Treue, Herr Jesus Christus, das singen wir leicht, und wir meinen es ja auch ernst.
Hilf du uns jedoch dazu, dass es auch wirklich stimmt, dass wir dich lieben wie nichts sonst auf dieser Welt, weil du uns zuerst geliebt hast. Amen.
Ein Lebensbild als Lernprogramm im Alter
Für eine Seniorenfreizeit war das eigentlich der Grund, warum ich Andreas Schäfer dieses Thema angeboten habe. Mit Lord Redstock ist es passend, dieses Lebensbild in den Mittelpunkt eines Tages zu stellen.
Man hatte den alten, 77-jährigen Lord Redstock einmal gefragt: „Wie geht es Ihnen?“ Auch in England fragt man einander: „Hallo, how are you?“
Darauf antwortete er: „Ich muss täglich in die Schule.“
„Ja, wie?“
„Ich muss täglich lernen, mit meinen Schmerzen zu leben, und ich muss täglich fest lernen, nicht über meine Schmerzen zu klagen. Außerdem muss ich lernen, etwas milder zu werden in der Beurteilung anderer Menschen. Ich muss lernen, etwas barmherziger mit anderen Menschen zu sein, und ich muss lernen, mich noch mehr in die Bibel einzugraben.“
Das ist ein gutes Programm für Menschen, die älter werden.
Ich muss täglich in die Schule. Ich muss lernen.
Geistliches Leben und Herausforderungen in den Mennonitengemeinden Russlands
Aber vorher wollen wir etwas anderes lernen, nämlich dass es nach Maria Fjodorowna, von der wir gestern gehört haben, noch weitere Höhepunkte gab. Unser Gott hat nicht aufgehört, um Russland zu werben.
Unter den Kolonisten gab es eine besonders interessante Gruppe: die Mennoniten. Sie waren bereits von Peter dem Großen und später von Katharina der Großen ins Land geholt worden. Ursprünglich stammten sie aus Holland und hatten sich in der Gegend von Danzig bei der Entwässerung sumpfiger Gebiete bewährt. Katharina die Große holte die Mennoniten nach Russland.
Die Mennoniten stammen von Menno Simons ab. Sie sind eine fromme Gruppe, die entschieden gegen den Kriegsdienst ist. Das hat sie immer fasziniert: In Russland wurde ihnen versprochen, dass ihre Söhne niemals Kriegsdienst leisten müssen. Deshalb zogen viele Mennoniten in großen Scharen als tatkräftige, bewährte Bauern nach Russland, besonders nach Südrussland. Dort bauten sie lebendige Gemeinden auf.
Doch geistliches Leben lässt sich nicht konservieren wie in Flaschen. Meistens wird es in der zweiten und dritten Generation schwächer, auch wenn man sich noch so sehr bemüht. Man sagt dann: "Unsere Großmutter war noch fromm, aber wir sind es nicht mehr so sehr." So wird es immer träger und gewohnheitsmäßiger.
Auch mennonitische Gemeinden in Südrussland, zum Beispiel Neustuttgart, Neu-Ulm und Rosenfeld, erlebten diese Entwicklung. Sie brauchten einen Pfarrer, der wieder tätig wird und ihnen hilft, zu lebendigem Glauben zu kommen.
Damals war es so eingerichtet, dass alle evangelischen Pfarrer, die in Dorpat in Estland ausgebildet wurden, zuerst für zehn Jahre zu den Kolonisten nach Südrussland gehen mussten. Sie hätten alle gerne schöne Gemeinden in der Gegend von Petersburg übernommen, doch sie mussten nach Südrussland. Oft waren es sehr liberale Pfarrer, die nach außen hin lutherisch waren, aber mit ihrem Schicksal haderten, nach Südrussland geschickt zu werden.
Es gab einige tüchtige Leute darunter, wie später den Evangelisten Samuel Keller, der auch Pfarrer in Südrussland war. Vielleicht ist Ihnen sein Name vertraut.
Die Gemeinden in Neustuttgart, Neu-Ulm und Rosenfeld in der Molotschna, so heißt die Gegend bei Berdjansk, baten darum, einen Pfarrer aus Deutschland geschickt zu bekommen. Sie schrieben einen Brief an den Gründer der Brüdergemeinde Korntal, Wilhelm Hoffmann, der ein Mann war, den Gott liebte.
Hoffmann antwortete, dass er einen tüchtigen jungen Mann kenne, der aus der Kirche ausgeschlossen worden sei, weil er zu fromm sei. In den Akten des Oberkirchenrats in Stuttgart kann man nachlesen, welche Vorwürfe man ihm gemacht hatte: Er spielte mit den Kindern auf der Straße – heute würde man sagen, er machte Jugendarbeit. Er fesperte in den Häusern der Gemeindeglieder, ließ sich also abends zum Fespern einladen. Das war damals undenkbar für einen Pfarrer.
Außerdem wurde er gesehen, wie er an Neujahr den Gottesdienst der Methodisten in Winnenden besuchte. Das galt als sektiererisch. So wurde er einfach aus der Kirche ausgeschlossen. Es gab sogar einen Artikel im Schwäbischen Merkur mit der Überschrift „Wüstes Treiben in Bagnä, Rielingshausen“.
Dieser Eduard Wüster dachte bei Gottlieb Hoffmann: Das ist der richtige Mann. Wenn jemand so mit den Leuten kann, mit Kindern und jungen Leuten, wenn er in die Häuser geht, um zu besuchen, dann ist er der Richtige. Deshalb lud er ihn zum Jahresfest nach Korntal ein.
