Ich bitte alle zusammen. Ich hoffe, ihr habt halbwegs gut geschlafen, trotz Schnarchern oder Ähnlichem.
Gestern habe ich noch 25 Mücken erschlagen, bevor ich ins Bett ging. Ich glaube, das hat geholfen.
Heute Morgen ist das Thema für die erste Stunde die Gnade. Dabei gibt es viele Missverständnisse.
Ich habe vor kurzem eine Geschichte gelesen, die ich euch vorlesen möchte. Sie heißt „Gemeinschaft“.
Begegnung und erste Eindrücke
Vor einiger Zeit begegnete mir ein Mann mit einer Bibel unter dem Arm. „Bist du Christ?“, fragte ich ihn. „Ja“, sagte er ganz begeistert. Ich hielt an, doch ich habe gelernt, dass man nie vorsichtig genug sein kann. Darum fragte ich weiter.
„Jungfrauengeburt?“
„Natürlich, daran glaube ich.“
„Tod am Kreuz?“
„Er starb für alle Menschen.“
Könnte es sein, dass ich Angesicht zu Angesicht mit einem richtigen Christen stand? Dennoch fuhr ich mit meiner Checkliste fort.
Status vom Menschen: Sünder, der Gnade braucht. Wiederkunft Jesu: jederzeit möglich. Bibel: inspiriert. Die Gemeinde: der Leib Jesu. Jetzt wurde ich aufgeregt. Konservativ oder liberal? Jetzt funkelten auch die Augen meines Gegenübers – konservativ.
Mein Herz begann noch schneller zu schlagen. Herkunft: Protestantismus, beatistisch, landeskirchliche Gemeinschaft – das war meine. Welche Fraktion? Pro Millennium, nicht charismatisch, Elberfelder Übersetzung. Mir standen die Tränen in den Augen. Ich hatte nur noch eine letzte Frage.
„Ist euer Predigtpult aus Holz oder Fiberglas?“
„Fiberglas“, antwortete er.
Ich zog meine Hand zurück, und mein Genick versteifte sich. „Ketzer“, sagte ich und wandte mich ab.
Das sind so die Missverständnisse, die es gibt. Missverständnisse gibt es auch in Bezug auf Gnade.
Inspiration durch Mike Iaconelli und die Bedeutung von Gnade
Wer von euch hat das Buch von Mike Iaconelli gelesen? Es heißt auf Englisch „What's So Amazing About Grace“. Ich glaube, auf Deutsch gibt es es auch unter dem Titel „Gnade ist mehr als ein Wort“. Dieses Buch habe ich sehr geschätzt. Ich halte es für eines der besten Bücher von Mike Iaconelli und fand es wirklich gut. Es hat mich inspiriert, über Gnade nachzudenken und auch darüber zu predigen.
In seinem Vorwort erzählt er eine Geschichte von einem Freund, der eine Prostituierte traf. Ich lese euch diese Geschichte vor:
Eine Prostituierte kam in einem erbärmlichen Zustand zu mir. Sie hatte keine Wohnung, war krank und außerstande, ihre zweijährige Tochter durchzubringen. Unter Weinen erzählte sie mir, dass sie ihre Tochter, die zwei Jahre alt ist, Männern mit abartigen sexuellen Praktiken angeboten hätte. In einer Stunde verdiene sie durch die Prostitution ihrer Tochter mehr, als sie selbst in einer ganzen Nacht anschaffen könne. Sie müsse das tun, erklärte sie, weil sie sonst kein Geld für Drogen habe.
Ich ertrug es kaum, die Geschichte anzuhören. Dann fragte ich sie, ob sie je daran gedacht hätte, in einer Kirche um Hilfe zu bitten. Und ich werde nie den Ausdruck von purem Schock vergessen, der über ihr Gesicht kam. „Kirche?“, rief sie, „was soll ich denn da? Ich fühle mich sowieso schon schlecht genug, dort würde ich mich nur noch schlechter fühlen.“
Das hat mich zum Nachdenken gebracht, weil ich glaube, dass sich viele Randgruppen ähnlich fühlen, wenn man sie auf die Kirche anspricht. Das Erstaunliche ist, dass Frauen wie diese Prostituierte normalerweise zu Jesus hingeflüchtet sind, aber von der Kirche flüchten sie weg. Diese Menschen, die damals von Jesus angezogen waren, sehen die Kirche heute als etwas Abstoßendes.
