Für das, was ich Ihnen heute Nachmittag vortragen werde, könnte ich in der Türkei ins Gefängnis kommen. Viele der Dinge, die ich jetzt nennen werde, sind in der Türkei offiziell verboten. Es handelt sich um Vergehen gegen das Türkentum – so nennt man das dort. Ähnliche Bestimmungen gibt es auch in anderen Ländern. In der Türkei sitzen Menschen im Gefängnis, weil sie genau diese Dinge benannt haben, die ich hier ansprechen werde.
Vielleicht beginne ich damit: Ich habe mein theologisches Studium in Basel absolviert. Einer meiner Mitstudenten ist nach seiner Ausbildung in die Türkei gegangen und hat dort insbesondere Literaturarbeit geleistet. Dieser damals junge Mann – heute ist es schwierig, das genau zu sagen – wurde in der Türkei umgebracht.
Vielleicht erinnern Sie sich noch daran: Vor einigen Jahren gab es drei Mitarbeiter eines christlichen Verlages, die von einem türkisch-islamischen Extremisten ermordet wurden. Einer davon war mein ehemaliger Mitstudent. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, in der Türkei Christen zu helfen und zu ermutigen, für ihren Glauben einzustehen. Gleichzeitig wollte er Menschen, darunter auch Muslime, mit dem christlichen Glauben konfrontieren.
Das ist vielleicht umso wichtiger, wenn man bedenkt, dass in der Türkei offiziell Religionsfreiheit besteht. Offiziell ist die Türkei eines der wenigen islamischen Länder, in denen Religionsfreiheit gilt – aber eben nur auf dem Papier. Das ist einer der Gründe, warum die Verhandlungen mit der EU in den letzten Jahren immer wieder ins Stocken geraten sind. Ein weiterer Grund ist, dass es keine wirkliche Meinungs- und Religionsfreiheit in der Türkei gibt.
Die Zahl der Christen in der Türkei ist schwer genau zu bestimmen. Je nach Schätzung machen sie etwa 0,1 bis 0,2 Prozent der Bevölkerung aus. Das heißt, sie sind in der Gesellschaft kaum wahrnehmbar. 99 Prozent der Bevölkerung der Türkei sind Muslime. Dennoch begreifen viele dieser Muslime die wenigen Christen, die noch da sind, als eine Bedrohung ihrer nationalen Identität. Deshalb gehen sie gegen sie vor, wollen sie immer wieder umbringen und machen ihnen das Leben schwer.
Herausforderungen für Christen in der Türkei
So ist es beispielsweise in der Türkei bis heute so, dass christliche Gemeinden praktisch keine Baugenehmigung für Kirchen erhalten. Anschließend lässt man die Kirchen verfallen. Dann kommt die Baupolizei und sagt: „Seid ihr hier, dürft ihr euch aber nicht mehr versammeln, das ist nicht mehr sicher.“
Daraufhin werden die Kirchen geschlossen, abgerissen oder anderweitig beseitigt. Keine Kirche in der Türkei darf eigenes Eigentum besitzen. Stellen Sie sich vor, Sie sind vom Gemeindehilfsbund, und es wird Ihnen generell verboten, Eigentum zu besitzen. Deshalb musste man Stiftungen einrichten. Diese Stiftungen werden jedoch staatlicherseits wieder anders ausgerichtet.
Man erlaubt nicht, dass Personen, die nicht ordiniert sind, Pfarrer werden. Gleichzeitig erlaubt man den großen kirchlichen Gemeinschaften aber auch nicht, eigene Priesterseminare durchzuführen. Man rechnet einfach damit, dass irgendwann alle Älteren ausgestorben sind. Dann gibt es keine Priester mehr, und die Kirche wäre faktisch aufgelöst, weil es hier kein Personal mehr gibt. Zudem sind die Kirchen baufällig. So erledigt sich das Problem von selbst.
Bei all diesen Dingen, die zum großen Teil bis heute gültig sind, kann man natürlich nicht von realer Glaubensfreiheit in der Türkei sprechen. Ganz zu schweigen davon, dass es vollkommen unvorstellbar ist, öffentlich auf Jesus Christus hinzuweisen.
Den Eindruck, den manche von Ihnen wahrscheinlich schon während einer Urlaubsreise in die Türkei gewonnen haben – etwa irgendwo an der Küste bei Antalya oder anderswo –, dürfen Sie nicht mit dem alltäglichen Leben in der Türkei verwechseln. Dort sind Sie als Tourist willkommen, man ist lieb und nett zu Ihnen, freundlich und tolerant.
Leben Sie jedoch einige Jahre in der Türkei, irgendwo in Anatolien, in einem Dorf – und nicht in einer Großstadt wie Istanbul als Student oder als Wochenendurlauber –, dann werden Sie merken, dass dort die Uhren noch ganz anders ticken.
Historische Entwicklung der Christen in der Türkei
Wenn wir uns das anschauen, stellt sich natürlich die Frage: Wie ist das eigentlich dazu gekommen?
Lesen wir im Neuen Testament, dann war die Situation ganz anders. Die Gebiete, in die der Apostel Paulus zuerst zog und missionierte, waren dort, wo zahlreiche Gemeinden entstanden sind. Heute gibt es manchmal Reisen, die auf den Spuren der Sendschreiben-Gemeinden aus der Offenbarung führen. Diese Gemeinden lagen alle in Kleinasien, dem heutigen Gebiet der Türkei.
Wenn man heute nach Kappadokien reist, kann man sich die vielen christlichen Bergkirchen anschauen, die in die Felsen hineingemeißelt sind. Das ist sehr beeindruckend, denn in dieser Zeit gab es dort flächendeckend die ersten christlichen Gemeinden. Während in Deutschland die meisten Menschen noch Heiden waren, war der Großteil der Bewohner Kleinasiens und Galatiens, also dieser Provinzen, bereits christlich.
Als es zu den großen Verfolgungswellen kam, am Ende der heidnischen römischen Kaiser, gab es ganze Dörfer in Kleinasien, die sich geschlossen zum christlichen Glauben bekannten. Der Kirchenhistoriker Eusebius beschreibt, dass manche Dörfer komplett ausgelöscht wurden, weil die römische Armee kam und sie vernichtete, da sie sich zum christlichen Glauben bekannten.
