Einführung in das Matthäusevangelium und seine Urheberschaft
Wir wollen uns mit dem Matthäusevangelium beschäftigen. Bevor wir einen ersten Abschnitt etwas näher besprechen, stellen wir ein paar einleitende Fragen, die uns den Hintergrund des Evangeliums etwas stärker erläutern.
Zuerst einmal die Frage: Wer hat das Matthäusevangelium geschrieben? Vielleicht sagen wir sofort, das sei doch ganz selbstverständlich, steht doch bei uns in der Bibel ganz deutlich: Evangelium von Matthäus.
Das Problem ist nur, dass in den ältesten Schriften, die wir vom Matthäusevangelium haben, gerade das nicht drinsteht. Die Überschriften, sozusagen, fehlen, die wir bei uns in der Bibel haben. Dann stellt sich die Frage: Woran liegt das?
Die ältesten Hinweise in der Überschrift, dass es das Evangelium des Matthäus ist, finden wir erst am Ende des zweiten Jahrhunderts, also um das Jahr 180 herum. Dann fragt man sich: Was war denn vorher? Vielleicht ist das ja gar nicht von Matthäus.
Wir müssen sehen: Es hat nicht damit zu tun, dass die Herkunft tatsächlich unsicher ist, sondern vielmehr damit, dass man vorher einfach keine Notwendigkeit darin sah, den Verfasser zu benennen. Stellt euch vor, ihr schreibt einen Brief oder eine Abhandlung über ein theologisches Thema. Heute legt man viel Wert darauf, wer das verfasst hat. Früher stand das nicht unbedingt darüber. Es gab also keine eindeutige Angabe wie „mit Siegel von Notar in Jerusalem, das ist von Matthäus geschrieben worden“.
Das Matthäusevangelium wurde immer wieder abgeschrieben, und man kam gar nicht auf die Idee, eine Überschrift dazu zu verfassen. Das wurde erst in einer späteren Zeit notwendig, als nämlich immer mehr Evangelien auftauchten. Gerade im zweiten Jahrhundert spekulierten die Leute darüber, wie es beispielsweise mit der Jugendzeit Jesu war.
In der Bibel lesen wir nur wenig darüber, was Jesus bis etwa zum Alter von dreißig Jahren getan hat. Nur ganz wenige Details sind überliefert. Die Christen machten sich in ihrer frommen Phantasie Gedanken darüber. So kam jemand auf die Idee, ein Thomas-Evangelium zu schreiben, zum Beispiel. Es gibt auch noch andere, wie das Philippus-Evangelium und einige weitere.
Dort finden sich hübsche Geschichten, zum Beispiel dass Jesus eines Tages mit seinen Schulkollegen spielte, einer vom Dach fiel und tot war. Jesus kam, fasste ihn an der Hand, und der Junge wurde sofort wieder lebendig. Oder eine andere Geschichte: Die Knaben spielten draußen im Matsch und machten kleine Tonfiguren. Jesus blies eine davon an, und das Vögelchen, das er geformt hatte, flog davon.
Solche Geschichten stehen nicht in der Bibel, sondern in den apokryphen Evangelien. Man merkte, wenn das so weitergeht, weiß hinterher niemand mehr zuverlässig, was Jesus wirklich getan und gemacht hat. Deshalb musste man auswählen und feststellen, was wirklich authentisch ist. Wer schöpfte wirklich aus den ersten Quellen? Wer war damals dabei gewesen? Und wer hat sich später nur überlegt, wie es gewesen sein könnte?
Zum Glück haben wir Hinweise von sogenannten Kirchenvätern. Das sind Personen, die Schüler der Apostel waren. Die Apostel kennen wir ja, der letzte von ihnen, Johannes, starb etwa um das Jahr 90 oder 95. Zu dieser Zeit gab es bereits Apostelschüler. Einige von ihnen lesen wir auch in der Bibel, zum Beispiel Timotheus und Titus, die Nachfolger der Apostel waren. Diese hatten wiederum Schüler, und diese wiederum Schüler – so entstand eine Linie von Lehrern und Schülern.
Die ersten Schüler der Apostel und deren Nachfolger nennt man Kirchenväter. Einer dieser Kirchenväter, Papias, schreibt in einer Abhandlung: Matthäus schrieb in hebräischer Sprache die Reden auf, und jeder übersetzte sie so gut er konnte. Hier haben wir also einen Hinweis darauf, dass Matthäus die Ereignisse um das Leben Jesu aufgeschrieben hat. Gleichzeitig wird erwähnt, dass er sie auf Hebräisch verfasste und dass sie dann übersetzt wurden.
Es wird nicht gesagt, in welche Sprache übersetzt wurde, aber für Papias war das offensichtlich Griechisch. Denn in der damaligen römischen Welt sprach man hauptsächlich Griechisch.
Das bleibt aber nicht der einzige Hinweis. Zum Beispiel sagt der Kirchenvater Polykarp: „Matthäus verfasste unter den Hebräern in ihrem Dialekt eine Evangeliumsschrift, als Petrus und Paulus in Rom evangelisierten und die Gemeinde gründeten.“
Es geht noch weiter. Origenes schreibt: „Zuerst wurde das Evangelium nach Matthäus, dem früheren Zöllner und späteren Apostel Jesu Christi, für die Gläubigen aus den Juden in die hebräische Sprache geschrieben.“
Oder noch weiter: Eusebius von Caesarea schreibt: „Matthäus, der zunächst unter den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er auch zu den anderen Völkern gehen wollte, das von ihm verkündete Evangelium in seiner Muttersprache. Denn er suchte denen, von welchen er schied, durch die Schrift das zu ersetzen, was sie durch sein Fortgehen verloren.“
Es gibt noch weitere Personen, die Ähnliches berichten. Diese Hinweise zeigen uns relativ deutlich: Selbst wenn in den ältesten Handschriften nicht steht „Original von Matthäus“, so sehen wir doch, dass diejenigen, die damals mit den Aposteln lebten oder deren Schüler waren, in ihren Schriften deutlich festgehalten haben, dass das Evangelium tatsächlich von Matthäus geschrieben wurde.
Wir können also sagen: Das Matthäusevangelium ist von Matthäus geschrieben.
Die Person des Matthäus und seine Bedeutung
Nun stellt sich die Frage, welcher Matthäus denn überhaupt gemeint ist, von dem wir dort lesen. Das ist etwas schwierig, denn der Name Matthäus war relativ häufig. Matthäus bedeutet so viel wie „Geschenk JHWHs“ oder wir könnten auch sagen „Geschenk Gottes“.
Er kommt in den Aufzählungen der Apostel, also in den Apostelverzeichnissen oder Listen, häufiger vor. So finden wir seinen Namen beispielsweise in Markus 3,18 oder Lukas 6,15. Er wird auch noch an anderen Stellen erwähnt, zum Beispiel in Matthäus 9,9 und den folgenden Versen. Das könnt ihr gerne mit aufschlagen. Dort wird nämlich die Geschichte erzählt, die uns mehr über sein Leben verrät.
In Matthäus 9,9 und den folgenden Versen berichtet Matthäus sozusagen seine eigene Bekehrungsgeschichte und wie er Jünger Jesu wird. Er arbeitet am Zoll in Kapernaum und ist dort einer der reichsten Männer der Stadt. Jesus trifft auf ihn und er bekehrt sich.
Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass dieser Matthäus auch noch Levi hieß. Das bedeutet, er gehörte zum Stamm der Leviten. Diese waren insbesondere für den Tempeldienst zuständig. Hier können wir also sagen: Das ist dieser Matthäus.
In Markus 2,14 wird auch der Name seines Vaters genannt, nämlich Alpheus. Wer sich gut in der Bibel auskennt, weiß, dass auch der Vater des Jakobus Alpheus hieß. Allerdings wissen wir, dass es sich um zwei verschiedene Väter handeln muss. Das ist eine längere Geschichte.