Die Frage, die sich stellt, lautet: Warum hat die Kirche diese Anziehungskraft für Sünde verloren? Ich glaube, das geht zurück auf ein Wort, über das wir heute nachdenken möchten: Gnade.
Gnade als Unterscheidungsmerkmal der Kirche
In Johannes 1 lesen wir, dass wir aus seiner Fülle empfangen haben, und zwar Gnade um Gnade. Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit aber ist durch Jesus Christus geworden.
Es ist eigentlich die Gnade, die uns von anderen Menschen unterscheiden sollte. Gordon Macdonald, der vor kurzem hier war, hat gesagt: Die Welt kann fast alles so gut wie die Kirche oder sogar besser. Man muss nicht Christ sein, um Häuser zu bauen, Hunger zu stillen oder Kranke zu heilen. Es gibt nur eines, was die Welt nicht kann: Sie kann keine Gnade anbieten. Das ist der Unterschied.
Mike Iaconelli hat geschrieben: „Was mich immer getrieben hat, war die Suche nach Gnade. Eine Zeit lang lehnte ich die Kirche ab, weil ich dort so wenig Gnade erlebte. Ich kehrte zur Kirche zurück, weil ich nirgendwo sonst Gnade gefunden habe.“
Und wisst ihr, was ich mir wünsche? Dass Orte wie hier, Dünenhof, Dauernhof und unsere Kirchengemeinden Häuser sind, in denen Gnade wohnt, wo Menschen angezogen werden, die Sünder sind, und wo wir alle dazugehören.
Die Herausforderung der Gnade
Gnade – das, was im Titel steht, ist eigentlich ein Skandal. Wir verwenden das Wort Gnade sehr oft, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich verstanden haben. Gnade ist nicht logisch, sie ist auch nicht vernünftig. Das Schlimmste an der Gnade ist, dass sie ungerecht ist. Deshalb kämpfen wir oft mit dem Begriff Gnade.
Wenn man die Bibel liest, stellt man fest, dass Gott mit Menschen gearbeitet hat, die ich heute nicht unbedingt einstellen würde. Im Alten Testament wählte er zum Beispiel den Lügner Jakob aus. Sein Bruder Esau wäre mir persönlich viel lieber gewesen. Esau war ein Waldmensch, ein Jäger, während Jakob zu Hause bei der Mutter blieb und ein Lügner war.
Im Buch Richter lesen wir von Samson, der lange Haare hatte. Auch das ist nicht unbedingt vorbildlich. König David mag vielleicht ein sympathischer Kerl gewesen sein, aber wenn man ihn genauer studiert, sieht man, dass er einmal vorgab, geistesgestört zu sein. Er hatte Affären, war ein Mann des Krieges und trug Blut an den Händen. Ich weiß nicht, ob ich ihn einstellen würde. Ich hätte da meine Probleme. Viele Christen würden mir das wahrscheinlich nicht verzeihen.
In der Ahnenreihe von Jesus finden wir Rahab, die eine Hure war – einer der ältesten Berufe der Welt. Ebenso steht Tamar in der Ahnenreihe Jesu. Sie verkleidete sich als Hure, verführte ihren Schwiegervater und wurde von ihm schwanger. Das sind alles Menschen, die in der Bibel vorkommen.
Wenn man das genau betrachtet, ist es ein Skandal, mit welchen Leuten Gott gearbeitet hat – und bis heute arbeitet.
Gottes Charakter in den Gleichnissen Jesu
Und was mir so gefällt: Um den Charakter seines Vaters im Himmel zu beschreiben, hat Jesus sehr oft Geschichten erzählt. Diese Geschichten sind nette Erzählungen, doch sie entbehren zum Teil jeglicher Logik.
Ich möchte euch ein paar Beispiele geben. Eine Geschichte, die man im Kindergottesdienst immer erzählt – und das ist auch gut so – ist die vom verlorenen Schaf. Das ist eine nette Geschichte: Da ist ein Hirte, der hat hundert Schafe, und die grasen irgendwo. Dann passiert es, dass ein Schaf davonläuft und sich verirrt.