Im Jahr 1842 setzte man ihn auf ein Sofa und erzählte ihm von den armen Gemeinden in der Molotschna. Hoffmann sagte: „Wüster, Sie sind der richtige Mann.“ Er antwortete: „Ja, ich bin bereit.“
So schickte man ihn los. Sechs Wochen war er mit der Kutsche unterwegs durch Galizien, bis er endlich ankam. Nach zehn Jahren Wirken schenkte Gott ihm eine ganz lebendige Erweckung in den Dörfern um Berdjansk.
Die Gründung freier Gemeinden und ihre Bewährung in Verfolgung
Und dann hat er energisch gesagt: „Und jetzt dürft ihr nicht mehr abhängig sein vom Konsistorium in Petersburg. Ihr müsst freie Gemeinden organisieren, so wie Korntal es ist.“
Wir sind in Korntal eine evangelische Brüdergemeinde innerhalb der Landeskirche, aber doch mit einer gewissen Selbständigkeit. Wir können selbst bestimmen, wer Pfarrer ist, und genießen große Freiheiten. So wurde es gesagt: Ihr müsst eine Organisation aufbauen.
Auf diese Weise wurden um Berdjansk die ersten mennonitischen Brüdergemeinden gegründet, mit einer Verfassung wie in Korntal. Die Verfassung von Korntal wurde also nach Südrussland exportiert.
Diese Verfassung hat sich so bewährt, dass selbst in den stalinistischen Stürmen und während der großen Verfolgung die tüchtigen Mennoniten trotz Verschleppungen nach Kasachstan und bis nach Kamtschatka standhaft blieben. Viele von ihnen ergriffen die Gelegenheit zur Auswanderung, wenn sie dazu in der Lage waren.
Heute findet man sie in Südamerika, in Tschako, wo große Mennonitengemeinden existieren, ebenso in Kanada. Dort gibt es sogar eine theologische Hochschule. Diese Verfassung hat sich also sehr bewährt.
Das Ziel war, unabhängig zu sein von einem Konsistorium, das einem dazwischenredet. Man wollte den geistlichen Kurs selbst bestimmen.
Dies ist nur eine Momentaufnahme, die zeigt, dass Gott immer wieder in diesem großen russischen Reich gewirkt hat.
Am eindrucksvollsten wird dies durch Samuel Keller, den Evangelisten, geschildert. Er beschreibt, was Gott als Nachwirkung der Petersburger Bibelgesellschaft gewirkt hat, von der gestern berichtet wurde.
Die Wirkung der Bibelgesellschaft und die Entstehung der Stundisten
Jetzt gab es plötzlich Bibeln auf verständlichem Russisch. Zu den deutschen Kolonisten: Neben der Bibel und ihrem Gesangbuch hatten sie ein starkes Gebetbuch. Viele brachten außerdem Hofackers Predigtbuch mit, eines der wenigen Dinge, die sie mitnehmen konnten.
Die Frommen unter ihnen hielten Morgenandacht. Mittags las der Hausvater der Hausgemeinde mit allen Knechten und Mägden einen Abschnitt aus dem Predigtbuch vor. Das gefiel manchen der ukrainischen, weißrussischen und russischen Saisonarbeiter, die auf die großen Güter der Kolonisten in Südrussland kamen.
Das war etwas Besonderes: Der Tag war eingeteilt, es gab eine Ordnung. Das leuchtete auch den Russen ein, die sonst keine Ethik kannten – davon hatten wir gestern gesprochen – keine Moral. Bis heute ist Alkohol die große Not in Russland. Hemmungsloser Alkoholismus, Diebstahl, Untreue.
Selbst bei den frommen Leuten muss man aufpassen, dass sie nicht bei der besten Gelegenheit, wenn sie etwas organisieren können, eine Drahtrolle oder Dachpappe mitnehmen. Man sieht, dass bei uns allmählich auch aufkommt, dass man keine Moral mehr hat. In Russland war das über Jahrhunderte so.
Bei den deutschen Kolonisten hatten die ukrainischen Saisonarbeiter und die russischen und weißrussischen Gesellen einen anderen Stil. Darauf konnte man sich verlassen. Wenn sie nach der Erntesaison ausgezahlt wurden, baten manche: „Ich möchte gerne eine Schwarzwalduhr haben.“ Andere sagten: „Ich möchte eine Bibel haben.“
Sie bekamen dann von den Hausvätern eine russische Bibel, die sie verstanden. Diese Bibeln wurden damals von der russischen Bibelgesellschaft gedruckt. In ihren Heimatdörfern begannen sie, in ihren Häusern zusammenzukommen: „Mittags lesen wir ein Stückchen Bibel.“
Je mehr sie die Bibel lasen, desto mehr sagten sie: „Jetzt brauchen wir nicht mehr zum Popen gehen und die Bilder anbeten. Wir beten zum Herrn Jesus.“ Sie meinten auch: „Wir brauchen keinen Weihrauch mehr zu schwingen und keine Beichte mehr.“
Das bemerkten die Popen und fragten sich: „Was ist denn da los? Da ist eine Revolution!“ Diese russischen ehemaligen Saisonarbeiter versammelten sich in ihren Dörfern zu Gemeinschaftskreisen. Die Popen sagten: „Das ist deutsche Erfindung und deutsche Unterwanderung, eine Revolution!“
Man gab ihnen den Namen „Stundisten“. Das Wort „Stunde“ wurde übernommen – ganz gefährlich: „Das sind die Stundisten.“ Doch es wurde eine machtvolle Bewegung in Russland durch das Evangelium.
Die Popen schafften es schließlich, dass die orthodoxen Bischöfe die Gouverneure der einzelnen Bezirke, besonders in Südrussland, veranlassten, eine Verfolgung gegen die Stundisten einzuleiten. Es gab Verbannungen. Die Hausväter wurden nach Sibirien geschickt.