Diese Region war also eine urchristliche Gegend. Später entstand dort das Byzantinische Reich, auch Oströmisches Reich genannt, das noch tausend Jahre nach dem Untergang des Weströmischen Reiches existierte. Es wurde 1454 unter dem Ansturm muslimischer Heere aufgegeben. An diesem Datum wurde Konstantinopel – später Byzanz, heute Istanbul, alles derselbe Ort – von muslimischen Heeren erobert.
Im Anschluss wurde dort ein neues Reich gegründet, das sogenannte Osmanische Reich. Dieses regierte über Jahrhunderte hinweg die gesamte Region und den Nahen Osten. In seiner Blütezeit reichte das Osmanische Reich von Ägypten bis in den heutigen Balkan hinein und bis nach Irak und Syrien. Es war ein riesiges, multikulturelles und islamisches Reich.
Das Osmanische Reich blühte über Jahrhunderte und hatte eine große Macht. Es war relativ gesehen religiös tolerant. Das war auch notwendig, da es mit vielen verschiedenen Völkergruppen und Religionsgemeinschaften zu tun hatte.
Dies soll nur ein kurzer Überblick über den Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen sein, über die ich sprechen möchte. Diese fanden vor etwa hundert Jahren statt.
Religiöse Toleranz im Osmanischen Reich
Denn ich glaube, dass es wichtig ist, wenn wir uns mit dem Islam auseinandersetzen – was ich jetzt in einem kleinen Abschnitt tun werde –, denjenigen, den wir darstellen, einigermaßen objektiv darzustellen.
Ich denke nicht, dass es hilfreich ist, jemanden, an dem wir möglicherweise Kritik üben, von vornherein schlechter darzustellen, als er tatsächlich ist. Das hilft niemandem. Deshalb betone ich hier noch einmal: Zum damaligen Zeitpunkt, also im 16. und 17. Jahrhundert, war der osmanische Staat toleranter als die meisten europäischen Staaten derselben Zeit.
Wir wissen, dass es unter europäischen Staaten, zum Beispiel in Spanien, starke Judenpogrome gab. Dort wurden Juden entweder vertrieben, umgebracht oder zur Konversion gezwungen. Das gab es damals im Osmanischen Reich nicht. Das Osmanische Reich war im Vergleich relativ religiös frei.
Wir dürfen das allerdings nicht mit der heutigen Religionsfreiheit verwechseln. So war das nicht. Wer eine führende Stellung innehaben wollte, musste natürlich Muslim sein. Als Nicht-Muslim musste man Sondersteuern, sogenannte Kopfsteuern, bezahlen. Das waren erschwerende Bedingungen.
Aber es war nicht so, dass man dort als Christ nicht leben konnte. Das müssen wir, glaube ich, deutlich feststellen.
Der Niedergang des Osmanischen Reiches und seine Folgen
Eine Veränderung gab es im Osmanischen Reich mit dem Zusammenbruch seiner Macht. Das ist häufig so: Solange alles gut läuft, solange man materiell und politisch viel Überfluss hat, kann man es sich leisten, großzügig und liberal zu sein.
Diese Phase erleben wir momentan auch in Deutschland. Wir sind relativ reich und verfügen über viele Ressourcen. Deshalb können wir großzügig gegenüber allem und jedem sein. Jeder kann sein kleines Hobby nachgehen, und wir sind sehr tolerant.
Wenn jedoch Verteilungskämpfe einsetzen, hört diese Großzügigkeit ganz schnell auf. Dann kommen schnell die Ellenbogen zum Einsatz, und es heißt: „Der ist weg, der ist weg, der ist falsch.“ Solange man viel hat, ist das nicht so. Genauso war es auch im Osmanischen Reich.
Im 19. Jahrhundert verfiel das Osmanische Reich immer mehr und wurde zum sogenannten „kranken Mann am Bosporus“. So nannte man es damals. In dieser Zeit breitete sich auf Kosten des Osmanischen Reiches das Kolonialreich der Briten und Franzosen aus – häufig in Regionen, die früher zum Osmanischen Reich gehörten. Zum Beispiel in Ägypten, im Sudan und in den Gebieten, die heute arabische Länder sind.
Die Kolonialreiche dehnten sich aus, und das Osmanische Reich wurde aus diesen Regionen immer stärker verdrängt. Wirtschaftlich, politisch und militärisch befand es sich auf dem absteigenden Ast. Es war korrupt und dekadent geworden, auch in moralischer Hinsicht. Formal war man zwar islamisch, doch im praktischen Alltag hielt man wenig vom Islam.
Man muss sich vorstellen, dass dieser Staat im Verfall begriffen war. Immer wenn Verfall herrscht und Menschen auf ihre Privilegien verzichten müssen, wenn es ihnen schlechter geht, passiert immer dasselbe: Man sucht nach einem Schuldigen.
Auch hier wurde schnell ein Schuldiger ausgemacht. Der Schuldige ist immer die Minderheit im Land. Das kennen wir auch aus der schlimmen Geschichte des Nationalsozialismus, wo die Juden als Schuldige dargestellt wurden – obwohl sie für die meisten Probleme des Deutschen Reiches gar nichts konnten.
Dieses Muster wiederholt sich immer wieder. Im frühen Römischen Reich waren es die Christen, die als Minderheit verfolgt wurden. Genauso war es im 19. Jahrhundert in der Türkei. Die Christen wurden als Schuldige für den Niedergang des Osmanischen Reiches identifiziert.
So kam es bereits im 19. Jahrhundert zu ersten Pogromen gegen die christliche Bevölkerung.
Rückgang der christlichen Bevölkerung und erste Pogrome
Die christliche Bevölkerung in der Türkei war damals schon wesentlich dezimiert. Ich habe ja gesagt, dass bis zur Eroberung durch muslimische Heere, also im fünfzehnten Jahrhundert, der Großteil der Bevölkerung christlich war. Allerdings handelte es sich häufig um traditionalisierte Christen. Deshalb wechselten viele, als es einen neuen Herrscher gab, schnell zum Islam. Dabei verloren sie nicht viel, denn sie hatten muslimische Partner, Geschäftskontakte in die muslimische Welt und konnten politisch Karriere machen. Viele gaben ihren Glauben einfach auf. Es brauchte nur einen sanften Druck, der auch vorhanden war. Die Menschen mussten jedoch nicht in großen Massen getötet werden.