Selbstverständlich lässt der Hirte die neunundneunzig Schafe alleine zurück und sucht das verlorene Schaf, bis er es gefunden hat. Danach kommt er zurück und feiert ein großes Fest mit seinen Freunden.
Das ist ganz nett, aber eines sage ich euch: Ich würde so etwas nie tun. Wenn ich hundert Schafe hätte und eines davon läuft weg, würde ich zuerst sicherstellen, dass die neunundneunzig sicher sind. Das eine Schaf wäre dann halt Pech gehabt. Diese Geschichte ist nicht logisch. Keiner von uns würde so handeln.
Und Jesus sagt: Wenn du wissen möchtest, wie mein Vater im Himmel ist, so ist er. Das ist unlogisch.
Eine andere Geschichte ist die von Maria und dem wertvollen Öl. Im Johannes 12 lesen wir, wie Maria, die Schwester von Martha – das war auch eine interessante Familie –, das kostbare Nardenöl nimmt und es über die Füße von Jesus gießt.
Martha und Maria waren wohl ein wildes Geschwisterpaar. Wahrscheinlich ist der Lazarus deshalb so früh gestorben. Interessant ist, dass Maria hier aktiv wird und das Öl verwendet.
Dann regt sich Judas auf, der Kassierer der Gruppe. Er sagt, das sei eine Geldverschwendung, ein Wahnsinn. Mit dem Geld hätte man ein Jahr lang Hungernde speisen oder Obdachlosen helfen können. Die anderen stimmen ihm zu.
Doch Jesus sagt: Gut gemacht, Maria. So ist Gott.
Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg
Und darum, weil Gott so anders ist, schätze ich Gott mehr und mehr.
Eine andere Geschichte noch: Wenn ihr eine Bibel dabei habt, schlagt Matthäus Kapitel 20 auf, Matthäus 20. Ich lese sie kurz vor.
Matthäus 20, Vers 1: Eine Geschichte, über die man nicht sehr viele Predigten hört, verständlicherweise, weil sie ein bisschen schwierig ist.
Denn mit dem Reich der Himmel ist es so: Jesus sagt mit anderen Worten, wenn du wissen willst, wie es im Himmel zugeht, dann hör genau zu.
Es ist wie mit einem Hausherrn, der ganz früh morgens hinausging, um Arbeiter in seinen Weinberg einzustellen. Nachdem er mit den Arbeitern um einen Denar den Tag über eingekommen war, sandte er sie in seinen Weinberg.
Und als er um die dritte Stunde, das ist um neun Uhr, ausging, sah er andere auf dem Markt müßig stehen. Zu diesen sprach er: Geht auch ihr hin in den Weinberg, und was recht ist, werde ich euch geben.
Sie aber gingen hin. Wieder aber ging er hinaus um die sechste Stunde, es ist Mittag, und die neunte Stunde, drei Uhr nachmittags, und machte es ebenso.
Als er aber um die elfte Stunde, das ist fünf Uhr nachmittags, hinausging, fand er andere stehen und spricht zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig? Und sie sagten zu ihm: Ja, weil niemand uns eingestellt hat.
Er spricht zu ihnen: Geht auch ihr hin in den Weinberg.
Als aber Abend geworden war, spricht der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn, angefangen von den Letzten bis zu den Ersten.
Und als die um die elfte Stunde Eingestellten kamen, empfingen sie je einen Denar.
Als aber die Ersten kamen, meinten sie, dass sie mehr empfangen würden – das würde ich auch meinen. Auch sie empfingen je einen Denar.
Als sie den aber empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben eine Stunde gearbeitet, von fünf bis sechs, und du hast sie uns gleich gemacht.
Das ist die Ungerechtigkeit: Wir haben die Last des Tages und der Hitze getragen.
Er antwortete und sprach zu einem von ihnen: Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? Nimm das Deine und geh hin.
Ich aber will den Letzten geben wie auch dir. Ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinen zu tun, was ich will? Oder blickst du böse, weil ich gütig bin?
Wenn man es so durchliest, sagt man: Ja, ich mache es ja ganz nett, aber funktionieren würde dies nie bei uns.
Wenn ich meine Mitarbeiter so behandeln und so bezahlen würde, wäre ich allein hundertprozentig verloren. Die Gebietskrankenkasse hätte auch ihre Probleme.