Wie wir das wissen? Das hängt damit zusammen, dass sonst die Brüder immer zusammen genannt und ihr gemeinsamer Vater genannt worden ist. Bei diesen beiden jedoch werden sie getrennt aufgeführt. Wir müssen uns vorstellen, dass Alpheus ein häufiger Name war, ähnlich wie Michael, Franz oder Hans. So gab es mehrere Leute mit diesem Namen.
Diese beiden Jünger Jesu hatten also einen Vater mit gleichem Namen. Wir wissen auch noch etwas über seine Familiengeschichte, wenn auch nur in Ansätzen. Das genügt uns vielleicht erst einmal.
So sehen wir den Hintergrund, die Person, die uns überliefert ist. Dabei wissen wir, dass das, was uns überliefert wird, ziemlich zuverlässig ist. Matthäus war ja fast von Anfang an mit dabei, hat drei Jahre mit Jesus durch Israel gezogen, kannte aus eigener Anschauung die Leute, mit denen Jesus gesprochen hat, war selbst dabei und hat gehört, was Jesus gesagt hat.
Überblick über die Struktur des Matthäusevangeliums
Nun gibt es noch eine weitere Frage, und zwar die nach der Aufteilung des Matthäusevangeliums. Wir werden das gesamte Matthäusevangelium durchgehen, wenn auch nur in groben Zügen. Bevor wir damit beginnen, möchte ich einen kleinen Überblick geben, also zeigen, wie das Matthäusevangelium aufgeteilt ist.
Im Gegensatz zu Lukas, Markus und auch Johannes hat es eine ganz spezifische, eigene Gliederung. Es zeichnet sich dadurch aus, dass große Redeeinheiten abwechselnd mit Berichten über die Taten Jesu stehen.
Das Matthäusevangelium beginnt in den Kapiteln 1 und 2 mit der Ankunft des Messias. Hier sehen wir bereits einen wichtigen Hintergrund, den ich gleich noch erläutern werde: Es geht darum, dass das Evangelium für die Juden beziehungsweise Judenchristen geschrieben wurde.
Kapitel 1 und 2 behandeln also die Ankunft des Messias. Kapitel 3 und der Anfang von Kapitel 4 beschreiben die Vorbereitung der Wirksamkeit des Messias. Danach folgt im weiteren Verlauf von Kapitel 4 die erste Wirksamkeit Jesu in Galiläa, mit Predigtdienst, Heilungen und Ähnlichem.
Anschließend schließt sich die erste große Redeeinheit an, die wir als Bergpredigt kennen. Diese umfasst die Kapitel 5, 6 und 7, also drei Kapitel nacheinander. In der Bergpredigt werden viele Aussagen Jesu gebündelt vorgetragen – es ist die erste größere Redeeinheit.
In den Kapiteln 8 und 9 finden wir dann Berichte über Heilungen und Wunder, die Jesus vollbracht hat. Diese spielen sich vor allem in der Gegend von Galiläa ab, also im Norden Israels.
Darauf folgt die zweite Redeeinheit, die sich über den Rest von Kapitel 9 und Kapitel 10 erstreckt. Dabei handelt es sich um eine Missionsrede Jesu und die Aussendung der Jünger. Hier steht also die Mission und der Auftrag der Jünger im Mittelpunkt.
Kapitel 11 und 12 enthalten weitere Berichte über den Dienst Jesu, weitere Heilungen und den ersten Widerstand, den Jesus in seinem Dienst erlebt. Besonders deutlich wird hier der Widerstand durch die Pharisäer, der sich immer wieder zeigt.
Die dritte Redeeinheit finden wir in Kapitel 13. Dort sind die sieben sogenannten Himmelreichsgleichnisse versammelt. Diese Gleichnisse beginnen oft mit dem Satz „Das Himmelreich ist gleich…“ und erzählen zum Beispiel von der Frau, die einen Groschen verliert, oder von der kostbaren Perle.
Kapitel 13 bis 17 beschreiben das Wirken Jesu in Galiläa und den benachbarten Gebieten. Hier wechseln sich Reden Jesu und Berichte über seine Taten ab, wobei der Schwerpunkt auf Galiläa liegt.
Die vierte Redeeinheit ist in Kapitel 18 zu finden. Hier geht es um verschiedene Weisungen an die Jünger, wie sie sich untereinander verhalten sollen und welche Aufgaben sie haben.
Kapitel 19 bis 22 umfassen den sogenannten judeischen Reisebericht. Hier wird das Wirken Jesu im Süden Israels, also in Judäa, kurz vor seinem Tod beschrieben.
Die fünfte und letzte Redeeinheit sind die Kapitel 23, 24 und 25. In Kapitel 23 richtet sich Jesus gegen die Pharisäer, die er als Heuchler bezeichnet. Er sagt: „Wehe euch, Pharisäer, ihr werdet nicht in das Himmelreich Gottes kommen“ und nennt ihre Fehler.
In den Kapiteln 24 und 25 folgen dann Hinweise auf das Ende, die Endzeit und Kriterien für die Zeit, wenn Jesus wiederkommen wird. Es geht also um Zeichen und Warnungen für die Zukunft.
Kapitel 26, 27 und 28 behandeln schließlich die Person Jesu – sein Leiden, seine Auferstehung und den Auftrag des Messias für die Mission. Hier finden wir die bekannten Verse: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“ und „Geht hin und macht alle Nationen zu Jüngern“. Diese wesentlichen Aussagen stehen am Ende der irdischen Wirksamkeit Jesu.
Entstehungszeit und besondere Merkmale des Matthäusevangeliums
Wenn wir uns nun die Frage stellen, wann das Matthäusevangelium geschrieben wurde, sind sich die meisten Historiker einig, dass es vor der Eroberung Jerusalems verfasst wurde. Denn davon wird im Text noch nichts erwähnt. Wahrscheinlich wurde es etwa um das Jahr 64, also vor dem Jahr 70, geschrieben.
Das bedeutet, dass das Evangelium etwa 30 Jahre nach dem Tod Jesu niedergeschrieben wurde. Zuvor hatte Matthäus, der als Missionar unterwegs war, die Erzählungen vielfach mündlich vorgetragen. Die Gemeinde bat ihn dann, das Ganze noch einmal zusammenzufassen. Schließlich konnte niemand mehr aus erster Hand berichten, da Jesus bereits gestorben war. So hat Matthäus das Evangelium aufgeschrieben, wie uns mehrere Zeugnisse bestätigen. Vermutlich entstand der Text zuerst in aramäischer Sprache. Später wurde er relativ bald ins Griechische übersetzt, damit auch Heidenchristen das Evangelium lesen konnten.
Zum Abschluss unserer Übersicht noch einige charakteristische Eigenarten des Matthäusevangeliums. Zum einen finden wir viele Erzählungen oder Berichte, die in anderen Evangelien ausführlich dargestellt sind, hier kurz zusammengefasst. Matthäus legt weniger Wert auf viele Einzelheiten der Handlungen Jesu, sondern möchte vor allem einen Überblick geben. Er verfolgt mehr einen lehrmäßigen Ansatz und fasst Dinge zusammen – das ist typisch für ihn.
Ein weiterer Hinweis darauf, dass sich Matthäus in erster Linie an Juden beziehungsweise Judenchristen richtet, ist der starke Wert, den er auf die Messianität Jesu legt. Im Matthäusevangelium finden sich häufig Formulierungen wie „auf dass erfüllt werde“ oder „wie geschrieben steht bei dem Propheten“. Es gibt sehr viele Bezüge zum Alten Testament. Das war den Juden wichtig, denn sie wollten keine neue Religion, sondern den Messias, der im Alten Testament vorhergesagt wurde und auf den sie gewartet hatten. Dieses Thema wird im Matthäusevangelium sehr ausführlich behandelt.
Beispiele dafür finden sich in Matthäus 1,22; 2,5; 2,15; 2,17; 2,23 und vielen weiteren Stellen. Kein Kapitel, in dem nicht Bezug zum Alten Testament genommen wird.