Trotzdem gab es einen relativ großen Anteil der Bevölkerung, der am christlichen Glauben festhielt. Wir müssen uns vor Augen halten, dass Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Anatolien sowie in den größten Städten der heutigen Türkei etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung Christen waren. Vergleicht man das mit heute, sind es hochgeschätzt nur noch 0,2 Prozent.
Nun stellt sich die Frage, wo diese zwanzig Prozent geblieben sind. Der Großteil wurde gezwungen, zum Islam zu konvertieren, oder sie wurden vertrieben bzw. getötet. Diese Menschen sind nicht freiwillig ausgewandert oder weggegangen. Gerade das ist das Trauerspiel, das seinen Höhepunkt zwischen 1915 und 1917 im Völkermord, dem Genozid an den damals in der Türkei lebenden Christen, fand.
Die Christen, um die es damals ging, waren natürlich keine evangelischen, reformierten oder freikirchlichen Christen. Diese Konfessionen gab es in der Türkei nicht. Das Gebiet gehörte zur Ostkirche, also ursprünglich zur orthodoxen Kirche. Die Region, die sich dort ausgebreitet hatte, war vor allem von orthodoxen Christen geprägt. Die Christen, um die es hier geht, waren aber nicht einmal die orthodoxen Griechen oder Russen, sondern altorientalische Christen.
Wer das nicht einordnen kann, braucht sich nicht zu sorgen. Ich erwähne es nur: Neben der katholischen und orthodoxen Kirche gab es die altorientalische Kirche, die sich besonders im Osten ausgebreitet hatte. Eine dieser Gruppen sind die Armenier. Hier war der christliche Glaube zu einer Art Volksglauben geworden, einer eigenen Ausprägung mit eigener Liturgie, Dogmatik und Kirchengeschichte.
Fragt man heute Armenier, von denen viele in Deutschland leben, so sind sie stolz darauf und sagen, sie seien die älteste Kirche der Welt. Es gibt auch andere, die das für sich beanspruchen. Letztendlich spielt das keine große Rolle, aber die Armenier betonen diesen Anspruch.
Damals gab es in der Türkei und gibt es bis heute auch die sogenannten Assyrer. Auch sie nehmen für sich in Anspruch, von den Assyrern des Alten Orients abzustammen und sich bekehrt zu haben. Sie behaupten ebenfalls, eine uralte Kirche zu sein. Häufig werden die Begriffe Assyrer und Chaldea wechselseitig benutzt. Die Chaldea ist eine eigene Gruppe von Christen, die ebenfalls existierte und vertrieben sowie angegriffen wurde.
Daneben gab es die syrisch-orthodoxe Kirche. Diese ist nicht die klassische orthodoxe Kirche, wie sie aus Russland oder Griechenland bekannt ist, sondern eine der altorientalischen Kirchen. Es gab also verschiedene Gruppen von Christen, die dort lebten.
Häufig lebten sie in eigenen Dörfern. Ein Dorf war islamisch, das andere armenisch oder assyrisch. Es gab ganze Landesteile, die vorwiegend von Christen besiedelt waren.
Erste Pogrome und Übergriffe gab es bereits im Jahr 1843. Kurdische Stammesführer in Anatolien lösten ein Pogrom gegen Christen aus, bei dem etwa zehntausend Armenier ermordet wurden. Dieses Pogrom von 1843 war das erste seiner Art.
Der Grund lag darin, dass es zwei Minderheitengruppen im damaligen Osmanischen Reich gab, die miteinander konkurrierten: Die Kurden und die Christen. Beide waren Minderheiten. Die Kurden wollten nicht die Opferlämmer sein, obwohl sie selbst eine Minderheit sind und bis heute in der Türkei größtenteils unterdrückt werden. Deshalb schlugen sie gegen die Christen als Minderheit ein, um sich vor dem osmanischen Staat zu profilieren.
Ein weiteres großes Pogrom fand zwischen 1894 und 1899 statt. Dieses anti-armenische Pogrom forderte je nach Schätzung bis zu dreihunderttausend Menschenleben. Das Massaker richtete sich gegen die armenische Bevölkerung. Zusätzlich wurden etwa fünfundzwanzigtausend Assyrer ermordet.
Auch hier gab es starke Auseinandersetzungen, denn die Christen wurden als Schuldige am Niedergang des Osmanischen Reiches angesehen. Es brauchte nur noch einen kleinen äußeren Zündfunken, damit das Fass explodierte.
Panislamismus und weitere Pogrome
Eine weitere Welle entstand dann zehn Jahre später, im Jahr 1909. In der Türkei entstand damals eine panislamistische Bewegung. Diese Bewegung war zu jener Zeit relativ verbreitet und fand sich auch in Ägypten, im Sudan und vielen anderen Ländern. Das Ziel war, ähnlich wie heute beim sogenannten IS, einen islamischen Staat zu schaffen, der den gesamten Nahen Osten umfassen sollte – eine panislamistische Bewegung.
Christen störten dabei, weil sie nicht in einen rein religiös bestimmten neuen Staat passten, der geschaffen werden sollte. In Silizien, einem Ort, der bereits im Neuen Testament erwähnt wird, wurden 30 armenische Christen ermordet. Im Anschluss an diese Pogrome starben etwa 20 weitere Menschen, da das gesamte Essen und die Felder verbrannt wurden. Durch Hunger, Not und Seuchen kamen so insgesamt rund 50 armenische Christen im Jahr 1909 ums Leben.
Im Vorfeld dessen, was im Mittelpunkt dieser Darstellung steht – der Verfolgung und Tötung, also dem Genozid an armenischen Christen während des Ersten Weltkriegs – begann die Vorgeschichte eigentlich bereits im Zweiten Balkankrieg 1913. In diesem Krieg verloren die Osmanen weite Gebiete des heutigen Bulgariens. Diese Niederlage wurde als nationale Katastrophe betrachtet.
Da Bulgarien überwiegend orthodox und teilweise katholisch geprägt war, wurden die Christen im eigenen Land als Feinde und als fünfte Kolonne angesehen. Man rächte sich an ihnen, um sie zu vertreiben. Es wird geschätzt, dass damals etwa 300 Christen aus der Türkei vertrieben und zum Teil auch getötet wurden.
Der Höhepunkt dieser Verfolgungswelle, jedoch nicht ihr Ende, lag dann mitten im Ersten Weltkrieg, in den Jahren 1915 bis 1917.