Was war die Ungerechtigkeit? Die Ungerechtigkeit war nicht, dass er den Ersten zu wenig bezahlt hätte, denn das ist, was sie ausgemacht haben.
Die Ungerechtigkeit ist: Die, die eine Stunde gearbeitet haben, hast du uns gleich gemacht, die wir die Hitze den ganzen Tag getragen haben.
Diese Geschichte passt nicht in unser gesundes Denken.
Manchmal regt es mich auch ein bisschen auf, wie gewisse Politiker, Manager, Sportler – die verdienen nicht zwölfmal so viel wie ich, die verdienen tausendzweihundertmal so viel wie ich.
Ich weiß nur zufällig: Letzten Herbst war Al Gore in Wien. Einen Abend hat er einen Vortrag gehalten, eine Stunde, und für diesen einstündigen Vortrag hat er 180.000 Euro verlangt.
Ich habe mich für dieses Wochenende mindestens genauso gut vorbereitet wie Al Gore. Und das, was ich sage, glaube ich, ergibt mindestens so viel Sinn wie das, was er gesagt hat.
Manfred, wenn ich die Hälfte bekomme, bin ich vollkommen zufrieden. Also gerecht ist es nicht.
Gleichnis vom verlorenen Sohn und die Bedeutung von Gnade
Da gibt es noch eine letzte Geschichte, die wir alle kennen. Sie heißt „Der verlorene Sohn“. Ich nenne sie „Die Geschichte vom ungerechten Vater“. Sie steht im Lukas-Evangelium, Kapitel 15. Kannst du die Geschichte lesen?
Da ist ein Vater, ein Bauer, der hat zwei Söhne. Der ältere Sohn arbeitet fleißig auf dem elterlichen Hof, jeden Tag. Er sorgt dafür, dass der Bauernhof erhalten bleibt und gut funktioniert. Der jüngere Sohn hingegen holt sich das Erbe seines Vaters, noch bevor dieser gestorben ist.
Das Überraschende an der Geschichte ist, dass der Vater es ihm tatsächlich gibt. Er übergibt ihm die Hälfte seines Vermögens, obwohl er noch lebt. Der jüngere Sohn haut ab – und wir kennen die Geschichte. Er verschwendet das Geld an Bars, Prostituierte und Ähnliches. Ein Teenager hat mal gesagt, er habe das ganze Geld an Bars und Frauen ausgegeben, und den Rest dann einfach verschwendet.
Der jüngere Sohn geht weg, verbraucht das ganze Geld, das er von seinem Vater bekommen hat. Schließlich hat er kein Geld mehr und kann sich keine Freunde mehr kaufen. Reumütig kehrt er zurück und bereitet sich eine kleine Rede vor: „Vater, ich bin nicht würdig, dein Sohn zu sein, aber lass mich bei dir arbeiten.“
Die Geschichte ist extrem überraschend. Der Vater sieht seinen Sohn schon von weitem, läuft ihm entgegen – übrigens ist dies die einzige Stelle in der ganzen Bibel, an der Gott läuft. Sonst läuft er nirgendwohin. Er läuft dem verlorenen Sohn entgegen, fällt ihm um den Hals, küsst ihn, gibt ihm ein neues Gewand und feiert ein Fest.
Der ältere Sohn arbeitet jahrelang auf dem Feld, sorgt dafür, dass der Hof läuft. Dann hört er zufällig, dass dort ein Fest gefeiert wird. Er fragt, was los ist, und erfährt: „Dein Bruder ist zurückgekommen.“ Der ältere Bruder wird zornig. Das kann ich gut verstehen. Denn der jüngere Bruder wurde nicht nur als Arbeiter aufgenommen, sondern wieder als Sohn anerkannt. Das heißt, ihm gehört auch wieder ein Teil des Hofes, obwohl er nichts dafür getan hat.
Wir lernen aus all diesen Geschichten das Wesentliche: Gnade hat nichts mit Verdienst oder Belohnung zu tun. Du kannst dir Gnade nie verdienen – nicht durch Arbeit, nicht durch brav, tüchtig oder verlässlich sein. Gnade ist ausschließlich ein Geschenk.