Ein weiterer Aspekt ist das messianische Interesse, das zum Ausdruck bringt, dass Jesus von Nazaret der verheißene Messias ist. So kommen beispielsweise die Jünger des Johannes zu Jesus und fragen: „Bist du derjenige, auf den wir warten?“ Immer wieder stellen auch die Pharisäer Nachfragen. Auch das Bekenntnis des Petrus findet sich im Matthäusevangelium: Die Leute fragen, wer Jesus sei, und vermuten, er könnte Elija oder jemand anderes sein. Petrus aber bekennt: „Du bist der Sohn Gottes!“ Jesus erklärt, dass dies nicht Fleisch und Blut offenbart habe, sondern Gott selbst, der Geist des Vaters.
Solche Hinweise finden sich bereits in Matthäus 1,21-23; 2,4-6; 3,11 und 3,17 sowie an vielen weiteren Stellen. Immer wieder wird betont, dass Jesus der Messias ist. Das ist ein zentrales Thema bei Matthäus.
Darüber hinaus wird betont, dass Jesus in erster Linie als Retter zu dem Volk Israel gesandt ist. Das zeigt sich beispielsweise in Matthäus 10,5ff., wo Jesus die zwölf Jünger aussendet und sagt, sie sollen nicht zu den Heiden gehen, sondern zu den verlorenen Schafen aus dem Haus Israel.
Später finden wir jedoch auch Hinweise, dass Jesus sich auch den Heiden zuwendet. Zum Beispiel in Matthäus 15,21-28, als die kanaanäische Frau zu ihm kommt. Jesus sagt zwar, er sei zuerst zu den Israeliten gesandt, doch er hilft ihr dennoch. Ebenso heilt Jesus den Gerasener, der in einem heidnischen Gebiet lebt.
Am Ende des Evangeliums, in Matthäus 28, wird dann der Auftrag gegeben, alle Völker zu Jüngern zu machen. Zuerst also zum Volk Israel, dann in die ganze Welt.
Ein weiteres wichtiges Thema für Juden ist Jesu Stellung zum Alten Testament. Das wird vielfach erwähnt, besonders in der Bergpredigt. Dort heißt es: „Die Alten haben gesagt, ich aber sage euch.“ Außerdem betont Jesus, dass kein Jota oder Strichlein vom Gesetz vergehen wird, eher Himmel und Erde vergehen. Auch in Fragen zum Sabbat, zur Scheidung, Wiederheirat und Ehebruch greift Jesus das Alte Testament auf und nimmt dazu Stellung.
Des Weiteren wird Jesu Stellung zur Gemeinde hervorgehoben. Im Matthäusevangelium verwendet Jesus den Begriff Ekklesia, der später für die Gemeinde steht. Zum Beispiel in Matthäus 16,18: „Ich will meine Gemeinde bauen“, das sagt er zu Petrus. Auch in Matthäus 18,17 wird Gemeindezucht thematisiert: Wenn jemand nicht auf die Gemeinde hört, soll er wie ein Heide und Zöllner behandelt werden. An anderen Stellen wird das ebenfalls erwähnt.
Wichtig ist auch das starke Interesse Matthäus’ an der Eschatologie, dem Fachbegriff für die Endzeit, also das, was in der Zukunft geschehen wird. Das zeigt sich in den Himmelreichsgleichnissen, etwa in der königlichen Hochzeit (Matthäus 22), in den zehn Jungfrauen (Matthäus 25), in den anvertrauten Talenten (Matthäus 25) und in den Zeichen der Endzeit (Matthäus 24 und 25). Matthäus beschäftigt sich intensiv mit dem, was am Ende der Zeiten kommen wird und wie sich die Wirksamkeit Jesu auf der Erde auswirkt.
Ein weiterer wichtiger Begriff im Matthäusevangelium ist die Königherrschaft des Himmels oder das Himmelreich. Im Griechischen heißt das Basileia ton Ouranon. Matthäus verwendet oft die Mehrzahl „die Himmel“. Es ist ein Fachwort, das häufig vorkommt und ausdrückt, dass Gott im Himmel herrscht. Diese Herrschaft soll sich auch auf der Erde widerspiegeln, wie im Vaterunser gebetet wird: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Das ist ebenfalls Teil des Begriffs ton Ouranon.
Auch Jesu Stellung zu den Pharisäern wird immer wieder thematisiert. Es gibt zahlreiche Streitgespräche zwischen Jesus und den Pharisäern, was ebenfalls einen Schwerpunkt bildet.
Ich denke, das genügt, um einen ersten Überblick zu geben. Denn wir wollen uns noch einige Zeit nehmen, um einen ersten Abschnitt aus dem Matthäusevangelium genauer zu betrachten.
Zusammenfassung der ersten Kapitel und Einführung in die Versuchungsgeschichte
Ich fasse zunächst die ersten Kapitel etwas ausführlicher zusammen, bevor ich zu dem Abschnitt komme, der uns heute Morgen näher beschäftigen soll.
In Kapitel 1 finden wir zunächst das Geschlechtsregister Jesu, also die Frage, in welcher Tradition er steht. Danach folgt der Hinweis auf die Empfängnis und die Geburt Jesu. Kapitel 2 berichtet vom Besuch der Weisen aus dem Morgenland, der Flucht der Familie nach Ägypten und von Herodes, der die Kinder in Bethlehem ermorden lässt. Kapitel 3 stellt Johannes den Täufer vor, der zur Buße und Umkehr ruft und so auf Jesus aufmerksam macht. Außerdem wird berichtet, dass Jesus getauft wird. Kapitel 4 beschreibt die Versuchung Jesu, den Beginn seines Dienstes und die Berufung der ersten Jünger. Die Kapitel 5 bis 7 enthalten die Bergpredigt.
Heute Morgen wollen wir uns die Versuchungsgeschichte Jesu etwas genauer anschauen, und zwar die ersten Verse von Kapitel 4.
Wenn wir uns die Frage stellen, wie das mit der Versuchung aussieht, denken wir wahrscheinlich zunächst an etwas Negatives. Nach biblischem Ausdruck ist das aber nicht unbedingt so. Das griechische Wort, das mit „Versuchung“ übersetzt wird, heißt „Pairasis“ und meint so viel wie Prüfung.
Im Alten Testament finden wir ebenfalls Hinweise darauf, dass Gott Menschen in besonderen Situationen geprüft hat – häufig, um sie auf einen besonderen Dienst vorzubereiten. So lesen wir beispielsweise in 1. Mose 22,1, dass Gott Abraham versuchte, nachdem all das geschehen war. Dieses „Versuchen“ bedeutet hier, jemanden auf die Probe zu stellen.
Die Rabbiner zur Zeit Jesu betrachteten diese Prüfungen Gottes als sehr wichtig. Ich möchte euch ein Zitat bringen, das damals unter den Rabbinern verbreitet war: „Gelobet sei der Name des Herrn, der niemanden erhöht, den er nicht zuvor geprüft und erforscht hat. Nur wer sich dieser Prüfung gewachsen zeigt, erhält einen Ehrenplatz bei Gott.“
Auch den Pharisäern war damals klar, dass, wenn Gott versucht, dies nicht das Ziel hat, von Gott wegzuführen, sondern näher zu Gott hinzubringen. Nur eine fehlgeschlagene Prüfung zeigt, dass etwas nicht stimmt. Selbst dann ist sie aber eine Hilfe.
Ein Beispiel: Viele Menschen, besonders Männer, halten sich für gute Autofahrer. Stellt euch vor, ihr macht ein Sicherheitstraining beim ADAC und merkt danach, dass eure Reaktionsfähigkeit objektiv gar nicht so gut ist. Vielleicht denkt ihr dann: „Die hatten heute nur einen schlechten Tag, sonst wäre ich besser.“ Aber wenn ihr ehrlich seid, gebt ihr zu, dass ihr an einigen Stellen besser aufpassen müsst.
So ähnlich ist das mit den Prüfungen Gottes: Sie zeigen uns, wo unsere Schwächen liegen, und daran können wir arbeiten. Wenn wir dagegen in der Illusion leben, alles sei in Ordnung, hilft uns das nicht weiter. Prüfungen sollen uns also nicht schlechter machen, sondern besser.