Aber einige Gouverneure schrieben nach Petersburg: „Entschuldigung! Das sind unsere tüchtigsten Leute, die eine Ausstrahlung auf die Dörfer haben. Dort, wo Stundisten sind, gibt es weniger Alkoholismus.“
Diese Leute könnten man heute als Verantwortliche in Gemeinderäten bezeichnen. Sie scheuen sich nicht vor schwerer Arbeit. Ihre Familien sind intakt. Man kann das in Dokumenten nachlesen: Sie lassen keinen im Dorf ungetröstet sterben.
Das war die Auswirkung der Bibel. Was hat Gott durch die zweijährige Tätigkeit der Bibelgesellschaft von Sankt Petersburg gewirkt? Auch wenn sie hart abgeblockt wurde, hatte sie Nachwirkungen.
Das Wort Gottes schafft Leben – hoffentlich auch bei uns.
Die Erweckung in Sankt Petersburg und die Rolle von Lord Redstock
Aber nun gab es eine ganz besonders große Erweckung in Sankt Petersburg, der Hauptstadt Russlands. Moskau lief dabei eher nebenher. Die entscheidende Stadt war lange Zeit Sankt Petersburg.
Wir haben gestern gehört, wie durch Alexander I., den Zaren, nicht nur die Bibelgesellschaft ab 1812 entstanden ist, sondern auch ab 1822 zunächst Ignaz Lindl und dann Johannes Gossner als Erweckungsprediger in der Malteserkapelle gewirkt haben. Sie lösten eine große Bewegung aus – eine Bibelbewegung in Petersburg. Doch auch diese wurde wieder hart von der orthodoxen Kirche gestoppt.
Dann hat Gott es noch einmal geschenkt, dass zwischen 1874 und 1884 Jesus ganz gewaltig an die Tür dieser Hauptstadt Russlands klopfte. „Ich stehe vor der Tür und klopfe an“, heißt es. Jesus wirkte in die regierenden Kreise hinein, in die verantwortlichen Kreise der Beamtenschaft, der Minister und des Hofes. Davon möchte ich ein wenig erzählen.
Gott benutzte dazu einen englischen Lord. Sein eigentlicher Name war Baron oder Peer Granville William Augustus Waldegrave. Wenn man im englischen Adelshandbuch der Württembergischen Landesbibliothek nachschaut und die Adelsliste der Waldegraves durchgeht, erstarrt man vor Ehrfurcht. Die Familie kann ihren Stammbaum bis auf Wilhelm den Eroberer zurückführen.
In den Stammbäumen dieser Familie Waldegrave finden sich ganz gewaltige Staatsmänner, Wissenschaftler und Bischöfe. Von ihnen wurde meist der älteste zum Lord Redstock und Mitglied des Oberhauses gewählt.
1833 wurde William Augustus Granville-Waldegrave geboren. Er lebte in bewegter Zeit nach der napoleonischen Ära. Er hatte eine fromme Großmutter, die vom Missionsgedanken ergriffen war. In der evangelischen Welt war der Weltmissionsgedanke damals noch nicht sehr alt. Die Katholiken machten uns da viel vor, denn sie hatten nie aufgehört, Weltmissionen zu treiben.
Erst um 1800 entstanden in der evangelischen Welt die Church Missionary Society von London, die London Missionary Society und später auf dem Kontinent die Basler Mission, die Berliner Mission und die Leipziger Mission – alles freie Gesellschaften.
Die Großmutter war begeisternd und erzählte ihrem Enkelsohn, als er jung war, immer wieder besonders von Russland, dem weiten Russland, und von China. In ihr lebte eine Sehnsucht, dass das Evangelium in diese weiten, entfernten Länder getragen werden sollte.
Granville Augustus William Waldegrave kam jung auf die Eliteschule von Harrow, Barbegard. Er erreichte gute Examina und studierte an der Eliteuniversität Oxford, besonders Naturwissenschaft und Geschichte. Dort machte er sein Abschlussexamen.
Wie es in seiner Familie üblich war, ergriff er danach die Offizierslaufbahn. Als junger Offizier im Rang eines Obersts wurde ihm die Aufgabe übertragen, die Freiwilligeneinheit der Middlesex Rifles aufzubauen – beinahe eine Division von Freiwilligen, was man heute als Reservistenarmee bezeichnen würde.
Er war so ein guter Offizier, dass ein General sagte: „Was der Waldegrave schafft, das schafft sonst keiner.“ Er brachte 20 Mann in Paradeeinheit in den Hyde Park und wieder heraus, ohne Verwirrung entstehen zu lassen. Er musste große logistische und strategische Begabung gehabt haben.
Dem jungen Mann mit seinen Vorfahren unter Parlamentariern, Mitgliedern des Unterhauses und Oberhauses, Politikern, Ärzten und Bischöfen stand eine glänzende Karriere offen.
1858 heiratete Granville Augustus William Waldegrave eine gleichaltrige Dame aus allerhöchsten Adelskreisen. Der große Missionar Livingston sagte über sie, sie sei eine durch und durch gute, edle Frau und, was noch seltener vorkommt, sie sei um und um schön. Wenn das ein Missionar sagt, ist das etwas Besonderes.
Der berühmte Livingston war richtig begeistert von dieser edlen, adligen Frau und sagte, sie sei wie eine gemalte Madonna. Sie war ihrem Mann zugleich eine Glaubensgehilfin. Sie starb wesentlich früher als er, doch in den entscheidenden Lebensjahren begleitete sie ihren Mann und ermöglichte ihm, viele Missionsdienste in den Niederlanden, in Schweden und in Indien als Evangelist zu tun.
Die Bekehrung im Krimkrieg und die Hinwendung zu den Armen
Aber jetzt verhalte ich mich so, als wäre er von Anfang an Christ gewesen. Eigentlich stand ihm eine kometenhafte Karriere im weltlichen Bereich bevor. Doch dann hat Gott 1855 nach ihm gegriffen, als er 22 Jahre alt war – also noch vor seiner Verheiratung.