Du kannst Gnade nur empfangen, egal ob du ein gewissenhafter und braver Familienvater bist oder jemand, der bornersüchtig ist, betrogen hat oder Menschen ausgenutzt hat. Beide können Gnade nur empfangen. Du kannst Gnade nur empfangen, egal ob du eine treue Ehefrau und Mutter bist oder eine Prostituierte.
Und das ist ja die Quintessenz: Als Empfänger der Gnade stehen wir letztlich alle gleich da. Und wisst ihr was? Das irritiert uns. Das irritiert uns, weil es nicht in unseren Gerechtigkeitssinn passt. Gnade ist ungerecht, und darum tun wir uns mit Gnade gar nicht so leicht.
Persönliche Erfahrungen mit Gnade und Christenleben
Vor dem Kreuz hat jemand einmal gesagt: Das Kreuz ist der große Gleichmacher. Dort steht jeder gleich da, egal ob ein Mörder oder ein braver Vater.
Früher habe ich ungefähr so gedacht. Mit fünfzehn Jahren bin ich gläubig geworden und habe damals Jesus in mein Leben aufgenommen. Das Leben mit ihm begann oder seines mit mir. Dann dachte ich mir, wenn ich in den Himmel kommen will, muss ich schon halbwegs brav christlich leben: Kirche besuchen, Jugendstunden mitmachen, Bibel lesen und beten.
Bis etwa zu meinem achtzehnten Lebensjahr hat das halbwegs hingehauen. Doch als ich achtzehn war, habe ich festgestellt, dass ich dieses Christenleben sowieso nicht schaffe. Feinde lieben und den Nachbarn segnen – wenn du mir ein paar neue Feinde gibst, versuche ich es, aber es geht nicht. Ich habe erkannt, dass ich es nicht schaffe, das zu tun, was Gott von mir verlangt.
So habe ich als Achtzehnjähriger den Stecker gezogen und das getan, was viele tun: Ich wurde Skilehrer und arbeitete überall. Das war auch nicht die gesündeste Umgebung. Aber ich kann mich erinnern: Die Bibel habe ich nie ganz weggelegt, und beten konnte ich auch nicht ganz aufhören – in all den Jahren, in denen ich von Gott nichts wissen wollte.
Manchmal habe ich mir gedacht: Wenn Jesus jetzt wiederkommt, dann sieht es für mich nicht gut aus. Da bin ich wohl nicht mehr dabei. So wie ich jetzt lebe, hätte ich den Himmel nicht verdient.
Heute ist es manchmal andersherum. Ich gehe öfter mit meiner Frau abends in eine Bar. Meine Frau habe ich in einer Bar kennengelernt. Ich war Kellner, sie mein Kunde – was auch immer. Ich gehe gerne in Bars, weil viele dort nicht mehr ganz nüchtern sind. Das Schöne ist: Dann sind sie ehrlich. Das ist so nett mit ihnen.
Wenn sie mich nüchtern treffen, ist es immer ein bisschen distanziert, weil ich für sie durchaus ein bisschen extrem bin. Aber wenn sie ein bisschen angetrunken sind, ist es ganz nett.
Einmal habe ich mit einer Frau gesprochen, die ein relativ wildes Leben hinter sich hat oder noch hat. Sie kam zu mir und sagte: „Du bist ja so viel besser als ich.“ Ich habe ihr geantwortet: „Weißt du, warum du das sagst? Ich bin kein Stück besser als du. Wir sitzen alle im selben Boot.“
Dann fragte sie: „Was will Gott überhaupt von mir?“ Ich sagte: „Nur dein Leben.“ Sie antwortete: „Das kann er haben, das ist auch nichts wert.“
Aber wisst ihr, warum sie zu mir sagt, ich sei so viel besser als sie? Weil ich seit 21 Jahren verheiratet bin, ein mehr oder weniger anständiges Leben führe, drei Kinder habe, von Jesus erzähle und Bücher über ihn schreibe. Das heißt: Wenn jemand den Himmel verdient hat, dann ich.
Doch seht ihr das Missverständnis? Genau hier haben wir die Gnade nicht verstanden. Gott verteilt Geschenke, er bezahlt keinen Lohn. Du kannst dir die Gnade nicht verdienen – weder durch Werke, noch durch Treue oder irgendetwas anderes.
Lohn und Geschenk im biblischen Verständnis
Wenn Gott einen gerechten Lohn austeilen würde, dann würde es für niemanden von uns gut aussehen – egal, wie du lebst.