Natürlich besteht die Gefahr, dass wir durch Prüfungen Distanz zu Gott bekommen. Das passiert aber nur, wenn wir uns in der Versuchung nicht auf Gott verlassen, sondern versuchen, sie allein zu bestehen.
Den Bericht über die Versuchung Jesu finden wir auch in den Parallelstellen im Neuen Testament: Markus 1,12, Lukas 4,1 sowie im Hebräerbrief Kapitel 2, Vers 18 und Kapitel 4, Vers 15. Dort gibt es also weitere Berichte über die Versuchung Jesu.
Die Versuchung Jesu in der Wüste: Hintergrund und Bedeutung
Der Hintergrund, vor dem das Ganze stattfindet, ist die Wüste. Es handelt sich um eine sehr öde Gegend, die wahrscheinlich eher im Süden des Landes Israel, nämlich in Judäa, liegt. Warum nehme ich das an? Im Norden Israels gibt es eigentlich keine größere Wüste. Bis heute existiert dort keine große Wüste. Dort befindet sich der See Genezareth, die Landschaft ist grün, ebenso die Israelebene. Dort blüht und grünt es, eine große Wüste gibt es nicht.
Die größte Wüste in Israel ist die judäische Wüste. Sie erstreckt sich südlich von Jerusalem bis nach Elad, also bis ans Rote Meer. Dort herrscht vor allem Steinwüste. Wer sich nun große Sanddünen wie in der Sahara vorstellt, wird enttäuscht sein, denn so ist es nicht. Es gibt zwar auch Steine, aber eher in Form von Kalkstein, der klein gebröckelt und von der Hitze aufgespalten ist. Es handelt sich eher um langsam wellige Berge. Im Sommer herrscht dort eine unerträgliche Hitze.
Deshalb ist dort auch niemand unterwegs, kein Hirte zieht umher, denn im Sommer wächst dort nichts mehr. Man muss sich vorstellen, dass der Ort der Versuchung von sanften Bergrücken, Schutthaufen, kahlen Felsen, Hitze und Wildnis geprägt ist. So etwas ist sonst in Israel kaum üblich.
Vor diesem Hintergrund findet das Geschehen statt. Wenn wir uns die Versuchung näher anschauen, werden wir merken, dass es bei der Versuchungsgeschichte Jesu nicht nur um die Versuchung einer einzelnen Person geht. Gleichzeitig betrifft sie auch unsere Heilsgeschichte. Denn wäre Jesus versucht worden und hätte gesündigt, hätte er nicht mehr die Sünde der Welt tragen können. Er wäre selbst sündhaft gewesen, und jemand anderes hätte für ihn sterben müssen. Dann wäre der Plan Gottes gescheitert.
Im Hebräerbrief lesen wir, dass Jesus tatsächlich versuchbar war. Es handelte sich also nicht nur um ein Theaterstück, bei dem das Ergebnis von vornherein feststand. Vielmehr war es eine echte Versuchung. Jesus hätte theoretisch auch anders handeln können.
Darüber hinaus erkennen wir Parallelen zu den großen Versuchungsgeschichten der Bibel. Es gibt direkte Ähnlichkeiten mit dem, was auch Adam und Eva im Paradies widerfuhr. Wir sehen starke Parallelen zwischen körperlicher Begierde, Begehrlichkeit für die Augen und Überheblichkeit. Diese drei Punkte sind es, die die Schlange Eva nahebringt und warum sie dann sündigen. Dadurch kommt die Sünde in die Welt.
Außerdem gibt es Parallelen zu den Versuchungen des Volkes Israel während der Wüstenwanderung im Alten Testament. Auch dort treten ähnliche Versuchungssituationen auf. In der Auseinandersetzung mit dem Teufel zitiert Jesus häufig aus dem Alten Testament, insbesondere aus den Kapiteln, die ein frommer Jude eigentlich jeden Tag beten sollte.
Dazu gehört beispielsweise das Schema Israel, das Höhere Israel des Alten Testaments: 5. Mose 6,4ff., Kapitel 6, Vers 13 und Kapitel 8, Verse 3ff. Das soll zunächst als Hinweis genügen.
Die erste Versuchung: Brot aus Steinen machen
Dann kommen wir zur ersten Versuchung, beziehungsweise zu Vers 1. Dort wird Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er vom Teufel versucht wird.
Hier finden wir schon den direkten Hinweis darauf, dass Versuchung nicht unbedingt immer nur die böse Absicht des Teufels ist. Wir merken, dass Gott selbst Jesus darauf vorbereitet. Denn der Geist, von dem hier die Rede ist, ist der Geist Gottes, der Jesus in die Wüste führt. Das geschieht mit dem Zweck, dass er versucht wird. So will Gott seinen Sohn, ähnlich wie er Abraham und Mose auf die Probe gestellt hat, um den Beweis zu liefern, dass er zuverlässig ist. Deshalb führt er ihn selbst in die Wüste hinein.
Wir lesen auch, dass der Teufel dort derjenige ist, der die Versuchung schließlich lostritt. Gott bringt uns in eine Situation, aber er ist es nicht, der uns selbst versucht. Das sehen wir auch bei Hiob. Dort wird der Hintergrund erklärt: Der Teufel tritt auf, um Hiob vom Glauben wegzubringen, und Gott lässt es zu. Es ist durchaus auch im Interesse Gottes, aber Gott selbst tut es nicht. Wie wir im Jakobusbrief lesen, soll niemand meinen, dass er von Gott versucht wird, denn Gott versucht nicht zum Bösen (Jakobus 1,13).
Hier sehen wir also, dass Gott uns in eine Situation hineinführt, aber der Teufel die Versuchung in Gang setzt. Häufig erleben wir, dass Versuchungen gerade dann stattfinden, wenn wir uns auf einem Höhepunkt unseres geistlichen Lebens befinden. Vielleicht hat das damit zu tun, wie es heißt: „Hochmut kommt vor dem Fall.“ Oder Gott will uns zeigen, dass wir gar nicht so toll sind, wie wir denken, oder uns daran erinnern, dass es Probleme in unserem Leben geben kann.
Vielleicht will Gott uns auch darauf hinweisen, was von unserem geistlichen Höheflug wirklich echt und richtig ist oder wo wir vielleicht noch einmal von Grund auf bauen und nachhalten müssen. Das merken wir unter anderem im Alten Testament. Denken wir an Elia, als er seine große Schlacht gegen die Baalspropheten führt. Wir könnten sagen: Wow, was für ein Mann, was für ein Mut! Er tritt auf, alle sind gegen ihn, und er ist der Einzige, der treu geblieben ist in Israel. Dann erringt er seinen Sieg, und Gott gibt durch ein Wunder zu erkennen, dass er wirklich der wahre Gott ist und die anderen Götter falsch sind.
Doch direkt danach gerät Elia in eine totale Depression. Er wird völlig fertig und flieht, weil Isebel ihn töten will und er davon hört. Da merken wir, dass das für ihn eine Versuchung ist. Er denkt: Bin ich der Einzige, der übrig geblieben ist? Was soll ich jetzt machen? Ist doch alles überflüssig, ich mache das doch bloß nicht mehr. Das ist für ihn in dieser Situation eine Versuchung (1. Könige 19,3).
Wir finden Ähnliches auch an anderen Stellen. Und hier, bei Jesus, sehen wir es ebenfalls. Was passiert gerade vorher? Jesus hatte ein außergewöhnliches Erlebnis: Er kommt zu Johannes, dem damals bekanntesten Prediger in ganz Israel, und sagt: „Nein, ich bin gar nicht würdig, dich zu taufen. Ich kann nicht einmal deine Schuhriemen öffnen.“ Doch dann wird er schließlich doch getauft. Danach kommt eine Stimme vom Himmel, richtig wie ein Wunder: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Was für ein Erlebnis! Vor allen Menschen wird bezeugt, dass er der Sohn Gottes ist.