Er war als junger Offizier noch auf die Krim beordert worden und kam zum Ende des Krimkriegs dorthin. Man macht sich oft gar nicht klar, was für ein schrecklicher Krieg das war. Frankreich und England stoppten plötzlich Russland, weil sie befürchteten, Russland könnte die Vorherrschaft im gesamten Schwarzen Meer erlangen und sogar bis in die Türkei vordringen. Man sprach vom „kranken Mann am Bosporus“ – die Türkei befand sich im Niedergang.
Die Russen, die sich unter Katharina der Großen bis an das Nordufer des Schwarzen Meers ausgebreitet hatten, sollten doch nicht plötzlich die Oberherrschaft über das ganze Schwarze Meer gewinnen. Deshalb schlossen sich Engländer und Franzosen zusammen gegen ihren ehemaligen Verbündeten Russland. Sie entsandten Expeditionskorps und erlitten selbst große Verluste im Kampf um Sewastopol. Es war ein grausames Abschlachten.
Bis heute wird man in Sewastopol in einem großen Museum an die Schlacht erinnert. An den Wänden ist die gesamte Schlacht um Sewastopol dargestellt. Um den Besucher herum sind Kanonen aufgestellt, sodass man sich wie auf einem Feldhügel fühlt und sieht, wie die französischen und englischen Expeditionskorps zerschlagen wurden. Die englische Kavallerie wurde niedergemäht, die Russen verteidigten sich erbittert und wurden schließlich erniedrigt beim Fall von Sewastopol.
Man denkt: Es gab keinen schlimmeren Kampf als diesen im Krimkrieg. Damals ging Florence Nightingale durch die Schützengräben und leistete die erste Hilfe. Die Not um Sewastopol wurde im Zweiten Weltkrieg noch einmal übertroffen. Der Kampf um Sewastopol war so furchtbar, dass in der Sommerhitze, als die Deutschen Sewastopol eroberten, Verteidiger und Eroberer todmüde zusammenbrachen. Niemand machte mehr Gefangene, viele waren fast verdurstet.
Dann geschah etwas, das in Deutschland nie richtig bekannt wurde: 1944 ging eine ganze Armee auf der Krim verloren. In Bildern wird gezeigt, wie die letzten Deutschen versuchten, von den Felsen bei Sewastopol 40 Meter ins Meer zu springen, um noch ein Marineschiff zu erreichen. Die Krim hat Schreckliches erlebt.
Damals fasste der junge Offizier Granville Augustus William Waldegrave den Entschluss: Wenn ich Russland noch einmal etwas Gutes tun kann – ich weiß zwar nicht wie –, dann will ich es tun. Dann packte ihn das Fieber. Viele, die nicht verwundet waren, wurden damals vom Fieber ergriffen. In seinen Fieberdelirien schrie er nach Gott und sagte: „Wenn ich noch einmal davonkomme, möchte ich ein neues Leben anfangen.“
Er zog in Fieberkrämpfen Bilanz über sein junges, 22-jähriges Leben und sagte sich: So will ich nicht weitermachen. Er begegnete Christen, den Darbisten, den sogenannten „offenen Brüdern“, Blümels Brüdern, die ihn zum Glauben brachten. Bei ihm wuchs daraus eine nicht ganz einfache Theologie. Er sagte: „Ich liebe Jesus, ich möchte zu Jesus kommen, ich möchte bei Jesus bleiben.“
Diese Blümels Brüder sagten: „Was für eine Sache, ein Lord hat sich bekehrt!“ Das war eine große Chance. In den Adelskreisen, in denen sonst nicht viel Frömmigkeit herrschte – vielleicht haben Sie, wenn Sie einen Fernseher haben, zufällig die Hochzeit in Windsor gesehen. Da war der Adel aufgetaucht, und die Hüte waren wichtiger als der Gottesdienst. So ist es eben.
Diese frommen Kadetten sagten: „Mensch Augustus, du kannst unter deinen Adelskollegen missionieren.“ Doch das klappte nicht, weil Granville Augustus William Waldegrave sofort seine Verantwortung erkannte: Er musste etwas für die Ärmsten der Armen tun. Es war wie bei Graf Zinzendorf und vielen Christen. Nicht die Adligen sind mir wichtig, sondern das, was im East End von London existiert: Arme, Arbeitslose, zerrüttete Familien, Hunger, Dreck. Dort wollte er hineinwirken.
Er sammelte unter den reichen Leuten im West End von London Geld für die ersten Häuser für arbeitslose Männer, richtete Wärmestuben, Hilfsaktionen für hungernde Kinder und Schulunterricht für Kinder ein. In den Adelskreisen lachte man und sagte: „Jetzt ist er durchgeknallt. Wie kann man sich die Hände schmutzig machen im East End?“
Er war die einzige Brücke – so heißt es in einer Lebensbeschreibung – der vornehme Baron Waldegrave war die einzige Brücke zwischen dem vornehmen West End von London und dem heruntergekommenen East End. Ihm war wichtig, dass Christen aktiv werden.
Er kritisierte seine Kirche, deren Mitglied er war – die anglikanische Kirche, die Church of England –, weil sie so wenig tat. Sie feierte ihre feierlichen Gottesdienste. Wir sprechen immer wieder von der Hochkirche, das ist nur ein Teil. Aber ihre feierlichen, fast katholisch anmutenden Gottesdienste kümmerten sich nicht um die Ärmsten der Armen. Die Methodisten hingegen taten es!