In Römer 6,23 sagt der Apostel Paulus: „Der Lohn der Sünde ist der Tod.“ Sünde bezahlt dir einen Lohn, und dieser Lohn ist der Tod. Das Gnadengeschenk aber ist ewiges Leben in Christus.
Das heißt: Sünde bezahlt dir einen Lohn, und das ist gerecht. Aber Gott ist nicht nur gerecht, sondern er gibt dir ein Geschenk – ein Gnadengeschenk – und zwar das ewige Leben in Jesus Christus.
Für den gerechten Lohn ist der Sünder zuständig, für das unverdiente Geschenk ist Jesus Christus zuständig. Wenn wir den Unterschied zwischen Lohn und Geschenk verstehen, verstehen wir auch den Unterschied zwischen Religion und einer persönlichen Beziehung zu Christus.
Übrigens konnte ich mich für Religion nie begeistern, und das aus einem Grund: Religion hat Menschen seit jeher unterdrückt und ausgebeutet – und tut das auch heute noch. Karl Marx hat gesagt: „Religion ist Opium für das Volk.“ Da gebe ich ihm Recht. Religion ist Opium für das Volk.
Wisst ihr, warum? In der Religion geht es immer um Leistung und um Lohn. In der Religion wird genau gerechnet – und am Ende wird abgerechnet.
Jesus – ich sage das jetzt mal so – kann nicht gut rechnen. Darum sind wir bei den Schafen, bei den hundert. Er bezahlt keinen Lohn. Natürlich kann er rechnen, aber ihr wisst, was ich meine. Er ist uns gegenüber nicht gerecht im Sinne von Abrechnung. Das tut nur die Religion. Gott dagegen schenkt Gnade.
Gnade im interreligiösen Dialog
Das ist mir so passiert, das war, glaube ich, letzten Herbst oder irgendwann damals. Ich habe irgendwo in der Pfalz unterrichtet. Das ist auch in Deutschland. Ist jemand aus der Pfalz hier? Ja, sehr gut. Nette Leute. Dort habe ich irgendwo unterrichtet, weiß nicht mehr genau, wo genau, ist auch egal. Guten Wein haben Sie dort, stimmt ja.
Früher hieß es, das sei das Paradies. Das ist zwar eine etwas falsche Interpretation, aber egal.
Auf jeden Fall ließen sich zu einem meiner Vorträge zwei Moslems einladen. Sie kamen mit jemandem zusammen, zwei liebe Burschen, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, wirklich nette Kerle. Es waren nicht einfach nur Moslems, sondern überzeugte und praktizierende Moslems. Sie wollten hören, was ich zu sagen hatte.
Nach dem zweiten Vortrag kamen sie zu mir und hatten Fragen. Ich habe etwa eine Stunde mit ihnen geredet, das war ganz nett. Ihre Frage war sehr interessant. Ich habe zum einen festgestellt, dass sie das Wort „Gnade“ kannten, aber das Konzept dahinter nicht. Übrigens verstehen viele Christen das Konzept auch nicht richtig. Sie hatten also kein klares Verständnis von Gnade.
Ihre eigentliche Frage war – und das habe ich am Anfang nicht verstanden – die Erbsünde. Sie wollten wissen: Übernehme ich die Sünden meines Vaters?
Ich habe versucht, die Erbsünde auf fünf verschiedene Arten zu erklären. Aber ich merkte, dass sie damit nicht sehr zufrieden waren. Nach einer halben Stunde habe ich endlich verstanden, worum es ihnen wirklich ging.
Im Islam ist es so, dass alle guten und bösen Taten, die man tut – und das wissen sie – von jedem Menschen aufgerechnet werden müssen. Man muss die guten Taten mit den bösen Taten ausgleichen. Wenn die guten und bösen Taten ungefähr gleich sind, kommt man ins Paradies.
Allah kann auch ein bisschen barmherzig sein. Das heißt, wenn die bösen Taten nur ein bisschen überwiegen, etwas mehr als die guten, dann kann Allah barmherzig sein und dich trotzdem annehmen. Muss er aber nicht. Das ist der islamische Glaube.
Jetzt kam ihr Problem: Wenn ich auch die Sünden meines Vaters auf meinem Konto habe, sieht es für mich schlecht aus. Denn das schaffe ich mit meinen guten Taten nie auszugleichen.