Stellen wir uns vor, so etwas würde uns passieren – zum Beispiel am Arbeitsplatz. Ihr streitet euch mit Arbeitskollegen, und plötzlich hört ihr eine Stimme vom Himmel. Was wäre das für eine Situation? Jesus merkt sofort, dass das die Stimme Gottes ist. Das erhöht uns nicht nur, sondern zeigt, wie wichtig Gott ihn hält. Ein wunderbares Erlebnis, alle hören zu, Jesus wird getauft, von Gott eingesetzt und als Sohn bezeugt. Das ist auch für Jesus ein tolles Erlebnis.
Wir merken, dass Versuchungen oft gerade in Höhepunkten unseres geistlichen Lebens oder dort auftreten, wo wir uns besonders stark fühlen. Vielleicht denkt der eine: „Gott hat mir einen besonderen Charme gegeben, um Prüfungen zu bestehen. Ich muss nicht unbedingt lernen, ich werde dem Lehrer freundlich in die Augen schauen, und durch meinen Charme wird das schon klappen.“ Oder ihr habt eine besondere Stärke im Ausdruck, seid redegewandt, und umgeht manche Probleme, indem ihr einfach viel redet. Vielleicht wickelt ihr andere mit Worten ein – durch Intellekt, Klugheit, Schönheit oder Weisheit.
Häufig ist es gerade dort, wo wir unsere Stärken haben, dass wir auch unsere Schwächen besitzen. Dort will der Teufel eingreifen, weil wir zu sehr auf uns vertrauen. Wir meinen, wir haben die Sache schon in der Hand, können alles regeln und brauchen Gott gar nicht. Wie jemand mit einem dicken Portemonnaie oder einem großen Bankkonto, der kaum noch um das tägliche Brot bittet, weil er weiß, dass er sein Geld abheben kann. Es geht dann nicht mehr nur ums tägliche Brot, sondern um Luxus wie Kaviar und Lachs.
So kann es schnell passieren, dass wir unser Vertrauen nicht auf Gott setzen, sondern auf uns selbst. Das ist eine Anfechtung, die wir bestehen müssen – und in die Jesus hier auch hineingeführt wird.
Vers 2: „Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn.“ Das ist, glaube ich, ganz klar. Wer schon einmal 40 Tage gefastet hat, weiß, dass das eine harte Sache ist. Ich habe es mal versucht, aber nach drei oder vier Tagen abgebrochen, weil ich zu hungrig wurde. Manche von euch schaffen das vielleicht länger, aber es ist nicht einfach. Danach wird gesagt, dass es dann leichter wird; vielleicht habe ich zu früh aufgehört. Vielleicht sollten wir mal eine Fastenfreizeit machen – in der Küche sagen: Kein Essen mehr, nur Fasten. Das wäre eine Möglichkeit.
Auf jeden Fall hat Jesus hier 40 Tage gefastet und dabei großen Hunger gehabt. Er war körperlich geschwächt. Da kommt als Erstes dieser starke Hammer mit dem Brot. Wir können uns vorstellen, wie sehr ihn der Hunger quälte. Deshalb die erste Versuchung: „Willst du nicht ein bisschen Brot essen?“
Wenn ich Parallelen ziehe, sehe ich Ähnlichkeiten zu Adam und Eva. Auch sie hatten offenbar Appetit, als sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sahen. Der Teufel sagt: „Guck mal, wie lecker das aussieht, beiß doch rein!“ Und sie tun es dann auch.
Wir sehen hier eine ähnliche Ausgangssituation: Hunger oder zumindest Appetit. Das sehen wir auch beim Volk Israel. Nicht nur, dass wir eine Parallele zwischen den 40 Tagen Fasten Jesu und der 40-jährigen Wüstenwanderung Israels ziehen können, sondern auch die ersten Prüfungen des Vertrauens auf Gott haben oft mit Essen zu tun. Das Volk sagt: „Wären wir nicht in Ägypten geblieben, da gab es so viel zu essen.“ Sie vergessen dabei alles, was sie mit Gott erlebt haben. Dann kommt das Manna, dann die Wachteln – alles hängt mit Essen zusammen. Doch sie bestehen die Prüfung nicht, sondern murren zuerst. Gott gibt ihnen dann doch, was sie brauchen.
Eine weitere Parallele finden wir im ersten Korintherbrief. Dort wird die Taufe des Volkes Israel mit der Taufe Jesu verglichen. Das Volk zieht durch das Rote Meer, das Wasser steht rechts und links wie eine große Wasserwand, und sie treten in ein neues Leben ein. Auch Jesus wird getauft. Das sind natürlich nur äußerliche Vergleiche und Bilder.
Vers 3: „Und als der Versucher zu ihm trat und sprach: Bist du der Sohn Gottes? So sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Jesus ist jetzt zum Sohn Gottes berufen, wie wir im vorigen Kapitel lesen. Hosea 11,1 wird bestätigt: Jesus ist der Sohn Gottes, der Messias.
Hier stellt der Teufel eine typische Frage: „Bist du der Sohn Gottes?“ Das ist ganz ähnlich wie bei Adam und Eva: „Sollte Gott gesagt haben ...?“ Der Teufel weiß genau, was Gott sagt. Später zitiert er sogar Bibelverse und zieht daraus falsche Schlussfolgerungen. Er glaubt, was Gott sagt, aber die Frage ist nicht echt gemeint. Er will sie nur benutzen, um Jesus zu verführen. Sozusagen: „Fühl dich gut, wenn du der Sohn Gottes bist, dann kannst du das doch machen.“
Jesus sieht aber, worin die eigentliche Schwierigkeit dieser Versuchung liegt. Die Verwandlung von Steinen in Brot ist an sich kein Problem. Jesus hätte das tatsächlich tun können. Er ist allmächtig. Wir lesen, dass er fünftausend Menschen satt macht. Rein theoretisch könnte er also auch Steine in Brot verwandeln.
Wo liegt dann die Sünde? Sie liegt am ehesten darin, dass Jesus sich hier nicht auf die Hilfe Gottes einlassen soll, sondern seine eigene Kraft zu seinem persönlichen Nutzen einsetzen soll. Er soll sozusagen eine mächtige Selbsthilfe üben, wo Gott will, dass wir uns ganz auf ihn verlassen und auf ihn hören.
Das ist auch das, was Jesus später immer wieder sagt: „Ich tue nicht meinen Willen, sondern den Willen meines Vaters im Himmel.“ Hier zeigt sich eine ganz wichtige, grundlegende Sache. Selbst bei Dingen, die wir tun können, können sie uns von Gott entfernen, wenn wir sie nicht tun, weil Gott es will, oder wenn wir sie nicht im Vertrauen auf Gott tun, sondern im Vertrauen auf unsere eigene Stärke und Fähigkeit.
Jesus macht sich hier unabhängig von Gott, fragt nicht zuerst nach Gottes Willen, sondern nur nach seinem eigenen.
Wir können uns vorstellen, dass vielleicht kleine Kalksteinbrocken in Brotkorngröße herumlagen, was die Versuchung noch verstärkte – neben der Hitze und dem Hunger. Die Versuchung trifft den Leib Jesu, seine körperliche Schwäche, ähnlich wie das Murren Israels über das Manna (4. Mose 11,4-9) oder die Frucht, die im Garten Eden gut aussah (1. Mose 3,6).
Wir lesen auch, dass Israel in die Wüste geführt wurde, um durch Versuchung zu wachsen und zu lernen. Manchmal kann es so sein, dass wir, gerade wenn wir einsam mit Gott sind und zur Ruhe kommen, dass Gott dann intensiv zu uns sprechen kann.
Dazu möchte ich noch einen Vers aus 5. Mose 8,5 lesen. Dort steht, dass Gott Israel in die Wüste führte, um sie zu erproben und zuzurüsten. Der Vergleich zwischen der Versuchung Jesu und der Wüstenwanderung ist also durchaus korrekt. Gott wählt ähnliche Wege.
In 5. Mose 8,5 lesen wir: „So erkennst du ja in deinem Herzen, dass der Herr, dein Gott, dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht.“ Direkt davor steht: „Deine Kleider sind nicht zerrissen an dir und deine Füße sind nicht geschwollen in diesen vierzig Jahren.“ Es geht also um die vierzig Jahre der Wanderung in der Wüste.
