Wir stehen in einer Reihe über das Reich Gottes, und ich möchte heute ein Thema anschneiden, das für mich persönlich zu den ganz wichtigen Themen der Bibel gehört. Dennoch habe ich den Eindruck, dass darüber nicht so häufig gepredigt wird.
Manchmal ist es so: Wenn man ein Thema durchdenkt, sagt man sich, „Mann, das ist ja wow!“ Doch wenn man dann fragt, wie viele Predigten man dazu schon gehört hat, denkt man sich: „Na ja, das ist überschaubar.“ Genau so verhält es sich mit dem heutigen Thema.
Es geht um die Herrschaft der Gnade. Das wird der erste Teil sein, denn wir werden uns noch öfter darüber unterhalten. Das Thema ist nämlich tatsächlich größer und wichtiger, als man auf den ersten Blick vermuten könnte.
Ich möchte an den Anfang einen Vers aus dem Römerbrief stellen, und zwar Römer 5,20-21. Dort heißt es:
„Wo aber die Sünde zugenommen hat, ist die Gnade überreich geworden, damit, und jetzt wird es spannend, wie die Sünde geherrscht hat im Tod, so auch die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.“
Und ich weiß jetzt nicht, wie ihr über Gnade denkt. Die meisten Christen verbinden mit dem Thema Gnade wahrscheinlich nicht unbedingt das Thema Herrschaft. Vielmehr denken sie, dass Gnade bedeutet, dass Gott meine Sünde übersieht.
Häufig denken wir, dass auf der einen Seite das Gesetz Gottes steht und auf der anderen Seite die Gnade, die wir brauchen, wenn wir das Gesetz übertreten. Gesetz und Gnade werden oft als Gegensätze gesehen. Das ist nicht ganz falsch, aber es ist irgendwie komplizierter.
Es ist komplizierter, weil sich Gesetz und Gnade in Gottes Charakter als eine Einheit wiederfinden. Ich möchte euch das an 2. Mose 34 zeigen. Dort offenbart sich Gott dem Mose. Es heißt:
„Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief:
‚Jachwe, Jachwe, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue, der Gnade bewahrt an Tausenden von Generationen, der Schuld vergehen und Sünde vergibt, aber keineswegs ungestraft lässt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern an der dritten und vierten Generation.‘“
Ich denke, wenn ihr diesen Text gelesen habt, habt ihr etwas von der Spannung wahrgenommen, die darin steckt.
Auf der einen Seite wird die Gnade stark betont: Gott ist barmherzig, gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade. Er vergibt Schuld, Vergehen und Sünde. Gott macht sich richtig Mühe, dass wir verstehen, dass er ein Gott ist, dem es nicht leichtfällt, Menschen zu verurteilen oder zu richten.
Und obwohl das so stark betont wird, steht gleichzeitig da, dass er ein Gott ist, der Schuld keineswegs ungestraft lässt und über Generationen hinweg ein Volk richtet.
Und es wird noch ein Stückchen schräger, wenn wir jetzt in dieses Thema einsteigen. Gnade soll uns nämlich dazu bringen, Gott zu fürchten.
Hier, Psalm 130, Vers 4, ein toller Vers, wirklich ein ganz genialer Vers zum Auswendiglernen: „Doch bei dir ist die Vergebung, damit man dich fürchte.“ Was für ein schräger Vers! Bei dir ist Vergebung – ja, wozu? Dass wir Gott fürchten?
Merkt ihr, diese Gnade und Gottesfurcht bilden zusammen eine Einheit. Wer Gnade erfährt, dessen angemessene Reaktion auf diese Gnade ist Gottesfurcht.
Oder in Psalm 5 heißt es in den Versen 7 und 8: „Du lässt die Lügenredner verloren gehen, den Mann des Blutes und des Truges verabscheut der Herr. Ich aber, durch die Fülle deiner Gnade, gehe ich in dein Haus, ich bete an zu deinem heiligen Tempel hin in der Furcht vor dir.“
Versteht ihr Gnade? Ich freue mich über die Gnade, dass Gott ein Gott ist, der mich begnadigt. Gleichzeitig weiß ich, wenn ich Gott anbete, wenn ich ihm begegne: Gnade und Gottesfurcht gehören zusammen.