Darum war ihre Frage eine ganz ernste: Nehmen wir die Sünden unserer Eltern, unseres Vaters, mit? Das wäre eine Katastrophe.
Seht ihr, so denkt man in der Religion. Dort wird genau aufgerechnet und am Schluss wird abgerechnet.
Gott und sein Sohn haben keine Religion gestiftet. Menschen haben Religionen gestiftet, weil sie immer im Sinne von Leistung und Lohn denken. In der Religion glaubt man, etwas verdienen zu können. Bei Gott kannst du nichts verdienen.
Gott ist uns gegenüber nicht gerecht, sondern gnädig – das lehrt die Bibel.
Martin Buber, Jude und Religionsphilosoph, hat gesagt: Nichts verdeckt Gottes Angesicht so sehr wie Religion. Religion verdeckt das Angesicht Gottes. Gnade hingegen deckt es auf.
Gnade und Gerechtigkeit Gottes
Jetzt kommt ein berechtigter Einwand, den höre ich immer wieder, wenn man über Gnade redet. Man sagt: Ja, aber der Gott der Bibel ist doch auch ein gerechter Gott. Unser Gott ist doch genauso gerecht wie jeder andere Gott, der sich als gerecht bezeichnet.
Ja, das stimmt. Gott ist absolut gerecht – im absoluten Sinne. Darum gibt es, wie Bonhoeffer es genannt hat, keine billige Gnade. Es gibt keine billige Gnade, weil Gott gerecht ist. Das Gnadengeschenk, das Gott den Menschen gegeben hat, hat ihn alles gekostet, was er hat, nämlich seinen Sohn.
Übrigens, wenn irgendjemand einmal sagt: „Ja, Herr, es ist mir nicht genug, du musst mir noch mehr geben“, dann wisst ihr, was Gott sagt? Tut mir leid, ich bin bankrott. Ich habe nichts mehr. Ich habe nicht mehr als meinen Sohn. Gott ist bankrott, was das anbelangt.
Früher, wisst ihr, wie ich früher als Teenager gedacht habe? So denken viele, aber die wenigsten sagen es. Wir haben oft gedacht: Ja, Jesus Christus ist für unsere Sünden am Kreuz gestorben, das ist ja echt super. Das war auch sicher schlimm. Karfreitag war ein schlimmer Tag, und so weiter, aus vielen Gründen. Aber nach drei Tagen ist er auferstanden, also so schlimm ist es doch wieder nicht.
So habe ich gedacht – nicht weniger, aber so habe ich gedacht. Bis ich selber einen Sohn hatte, oder Kinder. Und seht, seinen Sohn zu geben, oder wisst ihr, was ich auch gedacht habe? Das war das andere. Ich habe oft gedacht: „Aber Gott, eigentlich verstehe ich dich nicht ganz. Du gibst da deinen Sohn, und der muss sterben. Immerhin, das ist ja nichts Besonderes. Warum bist du nicht selbst am Kreuz gestorben?“ Das sind so Gedanken, die ich als Teenager hatte.
Und das hatte ich so lange, bis ich einen Sohn hatte. Wenn du einen Sohn hast – die meisten von euch haben einen – dann weißt du: Deinen Sohn zu geben, ist viel mehr, als dich selbst zu geben. Lukas, wenn du mich fragst: Wenn ich wählen müsste, mich selbst zu töten oder Lukas, meinen Sohn zu töten, beides würde mir schwerfallen. Aber die Wahl fällt mir nicht schwer. Ich würde zehnmal lieber mich selbst als meinen Sohn geben.
Wenn man das versteht, versteht man, was Gott am Kreuz getan hat. Er hat nämlich seinen Sohn gegeben. Das hat Sünde gekostet, damit er gnädig sein kann. Und es gibt nur ein Kreuz im Universum. Es gibt nur ein Kreuz, sonst keines – und das auf Golgatha.
Galiläa würde dem nicht zustimmen, aber von der Wichtigkeit her ist es das Zentrum des Universums. Und weil Christus den gerechten Preis bezahlt hat, kann Gott heute gnädig sein.