Daran sollst du erkennen, dass Gott dich erzogen, erprobt und weitergeführt hat – ähnlich wie hier bei Jesus.
Die zweite Versuchung: Sturz vom Tempel
Ja, gut, dann kommen wir zu der Antwort Jesu. Im nächsten Vers heißt es: „Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben“ – hier bezieht sich Jesus auf 5. Mose 8,3.
Wir sehen also wieder einen Bezug zum Alten Testament: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes geht.“ Jesus antwortet dem Teufel mit einem Bibelvers. Das sollte uns auch eine Herausforderung sein. Wenn wir in Schwierigkeiten bezüglich unseres Glaubens kommen, müssen wir nicht mit großen eigenen Ideen antworten. Diese haben an anderer Stelle ihren Platz. Vielmehr sollten wir uns intensiv mit dem Wort Gottes auseinandersetzen und es auch in der Auseinandersetzung mit dem Teufel oder der Welt um uns herum einbeziehen.
Die Bedürfnislosigkeit zuerst – das Wort Gottes – ist das Wesentliche, das Wichtige. Das ist sicherlich auch etwas, was wir uns in einer materialistischen Welt sagen lassen sollten, die zuerst auf das Äußere schaut und erst dann auf das Innere.
Hier sehen wir gerade im Gegensatz dazu: Nein, das Wesentliche ist, wie du innerlich bist. Bist du innerlich leer, ausgebrannt, hohl, nur noch ein Schein, nur noch eine Fassade? Oder hat das Innere Substanz? Dann spielt das Äußere eine untergeordnete Rolle.
Es hätte hier durchaus Gründe geben können, dass Jesus diesem Wunder nachgeht. In Jesaja 49,10 finden wir den Hinweis, dass im Reich Gottes niemand mehr hungern wird und dass der Messias die Macht hat, die Menschen zu speisen. Das wäre ein Hinweis. Möglicherweise könnte man auch sagen: Dieser Brotkönig hätte doch viele Menschen anziehen können. Stellt euch vor, plötzlich wäre die ganze Wüste von Jerusalem voll Brot. Was für eine Sensation wäre das nicht?
Sicherlich wären die Leute Jesus nachgelaufen, wie sie es ja übrigens nach der Speisung der Fünftausend getan haben und ihn zum König machen wollten. Doch Jesus lehnt ab. Das ist, glaube ich, auch das Problem. Es sähe nämlich zu sehr nach Bestechung aus, nur zu sagen: Werde Christ oder lauf mir nach, und ich werde dir für immer zu essen geben.
Oder es könnte auch dazu führen, dass die Menschen nur aufgrund ihrer materiellen Vorteile Jesus nachfolgen und nicht aufgrund der innerlichen Erkenntnis, dass sie Jesus innerlich, seelisch nötig haben und brauchen. Der eigentliche Hunger nach Leben und nach dem Sinn des Lebens soll ausgefüllt werden – dieser Hunger soll ein für allemal gelöscht werden, wie Jesus es der Frau am Jakobsbrunnen sagt, und nicht nur kurzzeitig.
Jesus will hier sicherlich auch als Vorbild für die Jünger und alle anderen zeigen und sagen, dass wir uns zuerst auf Gott verlassen sollen. Dann werden wir wahrhaft befriedigt für das, was wir brauchen. Wie Jesus es ja wenige Verse später in der Bergpredigt sagen wird: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch solches alles zufallen.“ Die Reihenfolge ist ganz entscheidend wichtig.
Vielleicht noch ein letzter Hinweis in diesem Zusammenhang bei dem Brot: Welches Brot war denn das jetzt? Da wollte ich doch noch irgendetwas sagen. Vielleicht fällt es mir später wieder ein. Wenn man jetzt darüber nachdenkt, fällt es mir gerade nicht ein. Also gut, dann kommen wir einfach weiter.
Dann gehen wir nämlich zur nächsten Versuchung, die Jesus erfährt. Im Vers 5 heißt es: Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: „Bist du der Sohn Gottes?“ Wiederum genau dasselbe – also wiederum die Frage: Bist du der Sohn Gottes?
Hier müssen wir uns die Zinne als entweder ein vorspringendes Türmchen oder eine Art Erker am Tempel vorstellen. Der Tempel war damals noch nicht ganz fertig; er wurde erst in den sechziger Jahren fertiggestellt und dann im Jahr 70 schon wieder zerstört. Trotzdem galt er zur Zeit Jesu als eine Art Weltwunder. Er lag oben auf einem Berg, direkt gegenüber lag der Ölberg.
Von dort aus ging die Sonne auf, und morgens, wenn die ersten Sonnenstrahlen über den Ölberg hinauf schienen, fielen sie normalerweise auch auf die Tempelzinnen. Diese waren nämlich vergoldet und hatten Haken, die oben auf dem Dach des Tempels angebracht waren.
Jesus hat also einen guten Überblick. Er steht hier oben und sieht den Ölberg und den ganzen Tempelkomplex. Wir wissen auch, dass die Juden damals erwartet haben, dass der Messias in Bezug zum Tempel auftreten wird. So finden wir bei einem anderen Rabbiner der damaligen Zeit die Aussage: Unsere Lehrer haben gelehrt, wenn sich der König, der Messias, offenbart, dann kommt er und steht auf dem Dach des Heiligtums.
So merken wir, dass diese Auswahl der Versuchung des Teufels nicht zufällig ist, sondern beabsichtigt. Er will etwas von dem erfüllen, was die Menschen erwartet haben. Sozusagen: Enttäusche die Menschen nicht! Tu doch jetzt das, was sie von dir erwarten, zeig doch jetzt offensichtlich, dass du der Messias bist.
Wir finden auch einen Hinweis darauf, dass tatsächlich Engel kommen würden, um Jesus zu halten, wenn er sich von dort stürzen würde. Das steht beispielsweise im Psalm 91, einem sogenannten Tempelsalm, der in seiner Entstehungsgeschichte eine Verbindung zum Wüstenzug Israels herstellt.
Dort wird vorausgesetzt, dass der Messias Wunder tun kann und dass Engel kommen, um ihm die Füße zu halten – wie der Teufel Jesus hier auch auffordert. Da spricht er in Vers 6: „Bist du der Sohn Gottes, so wirf dich hinab, denn es steht geschrieben“ (Psalm 91,11-12): „Er wird seinen Engeln deinen Wegen Befehl geben, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“
Wir sehen also, dass der Teufel bibelfest ist. Versuchungen müssen nicht unbedingt so offensichtlich sein wie „Betrüge deinen Nachbarn“ oder „Erschieße deinen Arbeitskollegen“. Solche Versuchungen sind oft klar erkennbar und für Christen hoffentlich keine große Versuchung mehr.
Es kann aber auch Versuchungen geben, die sich ganz fromm anhören, wie diese hier. Etwas zu tun, das eigentlich unserem frommen Selbstbewusstsein entspricht, aber trotzdem falsch ist, weil wir nicht den Willen Gottes für diese Situation beachten.
Ich könnte zum Beispiel sagen: Beten ist gut, also gebe ich meinen Arbeitsplatz auf, kümmere mich nicht mehr um meine Familie und bete den ganzen Tag. Das wäre recht extrem. Wenn ich aber keine Berufung Gottes dafür habe, dann ist das Beten nichts anderes als das, was Jesus wenige Verse später in der Bergpredigt „plappernde Heiden“ nennt – also nutzloses Gerede.
Beten an sich, wenn es nicht im und aus dem Willen Gottes heraus geschieht, kann also auch falsch sein. So sehen wir hier: Selbst wenn der Teufel sich auf einen Bibelvers beruft, müssen wir prüfen, ob es mit der Gesamtaussage Gottes zusammenhängt.