Noch ein Vers aus Psalm 33, da heißt es in Vers 18: „Siehe, das Auge des Herrn ruht auf denen, die ihn fürchten.“ Und jetzt wird beschrieben, was die tun, die ihn fürchten: „Denen, die auf seine Gnade harren.“ Spannend, oder?
Also, ich mag so etwas, wenn man ein Thema liest und feststellt: Hm, hätte ich nicht so formuliert. So eine ganz skurrile Mischung – fürchten und auf seine Gnade harren.
Diese Idee, dass Gnade und Gottesfurcht eine Einheit bilden, ist, das muss man schon sagen, heute nicht mehr ganz so populär. Und deswegen könnte man als Prediger in Versuchung kommen, hier aus dem Begriff „Furcht Gottes“ so etwas wie „Ehrfurcht Gottes“ zu machen.
Ich bin mir aber ehrlich gesagt nicht sicher, ob das gut ist, denn wir finden auch im Neuen Testament, dass der Apostel Paulus schreibt: „Da wir nun die Furcht oder den Schrecken des Herrn kennen, so überzeugen oder überreden wir Menschen.“
Also spricht auch der Apostel Paulus von Furcht und nicht nur von Ehrfurcht, wobei ich ganz deutlich sagen will, dass es uns natürlich auch nicht an Ehrfurcht fehlen darf – logisch.
Und wenn Menschen Schwierigkeiten mit der Gottesfurcht haben, dann versuchen sie oft, das Alte Testament gegen das Neue Testament auszuspielen. Es gibt einen Mythos, der ungefähr so lautet: Im Alten Testament begegnet uns ein zorniger Gott, während im Neuen Testament ein lieber Gott dargestellt wird. Der Gott des Alten Testaments sei vor allem an Gericht interessiert, weshalb man ihn fürchten müsse. Der Gott des Neuen Testaments dagegen wolle retten, sodass wir ihn nicht mehr fürchten müssten.
Man erkennt schnell, dass das ein Mythos ist. Es stimmt nicht.
Warum? Erstens, weil die Bibel eine Einheit bildet. Sie stellt uns nicht zwei verschiedene Götter vor – einen im Alten Testament und einen im Neuen Testament. Stattdessen zeigt sie uns einen Gott, der selbst sagt, dass er sich nicht verändert. Er macht keine Entwicklung durch vom zornigen Gott des Alten Testaments zum lieben Gott des Neuen Testaments. Der Charakter Gottes ist in der Bibel durchgängig einheitlich.
Ich habe euch eine Stelle mitgebracht, die zeigt, mit wie viel Geduld, Liebe und Vergebungsbereitschaft Gott über Jahrhunderte hinweg an Israel festhielt.
Wenn man sagt, im Alten Testament finde ich einen zornigen Gott, dann möchte ich euch diesen zornigen Gott anhand von Hosea 11,1-4 vorstellen. Vier Verse, die einen zornigen Gott beschreiben, der sich aber auch liebevoll zeigt. Dort steht:
„Als Israel jung war, gewann ich es lieb, und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Das bezieht sich auf die Befreiung des Sklavenvolkes aus Ägypten.
„So oft ich sie rief, gingen sie von meinem Angesicht weg. Den Balim opferten sie, und den Gottesbildern brachten sie Rauchopfer dar.“
„Und ich, ich lehrte Ephraim laufen, ich nahm ihn immer wieder auf meine Arme.“
Sie erkannten nicht, dass ich sie heilte. Mit menschlichen Tauen zog ich sie, mit Seilen der Liebe, und ich war ihnen wie solche, die das Joch auf ihren Kinnbacken anheben, und sanft gab ich ihm zu essen.“
Das ist ein Bild, das ihr euch vorstellen sollt. Vielleicht seid ihr nicht so romantisch veranlagt und könnt damit nichts anfangen, aber ihr versteht, was gemeint ist:
Das ist der zornige Gott des Alten Testaments, der hier beschreibt, wie er mit Liebe und Fürsorge an seinem Volk hängt. Er vergleicht das mit der Art, wie man ein kleines Kind auf die Arme nimmt, ihm das Laufen beibringt und sich um es kümmert, ohne ihm das Leben schwer zu machen.
