchen, sondern wir brauchen das Ganze. Und dafür brauchen wir unser ganzes Leben. Denn hier wird uns eine Liebesgeschichte erzählt, die uns in ihren Bann ziehen soll.
Das Dritte ist, dass wir demütig lesen sollen. Das bedeutet, anzuerkennen, dass wir Gott finden, weil Gott schon längst nach uns sucht. Wir müssen bereit sein, uns einzugestehen, dass nicht wir die Kontrolle über unser Leben haben, sondern der Gott, der mit uns redet nach seinem Wohlgefallen.
Gott redet persönlich zu uns – aber eben im Lebenszusammenhang der Gemeinde, die sein Volk ist. Wenn wir mit diesem Wort verwachsen, werden wir umgestaltet in das Bild seines Sohnes und geführt auf dem Weg zur Vollendung.
Ich bin am Schluss. Ich hoffe, dass ihr merken konntet: In der Liebe zur Bibel geht es nicht darum, ein Maximum an Informationen aufzunehmen. Es geht darum, hineingezogen zu werden in eine Liebesgeschichte, die Gott das Teuerste gekostet hat, was er hat: seinen Sohn.
Wenn wir der Blutspur in der Bibel folgen, kommen wir zum Vaterherzen Gottes. Das ist der Ort, an dem wir sein sollen. Und das ist der Ort, an dem wir merken: „Dein Wort in meinem Munde ist süßer als Honig.“
Warum sage ich das zum Schluss noch einmal? Aus dem einfachen Grund, damit deutlich wird: Wie finde ich heraus, dass Honig süß schmeckt? Nur dadurch, dass ich ihn koste. Gott auf die Spur zu kommen, mit der Bibel vertraut zu werden und in ihr den Zugang zum Vater zu finden – das wird nicht geschehen durch Distanz, Beobachtung oder Skepsis, sondern nur dadurch, dass ich dieses Wort koste und die Geschmacksexplosion quasi aushalte, die sich einstellt.
Ich möchte beten:
Lebendiger Gott und Vater, wir danken dir dafür, dass du ein großer Gott bist, ein großer Gott, der sich nicht zu schade war, klein zu werden, damit wir dich in unserem Leben erfahren können.
Ich danke dir, dass du kein stummer, sondern ein redender Gott bist und dass wir dein Wort in unserer menschlichen Sprache haben.
Ich danke dir, Herr, dass dein Wort teilhat an der Kraft, die in dir ist, die du selbst bist, und dass wir, wenn wir vertraut werden mit deinem Wort, immer mehr verwandelt werden – Menschen, Männer und Frauen, die nach deinem Ebenbild geschaffen sind.
Ich bitte dich, Herr, dass dein Wort, wenn wir es lesen, voller Kraft des Heiligen Geistes ist. Dass wir erfüllt werden mit deiner Kraft, mit Weisheit, mit Liebe und mit der Sehnsucht nach der Ewigkeit, in der wir bei dir sein werden.
Darum bitten wir in Jesu Namen. Amen.