Daraufhin begann er selbst, Freiluftgottesdienste abzuhalten, nach dem Vorbild von Wesley und Whitfield. Freiluftgottesdienste unter den Ärmsten der Armen – das brachte bei seinen Adelskollegen nur ein Lächeln hervor, ein Achselzucken: „Was soll's!“
Es schmerzte den Aristokraten, dass er von seiner eigenen Kirche so im Stich gelassen wurde. Damals hatte er als junger Lord den Titel seines Vaters angenommen, nachdem dieser gestorben war: Lord Radstock of Castletown. Doch ihm war wichtig, mit seiner großen politischen Begabung Brücken zu schlagen zwischen Methodisten und Anglikanern.
Der Gedanke der evangelischen Allianz, die ab 1844 entstanden war, wurde von ihm maßgeblich gefördert. Wir, die wir den Namen des Herrn Jesus anrufen, wollen zusammenhalten und viel mehr miteinander tun. Es ging ihm darum, die Bibel neu zu entdecken und als Menschen die Bibel zu entdecken.
Jesus ist der Heiland jedes einzelnen Menschen, das soll jeder erfahren. Jesus ist der Heiland der Beziehungen, auch in den Familien. Er ist der Retter der Gesellschaft und der Retter der Menschheit. Ich muss doch diesen Jesus bekannt machen.
Lord Redstock in Russland – Begegnungen und Erweckung
Diesen Lord Redstock hat Gott in besonderer Weise für Russland bestimmt. Wir haben gehört, dass er im Krimkrieg gefragt hat: Wie kann ich Russland Gutes tun?
Lang bevor er das erste Mal 1874 nach Russland kam, war er als Laienprediger und Evangelist oft in Schweden, Holland und der Schweiz unterwegs. Immer wieder war er auch in Indien und vor allem in Paris. Damals war Paris der Mittelpunkt der "Rote Vollee", der vornehmen Gesellschaft aus allen Ländern Europas. Dort hielt man sich im Winter auf, wenn man nicht an der Mittelmeerküste war. Die vornehmen T-Zirkel von Paris halfen, den Winter zu überstehen.
Es war merkwürdig: Er kannte kein Wort Französisch, hielt sich aber dennoch gern in Paris auf. Er hätte gern nach Russland gehen wollen, doch wie gesagt, erkannte er keine Kontaktperson dort. In Schweden, Holland, Indien und Pakistan luden ihn englische Adlige ein. Aber wie komme ich nach Sankt Petersburg? Wie kann ich Russland Gutes tun?
Da wirkte Gott: Im Winter 1873 kam eine Generalswitwe von Tschadkow in große Not. Sie hatte innerhalb weniger Wochen zwei Söhne verloren und war in tiefer Trauer. Der einzige wahre Tröster für sie war der junge Lord Redstock.
Wie hat er sich mit den Leuten unterhalten? Er ging immer mit einem liebenswürdigen Gesicht auf Menschen zu – bei Gesellschaften vor allem auf Vertreter Russlands. So fragte er die Generalsfrau von Tschertkow: „Lieben Sie Ihr Heimatland Russland?“
„Ja“, antwortete sie. Dieses vom Nihilismus zerfressene und von Revolution bedrohte Russland. Man muss einmal die russischen Schriftsteller wie Dostojewski lesen, dann weiß man, wie dieses Russland im Nihilismus versunken ist.
„Lieben Sie Ihr Heimatland? Sind Sie auch bereit, für Ihre Heimat Russland zu beten?“ Das waren Sätze, die er auf Französisch sprach. Französisch war die Sprache der russischen Aristokraten. In Sankt Petersburg sprach man hauptsächlich Französisch.
„Sind Sie bereit, für Russland zu beten?“ – „Ja.“ – „Dann tragen Sie doch bitte Ihren Namen ein!“ Er holte seine zerlesene Bibel hervor. Auf einem Foto sieht man ihn mit dieser Bibel, immer wieder hatte er neue Seiten eingeklebt. Er sagte: „Tragen Sie bitte Ihren Namen ein!“ Zugleich war das ein Versprechen, für Russland zu beten.
Das machte großen Eindruck. Der ehemalige englische Offizier, der Lord, der im Krimkrieg auf der Seite der Engländer gegen Russland gekämpft hatte, hatte plötzlich ein Herz für Russland.
Ebenso wichtig war der Satz: „Lieben Sie Jesus? Kennen Sie ihn noch nicht? Dann will ich Ihnen von ihm erzählen.“ Er hatte immer Damen dabei, die sein Englisch ins Französische übersetzten.
Die Generalin von Tschertkow sagte, er müsse unbedingt nach Sankt Petersburg kommen. In diesem T-Zirkel, in der Damengesellschaft von Paris, war auch eine Großfürstin, ein Mitglied der Zarenfamilie. Sie sagte: „Sie können in meinem Palais Versammlungen abhalten, aber Sie müssen nach Russland kommen. Wir brauchen Sie.“
Dieser Mann war überzeugend, auch wenn er kein Wort Russisch sprach und nur brüchig Französisch. Ein hoher russischer Beamter sagte einmal, unsere orthodoxen Priester seien wie Religionsbeamte, und die anderen Pfarrer der deutschen oder holländischen Kirche stritten philosophisch darüber, ob die Bibel Recht habe oder Darwins Evolutionstheorie. Davon wollten sie nichts wissen.
„Wir wollen Menschen, die einen direkten Draht zu Gott haben, die uns etwas von Gott vermitteln.“ Und genau das tat dieser englische Lord. So benutzte Gott ihn mit seiner unmittelbaren Verbindung zum lebendigen Jesus.
Die Erweckungsbewegung in Petersburg und ihre Herausforderungen
In der Passionswoche 1874 war es endlich so weit: Lord Rotsredstock kam zum ersten Mal nach Sankt Petersburg. Es war, als ob er hätte gebremst werden sollen, denn seine Mutter lag im Sterben. Schnell trieb sie ihn um.