Und dann schauen wir uns an, was Jesus zum Thema Gottesfurcht sagt, und stellen fest: Jesus fordert tatsächlich seine Jünger auf, Gott zu fürchten. Für ihn ist das kein völlig fremder Gedanke.
In Lukas 12 heißt es: „Ich sage aber euch, meinen Freunden, fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und nach diesem nichts weiter zu tun vermögen.“ Ich finde diesen Vers immer sehr deutlich. Vor Menschen brauchst du keine Angst zu haben. Sie können dich töten, und das war’s. Da ist Schluss, mehr können sie nicht.
Jesus fährt fort: „Ich will euch aber zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet den, der nach dem Töten Macht hat, in die Hölle zu werfen.“ Und das ist nicht der Teufel, denn der wird selbst in die Hölle geworfen. Es ist Gott, der nach dem Töten Macht hat, in die Hölle zu werfen. Ja, sage ich euch, diesen fürchtet!
Jesus spricht also davon, dass wir Gott fürchten sollen, und das ist mehr als Ehrfurcht. Hier geht es wirklich um Furcht. Auch der Apostel Petrus verbindet diese Idee, dass wir ein geistliches Leben haben, immer mit Gottesfurcht.
Im 1. Petrus 1,17 heißt es: „Und wenn ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk richtet, ja, was ist denn die richtige Reaktion darauf, dass wir Gott anbeten, einen unparteiischen Gott? So wandelt die Zeit eurer Fremdlingschaft in Furcht.“
Wenn Gott so ist, dann ist die logische Reaktion: Ja, wenn ich Gott kenne, dann sollte ich ihn fürchten. Wir können wirklich sagen, dass Anbetung und Gottesfurcht in der Bibel Hand in Hand gehen. Das sind keine Gegensätze.
Und wenn jemand behauptet, dass der Gott des Alten Testaments gefürchtet werden muss, und das im Neuen Testament bei Jesus anders sei, dann ist Vorsicht geboten. Ich glaube, wer das sagt, hat seine Bibel nur sehr oberflächlich gelesen.
Der Gott des Alten Testaments, dieser Jahwe, ist kein anderer Gott als der Vater des Herrn Jesus Christus im Neuen Testament. Wenn man genau hinschaut, wird man feststellen, dass Jahwe des Alten Testaments sogar mehr ist. Denn man kann auch den Herrn Jesus mit Jahwe identifizieren.
Das ist ganz spannend, aber nicht unser Thema heute.
Wenn jemand sagt: „Ich habe das verstanden. Warum ist Jesus dann aber so anders? Warum wirkt er so anders?“ – dann denke ich, dass er gar nicht so anders wirkt, wie wir oft meinen. Manchmal übersehen wir einfach, was im Neuen Testament tatsächlich steht.
Schau zum Beispiel in die Apostelgeschichte. Dort findest du relativ schnell die Geschichte von Hananias und Saphira. In der Gemeinde Jesu Christi gibt es zwei Menschen, die so tun, als ob – und dann werden sie gerichtet und fallen tot um. Das zeigt, dass das Neue Testament nicht nur aus netten, liebevollen Geschichten besteht. Vorsicht!
Wie reagiert die Gemeinde darauf? In Apostelgeschichte 5,11 heißt es: „Und es kam große Furcht über die ganze Gemeinde und über alle, welche dies hörten.“ Was haben sie gehört? Dass Hananias und Saphira gestorben sind, weil Gott sie gerichtet hat – dafür, dass sie den Heiligen Geist belogen hatten. Das ist das Neue Testament.
An anderer Stelle lesen wir, dass ein Engel des Herrn den König Agrippa schlägt. „Schlägt“ bedeutet hier, dass er bestraft und krank gemacht wird. Wörtlich heißt es, dass er nicht Gott die Ehre gab und von Würmern zerfressen verschied. Auch das ist keine schöne Geschichte.