Der Völkermord an den Armeniern
Man rechnet damit, dass die Schätzungen unterschiedlich sind. Einige türkische Historiker – dabei handelt es sich nicht um offiziell vom Staat ernannte Experten, sondern um unabhängige Wissenschaftler – gehen davon aus, dass die Mindesttodeszahl bei dieser Verfolgung bei etwa 800.000 liegt. Andere, die höhere Zahlen ansetzen, sprechen von ungefähr 1,5 Millionen Menschen, die in diesen zweieinhalb Jahren getötet wurden.
In jedem Fall handelt es sich hier um eine Massentötung. Der Streit darüber, ob man dies als Genozid betrachten kann – also als die Tötungsabsicht einer gesamten Volksgruppe – dauert bis heute an. Die Absicht war relativ eindeutig vorhanden, darauf werde ich im weiteren Verlauf noch näher eingehen.
Das war jedoch nicht das Ende. Im Jahr 1922 wurden ebenfalls etwa 1,2 Millionen griechisch-orthodoxe Christen aus dem Land vertrieben. Viele von ihnen starben bei den Vertreibungen, es waren mehrere Zehntausend. Die Überlebenden wurden nach Griechenland abgeschoben.
In den 1940er Jahren gab es dann noch einmal eine ethnische Säuberung. Verantwortlich dafür war insbesondere Kemal Atatürk, der bis heute als Staatsgründer und geradezu als heiliger Vater der modernen Türkei angesehen wird.
Übrigens muss ich an dieser Stelle bereits erwähnen, dass Kemal Atatürk, der nicht für einen religiösen Islam steht, sondern eher für einen säkularisierten Staat, von Anfang an zumindest mitbeteiligt war an diesen Programmen – und zwar schon in den Jahren 1915 bis 1917. Warum? Er gehörte damals zur Führungselite der Jungtürken, also zu jener Reformbewegung, die später als Gründungsväter der modernen Türkei bekannt wurde.
Nationalismus und religiöse Verfolgung
Allerdings müssen wir hier unterscheiden: Die Gründe, warum Jemma gegen Armenier vorgegangen ist, sind zwiespältig. Zum einen wurden sie aus religiösen Gründen verfolgt, weil sie Christen waren. Zum anderen wurden sie aus ethnischen Gründen verfolgt, weil sie keine Türken waren.
Wir müssen bedenken, dass Kemal Atatürk und auch die Jungtürken nicht in erster Linie Muslime waren. Sie waren zwar Muslime und verstehen sich bis heute als solche, doch in erster Linie waren sie türkische Nationalisten. Das bedeutet, ähnlich wie die Nationalsozialisten in Deutschland oder andere europäische Staaten zu dieser Zeit, trat der Nationalismus als Ersatzreligion auf. Diese Entwicklung begann nicht erst 1933, sondern der Nationalismus begann seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu blühen.
Ein erster Höhepunkt war die Französische Revolution. Plötzlich definierte man sich nicht mehr nach religiöser Zugehörigkeit oder Stand, sondern nach nationaler Zugehörigkeit. Die Französische Revolution war ein wichtiger Wendepunkt in dieser Entwicklung.
Dann entstand der deutsche Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Kampf gegen Napoleon. Dabei entstand auch die Idee eines deutschen Staates. Die verschiedenen deutschen Staaten hatten eigentlich wenig gemeinsam, denn sie hatten jeweils ihre eigene Geschichte und Kultur. Doch im Kampf gegen einen äußeren Feind entstand der Nationalismus als verbindendes Element.
Es gab die deutsche Revolution von 1848, und später nutzte Bismarck den Nationalismus als einigendes Band für die Gründung des Deutschen Reiches. Nationalismus war also schon damals präsent. Dieser Nationalismus fand sich auch in kirchlichen Kreisen, wo Deutschsein mit Christsein verbunden wurde. Das war keine Erfindung der Nationalsozialisten.
Diesen Nationalismus gab es damals auch in der Schweiz und in Italien. Italien entstand erst 1870 unter Victor Emanuel als Nationalstaat, indem verschiedene Provinzen, Fürstentümer und Herzogtümer verbunden wurden. Die Nationalidee trat im 19. Jahrhundert an die Stelle der Zuordnung über Stand oder Religion. Früher war wichtig, ob man Adliger, Handwerker oder Kirchenvertreter war oder ob man katholisch oder evangelisch war. Nun war entscheidend, zu welcher Nation man gehörte.
Dieser Nationalismus, den ich hier deutlich machen will, ist ein Virus, der ganz Europa erfasste und eben auch die Türkei. Die Türkei wollte sich erneuern, denn man sah, dass das alte osmanische Reich zerfiel. Nur ein kleiner Rest davon war noch übrig. Nun suchte man eine Erneuerung des osmanischen Staates – und zwar im Türkentum.
Man sagte: Du musst ein richtiger Türke sein. Türkisch ist die einzig richtige Sprache, Türkisch ist die richtige Kultur. Alle, die in der Türkei leben, müssen richtige Türken sein. Nun ärgerte man sich über all die Volksgruppen, die nicht bereit waren, Türken zu sein. Das waren zum Beispiel die Armenier, die Armenisch sprachen, oder die Kurden, die Kurdisch sprachen, oder Gruppen mit einer anderen Religion oder Kultur.
Religiöse und ethnische Säuberungen
Zumindest müssen wir vor Augen haben, dass diese Pogrome gegen die Armenier und Assyrer zum Teil nicht nur religiöse Hintergründe haben, sondern auch politische, nationalistische und ethnische Säuberungen sind. Das macht sie in keinem Fall besser.
Vielleicht ist es deshalb nicht besser, erlaubter oder sonst etwas, aber auf jeden Fall spielt dieser Aspekt in der Auseinandersetzung eine wichtige Rolle.
Das Drama beginnt, als sich die Türkei den Mittelmächten anschließt. Das heißt, im Ersten Weltkrieg ist die Türkei mit Deutschland verbündet. Diese Verbündeten kämpfen gegen Frankreich und unter anderem gegen Russland. Das ist wichtig, weil die Türkei und Russland eine gemeinsame Grenze haben. Durch die Verbündung mit dem Deutschen Reich sind die Türken nun auch im Krieg mit Russland.