Diese Wunder, mit denen Menschen gewonnen werden sollen, dass sie begeistert sind und Jesus nachfolgen, sind problematisch. Stellt euch vor, der ganze Tempel wäre voller Leute – Heiden, Frauen, männliche Juden – und Jesus stürzt sich von der Zinne hinunter. Plötzlich kommen Tausende von Engeln, die um ihn flattern, und alle sehen das. Welch eine Chance, den Menschen Macht zu demonstrieren! Würden wir nicht zustimmen?
Stellt euch vor, ihr hättet eine Herausforderung mit den stärksten Atheisten unserer Zeit oder mit Muslimen, etwa Ayatollah Khomeini, wenn er noch lebte. Man macht einen Glaubenswettkampf: Wir stürzen uns alle vom Berliner Funkturm herunter, und wer unten heil ankommt, dessen Gott ist der Richtige. Das wäre doch eine Demonstration des Glaubens, oder?
Aber hier finden wir ganz deutlich: Es geht nicht darum, welche menschlichen Überlegungen wir anstellen, um Gott zu seiner Ehre zu verhelfen. Es geht darum, was Gott sich vorstellt. Wenn wir nicht danach handeln, ist das Ganze daneben.
Zwischenzeitlich ist mir auch eingefallen, was ich euch noch zur ersten Versuchung sagen wollte. Wir müssen immer versuchen, mit einem Teil des Gehirns weiterzudenken und mit dem anderen Teil sich zurückzuerinnern.
Nämlich: Woher wissen wir überhaupt, was Jesus in der Wüste gesagt hat? Habt ihr euch diese Frage schon mal gestellt? Es war ja niemand dabei, außer dem Teufel, und der hat das bestimmt nicht aufgeschrieben. Die Jünger wurden ja erst später berufen.
Deshalb müssen wir an dieser Stelle davon ausgehen, dass Jesus selbst es seinen Jüngern weitergegeben hat. Matthäus war einer der ersten Jünger, und er hat das behalten und später aufgeschrieben. Hier stützt sich die Aussage also auf das, was Jesus selbst gesagt hat und was dort passiert ist.
Viele Leute der damaligen Zeit versuchten durchaus zu demonstrieren, dass sie der Messias sind, denn es gab damals einige Anwärter auf den Messias-Titel. So wissen wir beispielsweise, dass zur Zeit Jesu ein Theudas auftrat, der die Menschen zum Jordan führte und sagte: „So wie damals Joshua durch den Jordan geschritten ist, so wird sich jetzt auch der Jordan teilen.“
Die Leute liefen los, doch als sie bis zum Hals im Wasser standen, hatte sich der Jordan noch nicht geteilt. Trotzdem war das ein Menschenauflauf, Tausende wollten sehen, ob er der Messias sei. Nicht alle konnten dieser Versuchung widerstehen.
Gerade diejenigen, die falsche Messiasse waren, wählten diesen falschen Weg. Jesus hingegen wehrt sich eindeutig dagegen, durch eine große Show zu inszenieren, wer er ist.
Ein anderer wird in Apostelgeschichte 21,38 erwähnt. Dort heißt es: „Bist du nicht der Ägypter, der vor diesen Tagen einen Aufruhr gemacht und 4000 Aufrührer in die Wüste hinausgeführt hat?“ Paulus antwortete: „Ich bin es nicht.“
Das wird nur nebenbei erwähnt, etwas, das zur Tagespolitik gehörte. Damals war klar, wer dieser Ägypter war – für uns heute vielleicht nicht. Es handelte sich um einen ägyptischen Juden, der nach Jerusalem gekommen war und sagte: „Ich bin der Messias.“
Das hätte schon Bedenken hervorrufen müssen. Er wollte, wie Joshua um die Stadt Jericho, um die Mauern Jerusalems ziehen, damit diese einstürzen – als Zeichen, dass er der Messias sei. Sie liefen bei großer Hitze mehrfach herum, doch die Mauern stürzten erst um das Jahr 70 ein, als die Römer sie stürmten.
Auch hier sehen wir wieder jemanden, der vorgibt, der Messias zu sein, eine große Wundertat vollbringen will, und alles läuft schief.
Simon Magus, der im Neuen Testament erwähnt wird, trat ebenfalls auf und behauptete, fliegen zu können. Allerdings konnte er nur fliegen, bis er am Boden ankam – dann war der Flug vorbei. Auch er bezog sich auf das Alte Testament, dass Engel kommen und die Füße halten würden. Wahrscheinlich dachte er, er sei wirklich der Messias, doch es stellte sich als Fehler heraus.
Vers 7: Jesus lehnt ab. Da spricht Jesus zu ihm: „Wiederum steht geschrieben“ (5. Mose 6,16): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“
Hier geht es nicht darum, dass Jesus sagt: „Du Teufel, du sollst mich nicht versuchen.“ Jesus ist ja auch Gott. Es geht vielmehr darum, dass Jesus sagt: „Du sollst Gott, also den Vater, nicht versuchen.“
Jesus würde versucht werden, wenn er sich leichtfertig ohne den Auftrag Gottes in eine solche Show hineingibt und sich dort hinunterstürzt. Das ist das Problem.
Das wäre ähnlich, als wenn wir sagen: „Wir sind doch Kinder Gottes, warum sollen wir unsere Zeit noch mit der Inspektion unseres Autos verbringen, Öl wechseln oder Bremsen kontrollieren? Uns kann doch nichts passieren.“
Oder: „Elektrokabel sichern? Das ist doch unnötig, selbst wenn wir an den Strom fassen. Jesus sagt doch, wir werden Schlangen anfassen, und sie werden uns nicht schaden.“
Jesus würde dann sagen: „Da kann es aber sein, dass du bei einem Stromschlag stirbst und dann im Himmel eine Aufklärung bekommst, wie man mit Strom umgehen soll.“
Das bedeutet hier: Du sollst Gott nicht versuchen, indem du leichtfertig Dinge tust, die du selbst in der Hand hast. Du sollst dich nicht leichtfertig auf Wunder verlassen. Wenn du wirklich in Bedrängnis bist, dann erweist sich Gott groß an dir. Aber nicht, wenn du dich leichtfertig in Probleme bringst.
Das hat nichts mit großem Glauben zu tun, sondern höchstens mit Faulheit oder Dummheit.
Wenn Gott wirklich eine Glaubensprobe von dir fordert, dann weißt du das bewusst. Das zeigt er dir vorher eigentlich auch.
Jesus lehnt ab, ständig neue Wunder zu tun. Das wäre die Folge, denn die Leute würden sich daran gewöhnen.
Stellt euch vor, jeden Morgen regnet das Brot vom Himmel. Würdet ihr das noch als Wunder bezeichnen? Wahrscheinlich würden Wissenschaftler dann schon 20 Naturgesetze heranziehen, um zu erklären, warum das so passiert.
Seid ihr Gott jeden Tag dankbar, dass Wasser flüssig ist? Physiker sagen, dass das ganze Leben auf der Erde gar nicht möglich wäre, wenn Wasser nicht flüssig wäre.
Das ist eine physikalisch interessante Sache. Wasser könnte auch fest sein. Wie wäre das in euren Körperzellen? Nichts würde funktionieren mit dem Wasser darin. Keine Früchte würden wachsen, ihr könntet heute Nachmittag nicht baden.
Es wäre alles nicht möglich, wenn Wasser immer fest wäre. Dass es gerade um den Nullgrad flüssig wird, ist entscheidend wichtig.
Stellt euch vor, Wasser würde erst bei sechzig Grad flüssig werden. Das wäre ein großes Problem.
Wir könnten sagen, dass es eigentlich ein Wunder Gottes ist, dass er das so eingerichtet hat. Wir sehen es nur nicht als Wunder an, weil wir es tagtäglich erleben.
So wäre es auch bei Jesus. Wenn er sich immer wieder von der Zinne stürzen würde und die Leute könnten fliegen, was wäre das für ein Wunder? Wenn alle Christen fliegen könnten und sich überall herunterstürzen, wen würde das noch beeindrucken? Keinen mehr.
Es würden immer neue, stärkere Wunder gefordert werden.