Heute wird oft behauptet, Jesus sei jemand, der immer heilt. Vielleicht hast du das auch schon gehört: Jesus macht nie jemanden krank. Das ist falsch! Vielleicht ist die folgende Stelle nicht so bekannt, aber sie zeigt, dass Jesus durchaus auch krank macht.
Wo lesen wir das? Zum Beispiel in 1. Korinther 11. Dort steht nicht explizit, dass Jesus das tut, aber ich denke, es passt gut dazu.
Ich habe auch eine andere Stelle mitgebracht: die Offenbarung, Gemeinde in Thyatira. Dort gibt es eine falsche Prophetin, die Unheil anrichtet. Jesus selbst lässt dieser Gemeinde über Johannes ausrichten, was er tut. In Offenbarung 2,22 heißt es: „Siehe, ich werfe sie, die falsche Prophetin, aufs Krankenbett, und die, welche Ehebruch mit ihr treiben, in große Bedrängnis, wenn sie nicht Buße tun von ihren Werken.“
Wow, Jesus – einer, der Leute züchtigt, krank macht und in Bedrängnis bringt. Ja, das ist er.
Übrigens, damit wir das nicht vergessen: Das ganze Paket an Katastrophen und Gerichten, von denen wir in der Offenbarung lesen – wer ist dafür verantwortlich? Wer nimmt diese Rolle ein und öffnet die Siegel? Genau.
In Offenbarung 6 heißt es zum Beispiel: „Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen!“ Hier sprechen Menschen, die vom Gericht terrorisiert werden. Sie sagen zu den Bergen: „Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt.“ Das ist Gott, der Vater.
Und es geht weiter: „… und vor dem Zorn des Lammes.“ Was für eine ungewöhnliche Formulierung! Habt ihr euch das mal durch den Kopf gehen lassen? Der Zorn des Lammes – das Lamm ist doch eigentlich das Gegenteil von Zorn, oder? Ein Lamm ist unschuldig, klein, ein Opferlamm. Und jetzt Zorn. So viel Zorn, dass Menschen sagen: „Hoffentlich fallen die Berge auf uns!“
Wir merken also: Das Neue Testament ist nicht immer nur lieb und nett. Wer sagt, das Neue Testament sei immer nur ganz lieb und Jesus immer nur ganz easy, der sieht das nicht richtig.
Frage: Warum fühlt sich das Alte Testament so anders an? Tut es ja wirklich ein bisschen. Die Antwort ist relativ einfach.
Das Alte Testament umfasst einen Zeitraum von mindestens viertausend Jahren. Das Neue Testament dagegen spielt sich ungefähr in einem Zeitraum von vierzig Jahren ab. Entschuldigung, wenn ich das so sage, aber da ist einfach sehr viel Zeit, um auch Gericht zu erleben. Es passiert viel mehr.
Wichtig ist dabei, nicht zu übersehen, wie lange Gott im Alten Testament manchmal erwartet, bevor er richtet. Ich möchte deshalb empfehlen, eine Zeitleiste mitlaufen zu lassen. Mir wurde das zum ersten Mal richtig deutlich, als Gott Abraham versprach, dass er Kanaan einnehmen wird. Dann steht in einem Nebensatz die Bemerkung: „Aber du musst noch 400 Jahre warten.“ Man denkt sich: Was? Das ist ja eine tolle Verheißung, du kriegst Kanaan, aber erst in 400 Jahren? Super, danke.
Der Grund dafür wird in 1. Mose 15,16 genannt: „Denn die Schuld der Amoriter ist noch nicht voll.“ Das heißt, Gott wird die Kanaaniter vertreiben, aber erst, wenn ihre Schuld voll ist. Bis dahin wird er warten.