Die Armenier, die ich bereits erwähnt habe, wurden im 19. Jahrhundert durch mehrere Pogrome unterdrückt. Sie sehnen sich nach einem eigenen Staat. Einige armenische Aktivisten verbinden sich mit den Russen, stellen kleine Truppen auf und unterstützen die Russen im Kampf gegen die Türken. Diese Gruppe ist relativ klein – nur ein paar Tausend von rund zwei Millionen Armeniern. Für die türkischen Nationalisten, die ab 1909 die Macht im Staat ergriffen haben, darunter auch der Jungtürke Kemal Atatürk, ist das ein Anlass, gegen die Armenier vorzugehen.
Dieser äußere Grund wird mehr als Vorwand benutzt als als echte Begründung. Bis dahin waren die Armenier Mitglieder der türkischen Armee und kämpften für den türkischen Staat ohne Probleme – ähnlich wie in manchen anderen Ländern bis heute. Zum Beispiel gibt es in der israelischen Armee die Drusen, die mitkämpfen, obwohl sie keine Juden sind. Ebenso kämpfen christliche Juden mit. Religion spielte im Osmanischen Reich in der Armee eigentlich keine Rolle, weshalb viele führende Soldaten Armenier waren.
Doch eine kleine Widerstandsgruppe wandte sich gegen den Staat. Daraufhin wurden alle armenischen Soldaten aus der Armee ausgeschlossen. Sie wurden entwaffnet, in Arbeitsbataillone eingeteilt und sollten nur noch körperliche Arbeit verrichten. Das war wichtig, denn man plante, die Armenier generell ermorden zu lassen. Wenn Armenier weiterhin in der Armee gewesen wären, die sie später umbringen sollten, wäre das nicht möglich gewesen.
Hier verfolgte man eine ähnliche Strategie wie bei den Christenverfolgungen der frühen Kirche, wo Christen aus der Armee entfernt wurden, um später mit der Armee gegen sie vorzugehen. So geschah es auch hier: Die Armenier wurden aus der Armee ausgeschlossen.
Man erwartete nun, dass Christen eine doppelt so hohe Steuerlast tragen sollten. Stellen wir uns vor, in Deutschland gelten für die Mehrheit zwanzig Prozent Steuern, für die Christen sollten es vierzig Prozent sein. Das war eine Provokation, mit der man hoffte, den Krieg besser finanzieren zu können.
Das führte genau zu dem, was man erwartete: Einige, besonders junge Armenier, ließen sich das nicht gefallen. Sie sagten zu ihren Vätern, dass das so nicht gehen könne. Sie griffen zu den Waffen, überfielen einige Rathäuser – und genau das nutzte man als Anlass, um gegen die Armenier vorzugehen.
Bis heute wird das in der Türkei so dargestellt, als hätte man sich nur selbst schützen müssen – den Staat vor den Armeniern, die vor allem im eigenen Land lebten. Man behauptet, man habe sie nur umsiedeln wollen. Dieses Argument ist von Beginn an falsch.
Wir wissen, dass während der sogenannten Umsiedlung die Armenier in die syrische Wüste gebracht werden sollten – ein ungeeigneter Ort, um Millionen Menschen unterzubringen. Bis heute wohnen dort kaum Menschen, weil das Leben dort wirtschaftlich sehr schwierig ist.
Die Gouverneure, also die türkischen Gouverneure der Region, fragten, ob sie Flüchtlingsunterkünfte bauen sollten, da bald Hunderttausende von Flüchtlingen erwartet wurden. Die Zentralregierung wies sie an, keine Flüchtlingsunterkünfte zu errichten. Auf die Frage nach Lebensmitteln erhielt man die Antwort, dass keine Lebensmittel benötigt würden.
Die systematische Vernichtung der Armenier
Woher wissen wir das? In der Nachkriegszeit, nach dem Ersten Weltkrieg, war die Türkei gezwungen, sich den Westmächten zu stellen. Es gab Prozesse gegen die führenden Generäle, die diese Maßnahmen durchgeführt hatten. In diesen Prozessen haben sie alles zu Protokoll gegeben und ihre Taten zugegeben.
Schließlich wurden sie nicht verurteilt, weil sie durch Kemal Atatürk, den Gründer der modernen Türkei, eine Amnestie erhielten. Das bedeutet, dass sie zunächst zugegeben haben, was geschehen war. Sie erklärten, dass das Ziel darin bestand, zu verhindern, dass die armenische Bevölkerung überhaupt ankam.
Man begann damit, die führenden Armeeführer festzunehmen, ins Gefängnis zu bringen und zu foltern. Danach wandte man sich der breiten Bevölkerung zu. Die Menschen wurden enteignet. Häufig wurde der Mob eingesetzt, insbesondere in Anatolien wurden die Kurden dazu missbraucht.
Die Kurden waren eine kleinere Bevölkerungsgruppe, die gegen die Christen ausgespielt wurde. Viele Pogrome wurden von den Kurden verübt. Sie wurden angestachelt und dazu benutzt. Man sagte ihnen, dass die Christen ihnen das Land wegnehmen wollten und dass sie ihre Feinde seien – eine typische Propagandamethode.
Die Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben und ihnen wurde gesagt, sie würden umgesiedelt, oft tausend Kilometer entfernt. Sie sollten sich auf den Weg machen. Wie wir es später aus Bildern von Pogromen gegen Juden kennen, wurden sie in Viehwaggons gesteckt.
Es war ihnen verboten, Hab und Gut mitzunehmen. Auch Lebensmittel durften sie nicht mitnehmen. Wenn es wirklich eine Umsiedlung gewesen wäre, hätte das keinen Sinn ergeben. Von Anfang an war das Ziel, diese Menschen zu ermorden.
Die führenden Generäle haben in den späteren Prozessen bestätigt, dass das Ziel die Ausrottung der armenischen Bevölkerungsgruppe war. Und das gelang auch relativ gut.
Wir sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass viele Türken, insbesondere muslimische Türken, sich gegen diese Programme ausgesprochen haben. Selbst manche islamische, türkische Gouverneure sagten: „Das könnt ihr doch nicht machen, das sind doch unsere Bürger.“
Jahrhundertelang lebten Muslime und Christen dort verhältnismäßig friedlich nebeneinander, wenn auch mit unterschiedlicher politischer Gewichtung. Plötzlich ordneten die Jungtürken an, dass diese Familien, die man seit Jahrhunderten kannte, und diese Dörfer, die ausschließlich christlich waren, dem Erdboden gleichgemacht werden sollten.