Wir sehen auch bei den Geheilten, dass Jesus nicht alle heilt. Von zehn Aussätzigen wird nur einer dankbar und kehrt zurück. Die anderen kümmern sich nicht mehr um Jesus. Das zeigt, welche Auswirkungen totale Wundertaten haben können: Die Leute sind begeistert vom Wunder, ändern aber ihr Leben nicht.
Der Teufel will ein Wunder dafür, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Dabei müssen wir sagen: Lieber Teufel, spinnst du? Du bist im Jenseits, du weißt längst, dass Jesus der Sohn Gottes ist.
Beim Teufel ist das kein echtes Interesse, sondern nur ein vorgeschobenes. Manche Menschen sagen ja auch: „Wenn diese Person anders wäre, würde ich Christ werden.“ Oder: „Wenn ich die Schöpfung besser verstehen würde, würde ich Christ werden.“
Bei vielen sind das vorgeschobene Gründe.
So ist es auch beim Teufel. Er sagt: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann tu doch das! Beweise es, dann sehen es alle, auch ich.“ Dabei weiß er es längst.
Er kennt die natürliche Welt und weiß, dass Jesus auf die Erde gekommen ist. Deshalb sucht er Jesus auf und nennt viele Bibelverse. Sonst wäre ihm Jesus an dieser Stelle egal.
Wir können hier eine Parallele ziehen: Es ist eine Begehrlichkeit für die Augen, ein besonderes Wunder zu sehen.
Das sehen wir auch beim Volk Israel im Alten Testament, bei der Versuchung in der Wüste, etwa in 2. Mose 17,1-7. Dort murren die Menschen und leiden Durst. Sie glauben nicht, dass Gott ihnen helfen wird, und schließlich greift Gott durch ein Wunder ein.
Wir finden eine ähnliche Versuchung ganz am Ende von Jesu Passion. Der Teufel geht nochmals genauso vor, wie in Matthäus 27,40 steht: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann steig vom Kreuz herab.“
Auch hier will der Teufel Jesus davon abhalten, die Heilstat Gottes zu vollbringen. Es wäre zwar ein tolles Wunder, aber dann wäre Jesus nicht für unsere Sünden gestorben.
Die dritte Versuchung: Herrschaft über die Welt
Und wir kommen zur letzten Versuchung Jesu. Daraufhin führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit.
Hier haben wir zuerst einmal ein physikalisches Problem. Zum einen stellt sich die Frage, was für ein Berg das gewesen sein könnte. Der Berg müsste nämlich sehr hoch sein. Aber von diesem Berg aus – entweder kann es kein echter Berg sein, oder es können keine echten Reiche gewesen sein. Warum? Selbst wenn wir einen riesengroßen Berg hätten, wie soll man denn um die Ecke schauen? Wir wissen ja, die Erde ist eine Kugel. Stellt euch vor, ihr seid oben auf einem riesigen Berg. Wie wollt ihr da bis zur anderen Seite der Erde sehen? Die Reiche der Welt alle auf einmal zu sehen, ist physikalisch nicht möglich.
Daraus schließen wir, dass etwas an der Darstellung nicht ganz so zu verstehen ist, wie wir es uns physikalisch vorstellen. Entweder hat der Teufel Jesus auf einen hohen Berg geführt und er hat die Reiche in einer Vision gesehen, also hat er sie ihm vor Augen geführt. Manche weisen auch darauf hin, dass es eine Ähnlichkeit gibt zwischen dem hebräischen Wort für Berg und einem Wort für Vogel oder Fliegen. Ich habe das so gelesen, dass jemand meint, der Teufel könnte Jesus herumgeflogen haben über die Erde, so dass er die Reiche gesehen hat.
Wie das physikalisch genau abgelaufen ist, wissen wir nicht. Vielleicht war das Ganze auch eine Art Vision. Sozusagen hat der Teufel Jesus vor Augen gemalt, eine Art Hologramm: „Hier siehst du diese Reiche, und diese Reiche, und jene Reiche.“ Dann wurde Jesus versucht. Das Entscheidende ist aber nicht, wie das genau geschah, sondern dass Gott es irgendwie möglich gemacht hat, ihm das zu zeigen.
Die Versuchung bestand darin, den Willen Gottes durchzuführen – aber auf eigenwillige, eigenständige Weise. In diese Versuchung können auch wir in ähnlicher Hinsicht kommen.
Jesus sollte auf diesem hohen Berg die ganze Welt in Besitz sehen. Hier sehen wir auch einen Vergleich zu Mose. Mose wurde kurz vor seinem Tod, in 5. Mose 34,1-4, ebenfalls auf einen hohen Berg geführt. Dort sieht er das verheißene Land. Die rabbinischen Überlieferungen sagen, dass er nicht nur das verheißene Land sah, sondern sogar alle Länder der Erde. Das ist allerdings nicht biblisch belegt und deshalb nur teilweise als Parallele heranzuziehen. Trotzdem erkennen wir hier eine Verbindung.
Der Teufel sagt nun zu Jesus: „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Hier lässt der Teufel seine Maske fallen. Es ist kein frommes Gerede mehr, sondern eine klare Aufforderung zur Anbetung, die gegen das erste der zehn Gebote verstößt. Das sollte jedem klar sein.
Jesus antwortet darauf nicht direkt, aber implizit macht er klar, dass der Teufel keine Möglichkeit hat, ihm diese Reiche zu geben. Dennoch hätte der Teufel tatsächlich die Macht, die Herrschaft der Welt an Jesus abzutreten. Im Epheserbrief lesen wir, dass der Teufel der Herr dieser Welt ist. Das bedeutet, solange Jesus nicht wiedergekommen ist, um das tausendjährige Reich zu errichten, hat der Teufel Macht auf der Erde.
Gott greift immer wieder ein, und wir stehen als seine Kinder unter seinem Schutz. Trotzdem kann der Teufel diese Macht ausüben. Die Versuchung des Teufels ist also real.
Jesus hätte die Macht annehmen und sagen können: „Nun, ihr seid ja alle erlöst, und wir richten das Reich Gottes auf.“ Aber das war nicht im Willen Gottes. Deshalb wendet Jesus sich dagegen. Er hätte als Gott selbst den Teufel als Herrn anerkennen müssen. Das geht nicht.
Auch kein innerer Vorbehalt ist möglich, etwa so: „Du bist ja der Teufel, alles klar, ich verehre dich, aber eigentlich meine ich das nicht so.“ So funktioniert es nicht. Wir sollten auch bei uns darauf achten, wie wir mit der Wahrheit umgehen.
Manchmal können wir in Versuchung geraten, ein gutes Ziel Gottes durchzusetzen – aber auf dem falschen Weg. Nehmen wir an, wir als Bibelschule wollen unsere Turnhalle umbauen. Das kostet viel Geld. Nun überlegen wir, wie wir das Geld bekommen. Spendengelder reichen nicht aus.
Was wäre, wenn jemand sich verkleidet, eine Maske aufsetzt, dann zur Bank geht, ein großes Gewehr zeigt und sagt: „Gebt das Geld her, sonst erschieße ich euch!“ Dann wird das Geld zurückgebracht, und wir können bauen. Wäre das gut? Immerhin ist es für das Reich Gottes. Wir könnten sogar noch Missionare aussenden.
Wäre das super? Menschen hören von Gott, nur dass die Bank etwas weniger Geld hat. Die ist versichert, und man bekommt das Geld zurück. Klingt toll, oder? Doch die meisten sind nicht begeistert. Zu Recht. Ich hoffe, niemand wird durch solche Gedanken verführt, vor allem nicht, wenn er selbst Schwierigkeiten hat, seine Freizeit zu finanzieren.
Deshalb gilt: Ein gutes Ziel ist falsch, wenn es auf einem falschen Weg erreicht wird. Bei Gott geht es nicht nur darum, ein gutes Ziel zu erreichen – zum Beispiel die Welt zu retten, indem Jesus Herr der Welt wird. Wenn der Weg falsch ist, ist auch das Ziel korrumpiert.
Das dürfen wir nicht machen. Und das müssen wir als Christen beachten.