Versteht ihr? Das ist Gott, der einfach mal vierhundert Jahre wartet. Das ist Geduld. Ich habe den Eindruck, dass wir häufig das Warten, die Geduld, die Langmut und die Barmherzigkeit Gottes überlesen. Wenn er dann kommt und die Vertreibung der Kanaaniter beginnt, heißt es oft: Wie konnte er nur? Er hätte schon viel früher handeln können, hat er aber nicht.
Deshalb ist es wichtig, nicht zu denken, im Alten Testament sei Gott der mit der kurzen Lunte. Da macht jemand etwas, und wuff – sofortige Strafe. Stattdessen sollten wir verstehen, dass der Gott des Alten Testaments wirklich barmherzig und gnädig ist, langsam zum Zorn und groß an Gnade und Treue.
Er ist aber auch ein Gott, der, wenn der Punkt erreicht ist, an dem er richten muss, nicht mehr zögert, sondern wirklich handelt. Er wartet bis zu diesem Moment, an dem er straft.
Dasselbe finden wir im Neuen Testament. Der Herr Jesus kommt, bringt Rettung, wartet und lädt ein. Es ist immer noch Zeit der Gnade. Aber es wird auch ein Gericht kommen. Und wenn dieses Gericht kommt, werden wir feststellen, dass der Herr Jesus genauso Richter ist, wie wir es im Alten Testament bei Gott sehen. Es besteht kein Unterschied.
Aber kommen wir zurück zu dem Punkt, dass Gnade herrscht. Ich wollte euch nur in dieses spannende Verhältnis von Gnade und Gottesfurcht hineinführen, damit wir ein klares Denken dazu entwickeln.
Wenn Gnade herrscht, wie es in Römer 5 beschrieben wird, müssen wir zuerst eines verstehen: Gnade ist nicht umsonst. Anders gesagt, Gnade ist nicht billig. Wenn Gott gnädig ist, dann ist das kein „Schwamm drüber“-Ding, wie man vielleicht denken könnte. Das ist es aber nicht.
Ich möchte es deshalb sehr provokant formulieren: Wer Gnade erfährt, steht bei Gott in der Schuld. Das hatte ich vor kurzem in einem Podcast gesagt. Ich zitiere jetzt einfach mal daraus, es war Episode 193. Falls ihr die gehört habt, erinnert ihr euch vielleicht daran. Ich lese einfach vor, was ich dort über das Thema Gnade gesagt habe.
Ich habe gesagt: „Gnade als Begriff beschreibt zwei Sachverhalte. Man kann das Wort Gnade, griechisch Karis, mit Geschenk übersetzen oder mit Dank. Das heißt, Karis beschreibt gleichzeitig Gottes Umgang mit mir und meinen Umgang mit Gott. Gott ist es, der mich mit Gnade beschenkt, und ich antworte mit Gnade im Sinne von Dank oder Loyalität. Das ist ein Kreislauf. Dieser Kreislauf aus ‚beschenkt werden‘ und ‚Gott danken beziehungsweise ihm anhängen‘ steckt hinter dem, was Paulus meint, wenn er schreibt: ‚Die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus.‘
Es gibt in der Bibel kein bloßes ‚beschenkt werden‘, es gibt keine Gnade ohne Verpflichtung. Wer das Geschenk der Errettung annimmt, sagt damit Ja zur Nachfolge. Wo früher die Sünde den Ton angab, da tut es jetzt die Gnade. Und Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben. Oder anders ausgedrückt: Wo Gnade herrscht, da fordert sie Gerechtigkeit.“
Das war mein Podcast-Fazit.
Wenn das stimmt mit dem Wort Karis, dass es bedeutet: Ich werde beschenkt und ich beschenke Gott, dass das wirklich so ein Kreislauf ist, dann ahnen wir, dass das stimmt. Denn wir treten jeden Tag vor den Thron der Gnade, werden beschenkt und geben jeden Tag Gott Dank zurück. Es ist wirklich so ein Kreislauf, der sich ständig dreht.
Erst wenn ich aufhöre, Danke zu sagen oder aufhöre, Gott zu bitten, falle ich aus der Gnade. Aber wenn ich drinbleibe, lasse ich mich beschenken und beschenke Gott zurück. Das ist wirklich der Kern.