Die Menschen wurden enteignet, es gab Berichte über Tötungen und Vergewaltigungen. Diese Handlungen waren auch nach türkischer und islamischer Auffassung falsch. Es war nicht richtig, Menschen aus dem eigenen Land zu enteignen, zu töten, zu ermorden, zu vergewaltigen oder zu versklaven, ohne dass sie straffähig gewesen wären.
Dennoch wurde die Ideologie missbraucht, um gegen Menschen vorzugehen. Es gibt verschiedene Fälle, in denen muslimische Türken sich für den Schutz armenischer Christen eingesetzt haben. Doch sie konnten sich nie durchsetzen.
Die Armenier wurden entweder ermordet oder die Beschützer selbst gefangen genommen und eingesperrt. Hier sehen wir, dass der große Teil der Bevölkerung zustimmte. Die meisten wollten nichts verlieren und setzten sich nicht dagegen ein.
Ein kleinerer Teil der islamischen Bevölkerung wandte sich zwar gegen diese Verfolgungen, konnte sie aber nicht aufhalten.
Die Rolle Deutschlands und das internationale Schweigen
Übrigens haben auch die deutschen Vertreter damals kein Ruhmesblatt hinterlassen. Zahlreiche Vertreter des deutschen Militärs, der deutschen Wirtschaft und der deutschen Politik waren in der Türkei präsent und haben mitbekommen, was dort geschah. Sie führten Gespräche mit führenden türkischen Vertretern. Der deutsche Botschafter telegrafierte daraufhin nach Berlin: Ja, eigentlich handele es sich um eine Menschenrechtsverletzung. Doch im Interesse der gegenseitigen Bündnisse gegen die Mächte unternehmen wir nichts. Das war die Empfehlung.
Es wird berichtet, wie der deutsche Botschafter und verschiedene deutsche Konsule schildern, dass auf den Flüssen Tausende von Leichen schwimmen. In den Dörfern sieht man rechts und links neben der Straße die Toten. Sie schreiben nach Berlin, dass dies das Schlimmste sei, was sie je gesehen hätten. Trotzdem unternimmt der deutsche Staat nichts, weil man meint, auf die Türken als Bündnispartner angewiesen zu sein und diese nicht kritisieren will.
Die Jungtürken setzten damals offen darauf und sagten, dass nach dem Ende des Ersten Weltkriegs diese Morde schnell vergessen sein würden. Sie würden untergehen in den Grausamkeiten des Krieges. Dann habe man Tatsachen geschaffen und einen rein türkischen Staat etabliert, so Vertreter der Türkei selbst. Damit hatten sie Erfolg.
In den 1920er-Jahren kümmert es kaum noch jemanden. Es gibt nur einige ärgerliche Störenfriede wie den deutschen Pfarrer Lipsius, der ausführlich durch Deutschland reist, berichtet und Bilder von den Programmen gegen die Armenier zeigt. Doch man will ihn nicht hören, versucht ihn mundtot zu machen. Wirkliches Interesse gibt es nicht.
Die Alliierten setzen einen Prozess durch, in dem einige wenige verurteilt werden. Doch alle müssen nie ins Gefängnis, weil sie Amnestie erhalten.
Interessant ist, dass dieser Mord an den Armeniern weltgeschichtliche Auswirkungen hat. Adolf Hitler bezieht sich genau darauf. In persönlichen Gesprächen, die uns durch seinen Sekretär Bohrmann und andere überliefert sind, sagt er: „Genauso wie die Türken es gemacht haben, so werden wir es auch in Deutschland machen. Nach zehn Jahren wird sich kein Mensch mehr daran erinnern.“
Genau das ist es, was man bei den Armeniern erlebt hat. Die Armenier wurden damals zum allergrößten Teil umgebracht. Nur wenige blieben im Land. Die meisten flohen in andere Länder des Nahen Ostens. Eine sehr große Gruppe wanderte als Flüchtlinge in die USA aus, wo sie heute eigene Gemeinden bilden. Von dort aus streben sie an, die Anerkennung des Völkermordes vor internationalen Vereinigungen durchzusetzen.
Die Türkei weigert sich bis heute, diese Anerkennung anzuerkennen. Geschichtlich hat das jedoch Auswirkungen: Die Türkei wurde dadurch zu einem türkischen, islamischen Staat. Die meisten Christen wurden damals getötet oder verfolgt. Die wenigen Reste, die heute noch existieren, sind minimal und immer noch verfolgt. Die meisten Christen sind damals umgekommen oder geflohen.
Heute leben Hunderttausende in anderen Ländern der Welt. Viele wurden zum Islam konvertiert. Das bedeutet, dass Hunderttausende heutige Türken gar nicht wissen, dass ihre Urgroßeltern einst Christen waren. Sie wurden gezwungen, Muslime zu werden oder von islamischen Familien adoptiert.
Damals ist also viel Unrecht geschehen.
Internationale Anerkennung und Erinnerungskultur
Auch in Europa hat man lange Zeit geschwiegen, nachdem die Prozesse keinen wirklichen Erfolg gebracht hatten. Die ersten europäischen Staaten, die den Mord an den Armeniern eindeutig als Völkermord bezeichneten, waren, soweit mir bekannt ist, Frankreich im Jahr 2001. Das ist noch gar nicht so lange her. Diese Anerkennung führte dazu, dass der französische Botschafter aus der Türkei ausgewiesen wurde.
In Deutschland war es die CDU/CSU-Fraktion, die das Thema 2006 erstmals diskutierte. Sie verabschiedete eine Entschließung, in der der Mord an den Armeniern als Völkermord deklariert wurde. Auch einige andere europäische Staaten folgten diesem Beispiel. Jedes Mal reagierte die türkische Regierung mit einer Protestnote. Es folgten kleine Nadelstiche, in denen erklärt wurde, dass dies nicht akzeptabel sei und vollkommen verboten.
Bis heute ist in türkischen Lehrbüchern nichts über diese Geschichte zu lesen. Dort, wo überhaupt etwas erwähnt wird, wird der Mord als eine Notreaktion dargestellt – als eine Notwehr des türkischen Staates gegen die Armenier, die angeblich das Land bedroht hätten. Man behauptet, es habe sich um eine unvermeidbare Maßnahme gehandelt. Die Opferzahlen werden künstlich niedrig gehalten.
Obwohl auch diese Darstellung nicht stimmt, wird mitunter behauptet, die Armenier hätten viele Türken getötet. Es gibt jedoch keine neutralen Quellen, die solche Behauptungen bestätigen. Die türkische Seite versucht, das Ganze zu rechtfertigen.