Muss ich nicht bei meiner Mutter verweilen, bis sie abgeschieden ist? Nein, Beerdigung Nein, lasst die Toten ihre Toten begraben. Ich bin gerufen nach Petersburg, und es ist jetzt wichtig, das Leben des Herrn Jesus nach Petersburg zu bringen.
Dann begann er, Versammlungen abzuhalten. Zuerst in der deutschen lutherischen Kirche, der Vorgängerkirche, der Petrikirche, und dann in der angloamerikanischen Kapelle, die dort ebenfalls war. Die russische Staatskirche hatte nicht nur verboten, dass Leute, die keine Pfarrer sind, predigen durften, sondern sie wollte auch nicht, dass aus diesen Kapellen etwas hinausgetragen wird.
Die Kapellen reichten bald nicht mehr aus, auch die angloamerikanischen Kapellen nicht. So viele Besucher strömten herbei, es hatte sich in den höfischen Kreisen herumgesprochen. Es war hochinteressant, man musste dort gewesen sein.
Es gab großen Zulauf bei den Versammlungen. Redstock selbst wollte aber auch Menschen auf der Straße ansprechen und ihnen Bibelteile geben. Damit hatte er nicht viel Erfolg. Die Leute auf der Straße sagten: Es mag ja ein ganz netter Kerl sein, aber er spricht nicht unsere Sprache, ich verstehe nicht, was er will.
Es war, als ob Gott ihn limitiert, begrenzt hätte – bestimmt für die adligen Greise. Vor allem für die Hausbibelstunden im Palast der Gräfin Liefen, Fürstin Liefen, der Gräfin Gagarin. Auch im Haus des Grafen Korff, der Zeremonienmeister am Zarenhof war, und beim Verkehrsminister Graf Bobrinsky, der für Jesus gewonnen wurde.
Vor allem aber beim Gardeoberst von Paschkow. Man sagte, er sei ein Bojar, ein riesengroßer Gutsbesitzer und wohl der reichste Mann, den es damals in Russland gab. Wenn Sie nach Moskau kommen, kann man Ihnen den Paschkow-Palast heute noch zeigen, in der Nähe des Kremls.
In Sankt Petersburg sagt jede Reiseführerin, wenn sie am Nevaufer entlangfahren, zuerst die Ermitage, den Winterpalast, und dann kommt das Palais Paschkow. „Wie bitte? Palais Paschkow?“ Ja, man interessiert sich für Paschkow – diesen großen Palast im florentinischen Stil aus rotem Sandstein, gebaut vom Gardeobersten Paschkow, einem großen Boyarenbesitzer.
Mir ist es gelungen, weil zufällig einmal eine Tür im Offiziersklub offen war, frecherweise hineinzugehen. Dort hatte ich einen Eindruck von der Vorderseite durch die weiten Fenster mit Blick auf die Paulsfestung gegenüber, die Zitadelle, über die Neva.
Hinter dem Gebäude gab es einen großen Bereich mit Wohnzimmer und Schlafzimmer, in der Mitte einen Wintergarten, der heute noch gepflegt wird. Dort fanden später die großen Evangeliumsversammlungen statt. Ein Tanzsaal war angebaut, und im Hinterhof konnte man sehen, wo die Kutschen vorfahren konnten zu den Tanzveranstaltungen im Palais Paschkow.
Frau Paschkow war es, die zuerst für den Glauben an Jesus gewonnen wurde. Sie sagte zu ihrem Mann: „Du bist ja meist auf den Gütern irgendwo in Mittelrussland. Wie könnt ihr unsere Versammlungen machen?“ Er antwortete: „Na ja, mach, was du willst.“
Eines Tages kam er jedoch vorzeitig nach Hause. In seinem Haus waren etwa siebenhundert Leute im großen Saal versammelt. Nun war er ein Mann von Stand, Gardeoberst – wir dürfen nicht den deutschen Begriff Oberstaat nehmen –, aber ein führender russischer Militär. Er war nobel und sagte, er wolle sich das mal anhören. Er lehnte sich an eine Säule und hörte, was Lord Redstock sagte.
Er lächelte zunächst überheblich. Doch dann muss jemand zum Lord Redstock gesagt haben: „Der Besitzer des Hauses ist da hinten.“ Darauf ging Lord Redstock zu Oberst Paschkow und fragte ihn: „Lieben Sie Jesus?“ Im gleichen Augenblick wusste Paschkow: Ich kann nicht Ja sagen, und ich darf nicht Nein sagen. Ich muss mein Leben ändern.
Er wurde durch diese schlichte Frage von Jesus gewonnen. Man kann das nicht so einfach nachmachen. Er wurde zu einer ganz einflussreichen Gestalt der Erweckungsbewegung in Petersburg. Sein Palais an der Neva wurde 1874 zum Mittelpunkt dieser Bewegung.
1576 kam Redstock noch einmal, dann erneut 1878. Danach verbot die russische Polizei ihm die weitere Einreise. Dennoch wurden einige Höhepunkte gesetzt. Die Fackel wurde dann an diesen Generaloberst weitergegeben.
Die Bedeutung der Musik und die Ausbreitung der Bewegung
Wie verliefen die Versammlungen im Haus Paschkow? Die Musik spielte eine große Rolle. Vor allem die drei Töchter von Paschkow, die ebenfalls für den Glauben gewonnen waren, sangen zusammen mit den Töchtern des Verkehrsministers Bobrinsky. Außerdem spielte eine junge Dame, eine Baltin, Klavier. Die Musik war dort also sehr bedeutend.