Wenn du verstehen willst, wie Gnade funktioniert: Der Begriff Gnade ist kein theologischer Begriff, sondern einer, der aus der Gesellschaft entlehnt wurde. Das griechische Wort Karis beschreibt eigentlich, wie ein Hilfsbedürftiger zu seinem Patron steht, der ihm helfen kann. Logisch: Wenn ich beschenkt werde, gebe ich Danke zurück.
Wenn wir das verstanden haben, dann haben wir verstanden: Wenn Gott mich beschenkt, wird auf meiner Seite eine Reaktion erwartet.
Jetzt müssen wir zwei Dinge unterscheiden: Gottes Liebe ist bedingungslos. Ich hoffe, ihr habt das verstanden. Gottes Liebe ist bedingungslos. Er nimmt jeden an. Jeder, egal wer es ist, kann zu ihm kommen und sagen: „Bitte rette mich.“
Das Problem – oder besser gesagt, die wichtige Unterscheidung – ist: Seine Liebe ist bedingungslos, seine Rettung ist bedingt. Das heißt, wenn du Ja zu Gottes Gnade sagst, erwartet Gott von dir einen entsprechenden Lebensstil.
Ich möchte euch das an einem Bibelvers zeigen, über den selten gepredigt wird, denke ich. Wahrscheinlich, weil er sehr unbequem ist. Aber er ist wichtig. Schlagt mal Matthäus Kapitel 18 auf. Das ist ein wirklich deutlicher Text, der uns zeigt, dass Gott von uns erwartet, dass wir, wenn wir zur Vergebung ja sagen, auch zur Nachfolge ja sagen.
Matthäus 18, ab Vers 21: Es geht um Vergebung. Dann trat Petrus zu Jesus und fragte: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal?“ Petrus dachte wohl, siebenmal sei schon großzügig. Jesus antwortete: „Ich sage dir, nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal.“ Das ist so viel, dass man gar nicht mehr mitzählen kann. Sieben kann man noch an den Fingern abzählen, aber hier geht es nicht darum, mit Zahlen zu jonglieren und zu sagen: Jetzt bin ich bei 491, da muss ich nicht mehr vergeben. Nein, die Botschaft ist: Du sollst immer wieder vergeben.
Dieser Gedanke ist so ungewöhnlich, dass Jesus ein Gleichnis anfügt. Er sagt: „Deshalb ist das Reich der Himmel wie ein König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.“ Es geht tatsächlich um das Reich Gottes, um unsere Beziehung zu Jesus.
Ab Vers 24: Als der König anfing abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldete – eine unermesslich hohe Summe. Da er nicht zahlen konnte, befahl der König, ihn, seine Frau, seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen, um die Schulden zu begleichen. Das war damals eine übliche Praxis, die sogenannte Schuldknechtschaft. Der Knecht merkte, dass sein Leben vorbei war.
Nun fiel der Knecht kniefällig nieder, bat um Geduld und versprach: „Herr, ich will dir alles bezahlen.“ Natürlich war das absurd, er konnte das gar nicht schaffen. Doch der König wurde innerlich bewegt, ließ ihn frei und erließ ihm die Schuld.
An dieser Stelle erlebt der Knecht Gnade, Vergebung – er wird beschenkt. Jemand, der so viel Schulden hat, dass er sie niemals begleichen könnte, bekommt die Schuld erlassen. Dieses Bild können wir auf unser Leben übertragen. Wir sind hier, weil wir mit unseren bösen Taten eine enorme Schuld auf uns geladen haben, die wir nie begleichen könnten. Wir sind nur deshalb erlöst, weil wir uns hinstellen und Gott um Barmherzigkeit bitten. Das habe ich im Mai 1987 in Berlin-Charlottenburg getan: Ich bin auf die Knie gegangen und habe Gott um Vergebung gebeten. Es war Gottes Barmherzigkeit, die mich erlöst hat.