Wie schwach diese Rechtfertigungen sind, zeigt sich schon daran, dass es in der Türkei Gesetze gibt, die es verbieten, öffentlich über den Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Das Thema ist dort nicht einmal erlaubt.
Erinnerung und aktuelle Situation der Armenier
Jetzt, im Mai dieses Jahres, war ich in Israel, unter anderem in Jerusalem. Dort gibt es ein armenisches Viertel. Ich habe sogar ein großes Plakat mitgenommen, das ich eigentlich im Auto lassen wollte, aber dann doch dabei hatte. Ich habe mit einigen Armeniern gesprochen, die in diesem Jahr besonders an die Ereignisse erinnern. Viele der Armenier, die heute in Israel leben, sind durch die Pogrome geflohen, die es damals gab, und haben sich in Israel niedergelassen.
Es gab dort zwar schon vorher eine armenische Minderheit, aber viele von ihnen kamen erst im 19. und 20. Jahrhundert dorthin. Für sie ist das Geschehene bis heute nachhaltig in Erinnerung, da es ihre Großväter direkt betroffen hat.
Wir haben an der Bibelschule Brake in den letzten Jahren einige Schüler gehabt, die aus Syrien, dem Irak und der Türkei stammen. Sie gehören genau zu diesen verfolgten Minderheiten. Viele von ihnen waren traditionell christlich, einige sind jedoch erst durch diese Erfahrungen zum Glauben an Jesus Christus gekommen. Einige haben bei uns eine Ausbildung gemacht.
Was sie erzählen, auch durch Verwandte, die sie noch in den betroffenen Regionen haben, ist natürlich sehr schlimm. Über mehrere Jahrzehnte hinweg wurde seit den Pogromen langsam wieder Vertrauen aufgebaut. Doch jetzt wird dieses Vertrauen wieder zerstört. Angehörige der eigenen Familie werden vergewaltigt, enteignet, getötet und vertrieben – es wird alles noch einmal durchlebt.
Dass viele dieser Christen gegenüber dem Islam oder dieser Religion vollkommen verbittert sind, ist meiner Meinung nach verständlich. In Deutschland sprechen wir auf einer ganz anderen Ebene darüber. Keiner von uns hat erlebt, dass die eigenen Häuser überfallen oder abgebrannt wurden, dass man geschlagen und gedemütigt wurde, dass Kinder vergewaltigt, Ehefrauen umgebracht oder Ehemänner vor den Augen der Kinder erschossen wurden.
Wer das wirklich erlebt hat, wird anders darüber sprechen und kann nicht mehr neutral auf Dialogebene miteinander reden. Das ist, glaube ich, nicht möglich. Besonders, wenn man bedenkt, dass solche Erlebnisse in den letzten 150 Jahren immer wieder im Abstand von ein oder zwei Generationen passiert sind. Das macht die Situation sehr schwer.
Das sollte man diesen Menschen auch zugestehen. Oft, wenn ich mit ihnen spreche, gerade mit denen, die zum Glauben gekommen sind, wird das deutlich.
Vor zwei Wochen war ich in einer armenischen Gemeinde. Dort musste ich mich sogar für die Muslime einsetzen. Es ist eine seltsame Situation, wenn ich als Christ dort stehe und spüre, wie viel Hass bei den bekehrten jungen Armeniern vorhanden ist. Sie sagen: „Das haben die uns angetan.“ Da musste ich ein wenig werben und sagen: „Hey, das sind auch Menschen, die Jesus liebt.“
Auf der anderen Seite kenne ich Muslime, die sich bekehrt haben. Was soll ich tun? Plötzlich sind sie in derselben Gemeinde oder besuchen dieselbe Bibelschule wie wir. Da ist der eine, der armenische Vorfahren hat und weiß, was die Muslime Böses getan haben. Der andere stammt muslimisch und hat von klein auf immer gehört, wie böse die Feinde der Türken sind.
Und plötzlich sitzen sie gemeinsam an einer Schulbank. Das ist gar nicht so einfach. Denn die Gründe dafür sind nicht nur intellektuelle Auseinandersetzungen oder akademische Diskurse. Es sind ganz persönliche Geschichten, die in der Familie weitergetragen werden und eine reale Grundlage haben.
Enteignung und Folgen für Überlebende
Übrigens gab es nicht nur die Menschenopfer. Man hat hinterher zusammengerechnet, wie viel man beispielsweise den Armeniern enteignet hat. Dabei kam man zu dem Ergebnis, dass es der doppelte Staatshaushalt war, den damals die ganze Türkei hatte. Das war alles, was man enteignet hatte.
Hier kam nicht nur noch hinzu, dass Menschen getötet und geschändet wurden, sondern auch das gesamte Eigentum wurde eingezogen. Plötzlich war man reicher Kaufmann, und plötzlich war man als Flüchtling und Bettler in einem anderen Land und hatte nichts mehr.
Die Glücklichen, die überlebt haben, hatten alles verloren. Die, die tot waren, hatten sowieso alles verloren. Das waren also auch noch Folgen davon.
Christenverfolgungen im 20. Jahrhundert und ideologische Ursachen
Nun, wenn wir uns das zwanzigste Jahrhundert anschauen – und ich möchte den Blick dabei etwas weiten –, dann müssen wir vor Augen haben, dass der Pogrom an den christlichen Armeniern leider nicht die einzige Christenverfolgung war, die wir in diesem Jahrhundert erlebt haben.
Wenn ich Richard Dawkins, den bekannten Atheisten, und sein Buch „Der Gotteswahn“ lese, weiß ich manchmal nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll – so viel Einfalt steckt darin. Ich weiß nicht, ob Sie das Buch auch gelesen haben. Es ist durchaus unterhaltsam, aber manchmal möchte man sich die Haare raufen, wenn ein weltbekannter Professor solche Dinge schreibt. Man muss ihm allerdings zugestehen, dass er fachfremd schreibt. Er ist Biologieprofessor, kein Professor für Religionswissenschaft oder Theologie.
Unter anderem behauptet er, dass, wenn man die Religion abschafft, es keinen Grund mehr geben würde, warum Menschen Krieg führen. Das ist erstaunlich! Gerade das zwanzigste Jahrhundert zeigt doch genau das Gegenteil. Die größten Christenverfolgungen, die größten Kriege und Menschenrechtsverletzungen in diesem Jahrhundert waren nicht religiös motiviert.