Man sang Erweckungslieder, wie zum Beispiel „Auf, denn die Nacht wird kommen, auf mit dem jungen Tag, wirket am frühen Morgen, eh es zu spät sein mag.“ Die Zeit dieser Erweckungsbewegung war allerdings sehr kurz.
Meist kam Redstock zu spät, weil er sich oft auf der Straße aufhielt und versuchte, mit einzelnen Leuten in Kontakt zu kommen. Die Versammlung war bereits im Palais Paschkow versammelt, wenn er erschien. Er trug einen einfachen Straßenanzug, man bemerkte nicht, dass er eigentlich einen Gehrock hatte. In den Adelskreisen trug man tagsüber meist den taubenblauen Gehrock, doch Redstock hatte einen englischen Straßenanzug an.
Das Gespräch verstummte, als Redstock erschien. Er bat die Damen, noch einmal ein Lied zu singen. Danach las er einen Bibelabschnitt vor. Anschließend überließ er es dem Geist Gottes, ob er diese wenigen Verse erklären oder weit ausholen und zu großen theologischen Ausführungen kommen sollte.
Manches war sprunghaft, manches wurde wiederholt, und dennoch war es gesegnet. Es ging sogar so weit, dass der Dichter Graf Mierzowski sagte, in Petersburg müsse man sich allmählich genieren, wenn man keine Einladung zu diesem Treffen mit Lord Redstock erhalten hatte.
In den höfischen Kreisen war es also üblich, zu Lord Redstock zu gehen. Ein anderer Adliger mobilisierte die russische Orthodoxie mit den Worten, man müsse dafür sorgen, dass das, was verboten sei, auch wirklich verboten bleibe.
Es kam sogar der Begriff „Redstockismus“ auf, und es gibt eine Dissertation über den Redstockismus in Sankt Petersburg. Nach etwa zehn Jahren sprach man weniger vom Redstockismus, sondern eher vom Paschkowismus. So sehr hatte Generaloberst Paschkow das, was Redstock nach Russland gebracht hatte, übernommen und weitergetragen.
Der Zusammenschluss der Evangeliumschristen und die Verfolgung
Dieser Paschkow war ein genialer Stratege als Offizier. Nachdem Redstock aus Russland ausgewiesen worden war, entstand bei Graf Korff, dem Zeremonienmeister am Zarenhof, bei Graf Bobrinsky und vor allem bei Generaloberst Paschkow der Gedanke, Brücken zu allen zu schlagen, die das Evangelium von Jesus lieben. Dazu gehörten die Mennoniten, die Molekanen, die Milchtrinker – man weiß gar nicht genau, woher dieser Name stammt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie sich in der Fastenzeit nicht an die Fastengebote der Orthodoxie gehalten haben, sondern auch während dieser Zeit Milch getrunken haben. Vielleicht kommt der Name aber auch daher, dass sie in der Molotschna entstanden sind. Die Molekanen sind bibelgläubige Russen, ebenso wie die Duchoborzen, Molekanen, Mennoniten und Stundisten.
Paschkow sandte Briefe aus und lud 1884 zu einem großen Treffen der Evangeliumschristen ein. Dort entstand der Name zum ersten Mal: alle, die Christen nach dem Evangelium sein wollen, sollten nach Petersburg kommen. Über achtzig Vertreter kamen. Paschkow hatte ursprünglich mehr Teilnehmer erwartet, vor allem aus Südrussland. Doch schon am zweiten Tag blieben weitere Vertreter aus. Nur einem Boten gelang es noch, eine Nachricht in das Palais Paschkow zu schmuggeln. Die Geheimpolizei hatte die Teilnehmer in den einzelnen Hotels und Unterkünften aufgespürt und auf die Bahn gesetzt.
Das Treffen wurde sofort von der Geheimpolizei unterbunden. Man hatte Angst, dass sich hier etwas entwickelt – vielleicht eine Revolution, eine fromme Revolution. Von Graf Korff, einem sehr reichen Mann und Zeremonienmeister, sowie von Oberst Paschkow wurde verlangt, dass sie unterschreiben, keinen Kontakt mehr zu anderen Christen aufzunehmen. Sie sollten keine Versammlungen mehr abhalten und keine Meldungen mehr an andere Gruppen äußern.
Paschkow hatte inzwischen vor allem unter den Studenten in Petersburg eine Arbeit begonnen. Er richtete Mittagstische ein, eine Mensa in Westpetersburg, drüben über der Newa, für arme Studenten. Außerdem eröffnete er Wärmestuben. Man begann eine große Arbeit unter Troschkenkutschern, ähnlich wie der deutsche CFHM in Berlin diese Arbeit mit Troschkenkutschern begonnen hatte.
Einmal fragte jemand, als er das Palais Lieven betrat – das heute noch mit den grünen Malachitsäulen zu sehen ist – warum es dort so merkwürdig streng rieche. Die Fürstin antwortete, dass bis vor einer halben Stunde dort noch eine Versammlung von Troschkenkutschern stattgefunden habe. Die höchsten Hofkreise kümmerten sich also um die einfachsten Leute.
Es war ein geistlicher Aufbruch, der zugleich mit viel Sozialarbeit verbunden war, etwa mit Sonntagsschularbeit. Als Graf Korff, Graf Bobrinsky und Oberst Paschkow diese Erklärung nicht unterschrieben hatten, wurden sie gezwungen, innerhalb von vierzehn Tagen Russland zu verlassen – unter Zurücklassung ihres gesamten Vermögens.
Graf Korff starb Jahrzehnte später in der Schweiz. Eine schöne Lebensbeschreibung von ihm findet man bei „Zeugen des lebendigen Gottes“ oder in manchen Antiquariaten und Gemeindebibliotheken. Paschkow starb früher, fern von der Heimat, um des Evangeliums willen.