Bild vom Kaiser und die Bedeutung des Kreuzes
An eine Stelle, an der mir das besonders bewusst wurde, gibt es einen Film, der heißt „Der letzte Kaiser“, der letzte Kaiser von China. Hat den jemand von euch gesehen? Das ist ein guter Film.
Ich weiß nicht, wie genau er geschichtlich ist, ich habe das nicht nachgeprüft. Aber er erzählt die Geschichte vom letzten Kaiser von China, der damals als eine Gottheit verehrt wurde. In diesem Film ist es wunderbar zu sehen, wie dieser etwa Drei- oder Vierjährige zum Kaiser gekrönt wurde. Er war völlig abgeschottet von der Außenwelt in der Verbotenen Stadt.
Er hatte tausend Eunuchen zur Verfügung, die ihm Tag und Nacht dienten. Sie trugen ihn herum, fütterten ihn und erledigten alles Mögliche. Er lebte sozusagen in einer Traumwelt.
Dieser Kaiser hatte aber einen Bruder, der draußen in der normalen Welt wohnte. Als der Kaiser im Film etwa zehn Jahre alt war, kam sein Bruder ihn besuchen. Er durfte in die Verbotene Stadt hinein. Der Kaiser wurde von Eunuchen herumgetragen, und der Bruder lief neben ihm her.
Dann fragte der Bruder den Kaiser, ob er bestraft wird, wenn er böse ist, ob er als Kaiser bestraft wird, wenn er etwas tut, das schlecht oder böse ist.
Interessanterweise antwortete der zehnjährige Kaiser: „Ja, ich werde bestraft. Wenn ich böse bin, wird einer meiner Diener verprügelt. Wenn ich, der Meister, böse bin, dann muss mein Diener dafür bezahlen. Denn Bosheit muss bestraft werden.“
Das ist ein interessantes Bild, weil Gott diesen Brauch umgekehrt hat. Wenn der Diener böse ist, wird der Meister verprügelt. Wenn der Diener sündigt, muss der Meister dafür bezahlen. Und das ist die Geschichte vom Kreuz.
Darum ist Gott absolut gerecht. Der Preis für Ungerechtigkeit muss bezahlt werden, denn Gott kann nur gerecht sein. Aber nachdem der Preis bezahlt ist, ist Gott gnädig.
Gnade ist ein Geschenk, das dem Geber alles kostet und dem Empfänger überhaupt nichts. Das ist die Natur von Gnade.
Darum bin ich so gerne Christ, denn diese Gnade darf ich jeden Tag neu empfangen, wie wir lesen in Johannes 1,16-17: „Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade. Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit aber sind durch Jesus Christus geworden.“
Aus seiner Fülle haben wir empfangen Gnade um Gnade.
Schlussgebet
Ich möchte noch beten, lieber Vater: Gnade ist wirklich etwas Erstaunliches. Es ist etwas, das unserem Gerechtigkeitssinn und unserer Logik schwerfällt zu verstehen. Wahrscheinlich fällt es auch unserem Stolz schwer, Gnade zu akzeptieren. Denn unser Stolz denkt immer in Leistung und Lohn. Man möchte sich etwas verdient haben.
Doch du, Herr, bist ganz anders. Ich danke dir, Herr Jesus, für die Gleichnisse, die du uns über deinen Vater und das Reich der Himmel erzählt hast. Ich danke dir für die Geschichte vom verlorenen Sohn, die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg und die Geschichte von den hundert Schafen. Du, Herr des Verlorenen, suchst so lange, bis du es gefunden hast.
Dafür danke ich dir, und darum darf ich dabei sein. Herr, so beten wir für uns selbst, dass wir für diese Gnade dankbar werden und diese Gnade an anderen Menschen üben. Dass Menschen, die in der Gesellschaft verachtet sind, Gnade bei uns finden, weil wir Gnade gefunden haben.
Dass Menschen, die nicht so einen guten Staat hatten wie wir, die keine Richtungsänderung erlebt haben wie wir oder noch nicht erlebt haben, bei uns Gnade finden und nicht Verurteilung. Das ist mein Gebet, Herr: dass unsere Familien, unsere Gemeinden und die Orte, an denen wir leben, Orte der Gnade werden.
Orte, an denen Menschen sicher sind – egal wie sie leben, egal was sie getan haben, was sie denken oder glauben. Das wünsche ich mir, Herr, in Jesu Namen. Amen.