Bis hierhin erinnert das Gleichnis an den verlorenen Sohn: Wenn du schuldig bist vor Gott, komm zu Jesus, bitte um Vergebung, lass dich erlösen, versöhne dich mit Gott. Gott ist bereit zu vergeben, weil er sieht, dass du deine Schulden nicht aus eigener Kraft begleichen kannst.
Doch das ist nicht der eigentliche Vergleichspunkt des Gleichnisses. Wer sich mit Gleichnissen auskennt, weiß: Sie erzählen eine Geschichte, die an der Realität einen bestimmten Punkt berührt – den Vergleichspunkt. Um den geht es.
Das ganze Drumherum ist nur Beiwerk. Es ist nett und wahr, aber nicht der Kern. Jesus möchte uns etwas anderes sagen. Lesen wir weiter.
Matthäus 18, Vers 28: Der Knecht, dem die Schuld erlassen wurde, ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete. Er ergriff ihn und würgte ihn und sagte: „Bezahle, was du schuldig bist!“ Sein Mitknecht fiel nieder, bat um Geduld und versprach zu zahlen. Doch der erste Knecht wollte nicht nachgeben, sondern ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis die Schuld bezahlt war.
Das ist nicht nett, oder? Da wird einem eine unermessliche Schuld erlassen, doch der Knecht ist nicht bereit, auf eine vergleichsweise kleine Schuld zu verzichten. Hier herrscht keine Gnade. Obwohl er beschenkt und erlöst wurde, hat das in seinem Herzen nichts bewirkt.
Die Geschichte geht weiter. Matthäus 18, Vers 31: Als seine Mitknechte sahen, wie er mit dem anderen umging, wurden sie sehr betrübt und berichteten ihrem Herrn alles.
Der König rief ihn zu sich und sagte: „Böser Knecht, ich habe dir deine ganze Schuld erlassen, weil du mich batest. Hättest du dich nicht auch deines Mitknechtes erbarmen sollen, wie ich mich deiner erbarmt habe?“ Dann wurde der Herr zornig und überlieferte ihn den Folterknechten, bis er alles bezahlt hatte.
Ich muss an dieser Stelle immer schlucken. Erst wird die Schuld erlassen, und jetzt ist sie plötzlich wieder da. Er muss zahlen, obwohl es zu viel ist. Der König war innerlich bewegt, und plötzlich ist die Schuld wieder da, und der Knecht wird den Folterknechten ausgeliefert. Das ist dramatisch formuliert.
Das ist unsere Geschichte.
Jetzt kommt der Vergleichspunkt aus Jesu Mund: Matthäus 18, Vers 35: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.“
Wenn hier ein Musiker am Klavier säße, käme jetzt ein langgezogener, tiefer Mollton. Versteht ihr? Das ist ein Vers, über den man schnell hinwegliest, aber er darf nicht übersehen werden: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jedem von Herzen vergebt.“
Das ist der Vergleichspunkt des Gleichnisses. Du kannst die ganze Geschichte vergessen, wenn du dir diesen einen Vers merkst. Das ist der Vers zum Auswendiglernen.
So wie der König im Gleichnis wird auch mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn ihr nicht jedem von Herzen vergebt.
Als ich das zum ersten Mal las, dachte ich: Das ist doch keine Vergebung! Hier steht: Wenn du dich bekehrst und Gott dir vergibt, du aber nicht selbst zu einem wirst, der gerne vergibt, dann nimmt Gott seine Vergebung wieder zurück. Wie kann das sein? Wie kann Gott mir meine Schuld zuerst vergeben und sie mir dann wieder anrechnen?
Vergebung bedeutet doch, dass die Schuld komplett weg ist, dass sie nie wieder zurückkommt. Es gibt doch diese schönen Lieder und Verse aus den Psalmen, in denen steht, dass Gott unsere Sünden in die Tiefen des Meeres wirft. Gehört es nicht zu den Verheißungen des neuen Bundes, dass Gott unsere Sünden nie wieder gedenken wird?
Ja, das stimmt. Beides stimmt.