Doch der Beginn war gelegt für das, was wir bis heute haben und was vom Missionsbund „Licht im Osten“ bis heute gepflegt wird: die Verbindung zu den Evangeliumschristen und Baptisten. Ob sie Duchoborzen-Hintergrund, Mennoniten-Hintergrund, Molekanen-Hintergrund oder Stundisten-Hintergrund haben – sie haben erkannt, dass hier eine Gemeinsamkeit besteht. Auch wenn eine gemeinsame Organisation fehlt, hält das gemeinsame Band der Liebe zu Jesus sie zusammen.
Lord Redstocks Vermächtnis und persönliche Prüfungen
Sie werden fragen: Was war dann mit Redstock? Ihm war wichtig, dass der religiöse Aufbruch nicht bloß eine Emotion bleibt, eine Gefühligkeit, sondern dass er verbunden wird mit Armenfürsorge und Sozialarbeit aller Art.
Er war Teil der Erweckung, eine entscheidende Gestalt, von der wir so wenig wissen. Diese Erweckung fand zwischen 1860 und 1870 statt. Im deutschen Sprachbereich sind Ihnen vielleicht einige Namen vertraut, wie Dorothea Trudel von Männedorf oder Johann Christoph Blumhart aus Bad Boll. In diesem Aufbruch spielte auch das Heilungsgebet eine große Rolle. Dort war der Vertreter in England und Schottland Lord Redstock.
Es ist einfach furchtbar, dass wir durch zwei Weltkriege von vielem, auch im Wissen um England, abgeschnitten sind. Für uns ist es weithin eine fremde Welt, auch die englische Frömmigkeit. Merkwürdig war, dass Lord Redstock, der unter dem Einfluss von Dorothea Trudel und Blumhart sehr viel auf das Heilungsgebet hielt, seine Tochter hergeben musste und später auch seine Frau. Das geschah, obwohl für beide sehr viel gebetet worden war und ihnen die Hand aufgelegt wurde.
Man hat gemerkt: Das ist nicht das, was unser Herr verheißen hat. Er kann Gnade schenken – ich habe es ja selber immer wieder erlebt. Aber die große Gnade ist, dass ich zu ihm gehören darf, im Leben und im Sterben. Dass er mir Heilung oder Aufschub der Krankheit schenken kann, ist ein dazugegebenes Gnadenmittel unseres Herrn.
Lord Redstock hat mit seiner strategischen Begabung immer wieder Briefe geschrieben, unter anderem an russische Archimandritten, die führende Geistliche waren. Er schrieb auch nach Rom und suchte im Vatikan nach biblisch gläubigen Menschen, mit denen man Verbindung aufnehmen konnte. Er nahm Kontakt zu Vertretern verschiedenster Kirchen auf, in der Hoffnung, dass das, was mit der evangelischen Allianz begonnen hatte, noch weitergehen könnte.
Er hatte einfach einen Weltblick. Ihm waren China und vor allem Indien und Pakistan wichtig. Er hat seine Reisen ausgeweitet, besonders nachdem 1892 seine geliebte Frau, seine opferbereite Gehilfin, gestorben war. Er wollte immer wieder die Missionare in Indien und Pakistan ermutigen, nicht müde zu werden. Denn er wusste, wie viel scheinbare Erfolglosigkeit in jedem missionarischen Dienst sein kann.
Der Apostel Paulus schrieb auch nach Korinth: „Darum werden wir nicht müde“, weil es naheliegt, müde zu werden. So wie wir müde werden können im Gebet für unsere Kinder und Enkel – das hat auch keinen Wert, wenn wir müde werden. Das war Lord Redstock wichtig: Menschen zu stärken, die müde werden wollen.
Ein schwerer Schicksalsschlag für ihn war, dass sein geliebter Sohn John im Burenkrieg gefallen ist, im Jahr 1900. Fast noch schlimmer waren die körperlichen Schmerzen, die er dreizehn Jahre lang erdulden musste. Wir wissen nicht genau, ob es sich um eine schleichende Krebserkrankung handelte – Darm, Galle, Magen.
Er sagte sich: „Ich muss in die Schule, ich muss lernen, Schmerzen zu ertragen und nicht über Schmerzen zu klagen. Ich muss lernen, tiefer in die Bibel hineinzugehen, milder in der Beurteilung von Menschen zu werden und barmherziger Mitmensch zu sein.“
Die letzten zwei Lebensmonate im Jahr 1913 verbrachte er bei Vertrauten in Paris. Er freute sich über alle Meldungen, die zu ihm kamen, auch aus Tibet, Nepal und dem fernen China. Wie es mit der Sache des Evangeliums weitergeht, sagte er: „Jetzt wird ein Balder herkommen.“ Er meinte, wenn das Evangelium allen Völkern verkündigt wird, dann wird er herkommen. Jetzt sei es doch so weit, dass das Evangelium bis an das Weltende getragen ist.
Gott sei Dank musste er nicht mehr erleben, dass der Erste Weltkrieg begann, der die Nationen, die ihm so lieb waren, so tief in das Elend stürzte. Am 8. Dezember 1913 ist Lord Redstock, fast 80-jährig, an inneren Blutungen verstorben.
Das Lied der Erweckung und sein bleibendes Vermächtnis
In der Erweckungswelle um Lord Redstock, die schließlich auch zu uns auf den Kontinent kam, ist dieses Lied entstanden, das wir singen wollen und das er selbst so gern sang.
Es ist aus dem Englischen übersetzt und lautet: „Auf, denn die Nacht wird kommen, auf mit dem jungen Tag, fanget beizeiten an, auf, denn die Nacht wird kommen, da man nicht mehr kann.“
Es ist, als hätte er geahnt, dass die Zeit kommt, in der man nicht mehr in Petersburg evangelisieren kann und nicht mehr frei wirken darf.