Aber gleichzeitig ist es wichtig, dass wir anfangen, Jesus wirklich ernst zu nehmen. Ich will das deutlich sagen: Wir sind hier in einem Gottesdienst für Erwachsene. Deshalb ist es gut, wenn wir an manchen Stellen nicht auf Slogans aus der Kinderstunde zurückgreifen, sondern den O-Ton Jesu und seine Theologie durchdenken.
Jesus konfrontiert uns mit diesem Gleichnis, damit wir etwas verstehen, was wirklich wichtig ist: die Verbindung zwischen Gnade und Gottesfurcht, zwischen beschenkt werden und angemessen auf dieses Geschenk reagieren.
Gottes Vergebung streicht meine Schuld durch – Amen! Aber gleichzeitig verpflichtet sie mich, so zu leben, wie Gott es mir vorgemacht hat. Es gibt keine Erlösung von meiner Schuld ohne ein Ja zur Herrschaft der Gnade in meinem Leben.
Es ist wichtig, das zu verstehen: Zu sagen, ich will das Ticket in den Himmel, aber so bleiben, wie ich bin, das wird nicht funktionieren.
Noch einmal: Gottes Liebe ist bedingungslos, er will wirklich jeden. Aber seine Errettung, das, was wir Glauben nennen, ist an Bedingungen geknüpft. Man wird seine Sündenschuld los, aber steht nun in Gottes Schuld. Und Gott möchte etwas von mir. Gott möchte, dass ich gerne vergebe. Das ist ein Ausdruck davon, dass Gnade herrscht.
Ein Mensch zu sein, der gerne vergibt, der so mit anderen umgeht, wie Gott mit mir umgegangen ist und umgeht – weil er mir jeden Tag neu vergibt.
Ich hoffe, ihr versteht das. Ich hoffe, es überfordert euch nicht und durchkreuzt nicht eure gesamte Theologie.
Wir wissen nicht genau, was Jesus meint, wenn er hier von den Folterknechten spricht. Aber eines ist klar: Das Bild ist schrecklich. Es zeigt auf dramatische Weise Ausweglosigkeit, eine furchtbare Situation.
Pass auf, dass du nicht zu jemandem wirst, der sich zwar gerne vergeben lässt, aber nicht bereit ist, selbst zu vergeben.
Und in dem Moment, wo Gott sagt: „Ich möchte, dass du das, was ich dir geschenkt habe, weitergibst, wie ein Durchlauferhitzer,“ dann muss meine Vergebung weiterfließen. Leute müssen spüren, was in deinem Leben passiert ist. Sie müssen sehen, wer in deinem Leben lebt.
Und wenn du an dieser Stelle den Hahn zudrehst: Tu es nicht! Ich kann nur sagen: Tu es nicht!
Das war Teil eins der Reihe „Die Herrschaft der Gnade“. Heute wollte ich euch zwei Dinge mitgeben, und an dieser Stelle werden wir noch mehr dazu sagen.
Zum einen möchte ich euch die Idee näherbringen, dass Gnade, wenn sie richtig verstanden wird, immer zur Gottesfurcht führt. Es ist irgendwie logisch: Wenn ich merke, dass der Gott, der mich zerquetschen könnte – so wie man eine kleine Spinne zerquetscht – mir stattdessen gnädig ist, meine Schuld einfach wegnimmt und dafür am Kreuz stirbt, dann kann das nicht ohne Wirkung bleiben. Wenn es stimmt, dass er „all in“ geht, dann kann ich nicht einfach so bleiben, wie ich bin. Das geht einfach nicht. Gnade, richtig verstanden, führt zur Gottesfurcht.
Das Zweite ist: Gnade oder, sagen wir, Vergebung ist wie ein Vertrag. Im Kleingedruckten steht, dass jeder, der Vergebung annimmt, selbst zu jemandem werden muss, der gerne vergibt. Denn Gnade herrscht, weil durch die Vergebung etwas in unser Leben tritt, das uns von Grund auf verändern will.
Mein Tipp bis zum nächsten Mal: Lernt Psalm 130,4 und Matthäus 18,35 auswendig. So könnt ihr diese beiden Gedanken besser behalten und verinnerlichen. Das ist wichtig.
Okay, bis dahin, Amen.
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