Wenn wir heute über das Mittelalter sprechen und uns darüber aufregen, müssen wir sagen, dass die Grausamkeiten des Mittelalters – wie Inquisition und Hexenverfolgung – mit den Grausamkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts nicht vergleichbar sind. Dabei wird oft vergessen, dass die Hexenverfolgung nicht mehr zum Mittelalter gehörte. Sie erreichte ihre Blütezeit im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, also längst in der Neuzeit. Das nur als Randbemerkung, um zu zeigen, dass Atheisten uns manchmal Dinge unterschieben, die gar nicht zum Mittelalter gehören.
Generell müssen wir sagen: Trotz all der Grausamkeiten im Mittelalter können sie sich nicht mit den Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts messen. Und diese waren in erster Linie nicht religiös, sondern ideologisch – geprägt von materialistischen Weltanschauungen.
Denken wir an die Millionen Menschen, die durch atheistische Ideologien des Sozialismus umgebracht wurden. Wenn Sie das nachlesen wollen, empfehle ich das „Schwarzbuch des Sozialismus“. Beim Lesen wird einem das Grauen bewusst. Allein Stalin hat durch Hungersnöte, Pogrome und Massentötungen etwa sechzig Millionen Menschen auf dem Gewissen. Das ist unvorstellbar.
Man sollte die Opferzahlen nie direkt vergleichen – das ist auch korrekt. Aber wussten Sie, dass in dreihundert Jahren Hexenverfolgung etwa fünfundvierzigtausend Menschen getötet wurden? Stalin hingegen brauchte nur dreißig Jahre, um sechzig Millionen Menschen zu töten.
Ähnlich verhielt es sich mit Mao Zedong in China. Pol Pot in Kambodscha tötete ebenfalls Millionen. Wenn Sie heute nach Kambodscha reisen, besuchen Sie die „Killing Fields“. Dort gibt es Schilder, die sagen: Pol Pot war schlimmer als Hitler. Das darf ein Deutscher eigentlich nicht sagen, weil wir den Anspruch haben, die schlimmsten Verbrecher zu sein. Doch die Kambodschaner haben Recht. Wenn man sich die Bilder und Berichte anschaut, muss man sagen: Die Brutalität war noch viel schlimmer als bei Hitler.
Innerhalb weniger Jahre massakrierte Pol Pot ein Viertel seiner eigenen Bevölkerung auf grausamste Weise. Die Menschen wurden zum Teil mit Spaten erschlagen, um Gewehrkugeln zu sparen. Solch eine Grausamkeit und Brutalität geschah im Namen des Atheismus und Sozialismus.
Dabei wird deutlich: Der Nationalsozialismus hatte mit christlichem Glauben nichts zu tun. Es handelte sich um eine weltliche, irdische Ideologie des Nationalismus, die Millionen Menschen das Leben kostete. Und das geht nicht nur darauf...
Aktuelle Christenverfolgung und gesellschaftliche Stimmung
Wir erleben bis heute eine starke Verfolgung, insbesondere auch von Menschen mit christlichem Hintergrund.
Im letzten Herbst hat die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung innerhalb Europas, eine Studie veröffentlicht. Darin wurde festgestellt, dass es in den letzten Jahren eine drastische Zunahme von gewalttätigen Übergriffen gegen Christen und christliche Institutionen gibt. Das sollte uns zum Nachdenken bringen.
Warum ist das so? Weil es heute in Mode ist, wie man sagt, auf Christen einzuschlagen. Wenn Sie Filme sehen, etwa einen Tatort oder Ähnliches, und dort eine religiöse Person vorkommt, können Sie fast sicher sein, wer der Täter ist. Meistens ist es der Pfarrer. Er ist fast immer schuld, weil er religiös spricht oder predigt.
Manchmal ist das schon langweilig bei modernen Krimis. Man könnte fast meinen, die Hälfte aller Täter seien religiöse Psychopathen. Entweder sind sie zu religiös, Heuchler oder glauben, Eingebungen vom Heiligen Geist zu erhalten, die sie dazu bringen, andere zu töten. Heute ist es also eher angesagt, auf Christen einzuschlagen. Je religiöser jemand auftritt, desto schlimmer wird er dargestellt.
Manchmal muss man da wirklich staunen. So brachte der Spiegel im letzten Dezember, kurz vor Weihnachten, eine Sondernummer heraus. Darin stand: „Umso religiöser, umso wissenschaftsfeindlicher.“ Das ist typisch für den Spiegel. Was haben sie gemacht? Sie haben eine Umfrage aus den USA ausgewertet. Dort sagten die meisten gläubigen Menschen, dass Gott die Welt geschaffen hat.
Das ist ja nun nicht überraschend. Das Ergebnis hätte ich Ihnen auch ohne Studie sagen können. Das Geld für die Studie hätte man sich sparen können. Trotzdem behaupteten sie, das sei ein Zeichen von Wissenschaftsfeindlichkeit.
Man könnte zum Beispiel einen evangelikalen Professor für Jura oder Physik interviewen. Wenn er sagt, Gott habe die Welt geschaffen, sei er wissenschaftsfeindlich. Dass er promoviert und habilitiert ist, spielt keine Rolle. Er gilt als wissenschaftsfeindlich, weil er an die Schöpfung glaubt – so steht es im Spiegel.
Das ist keine neutrale Berichterstattung, sondern ganz offensichtlich Stimmungsmache gegen christliche Positionen. Genau da sind wir heute. Wir erleben zwar noch keine offene Christenverfolgung, aber es werden Grundlagen geschaffen für Hass gegen Christen.
Christen werden als die Schuldigen dargestellt, die die Gesellschaft zerstören. Sie seien diejenigen, die diskriminieren. Heute ist der Begriff „Mission“ fast ein Schimpfwort geworden. Wenn jemand sagt, er missioniere oder sei Missionar, wird das von manchen fast so verurteilt wie eine schlimme Straftat.
Deshalb beobachten wir, dass selbst evangelikale Vereinigungen aus vorauseilendem Gehorsam kaum noch von Mission sprechen. Missionswerke bezeichnen ihre Arbeit heute oft als sozialdiakonische Tätigkeit. Das ist an sich nicht schlecht, aber ich glaube, es braucht mehr.
Denn ich bin fest überzeugt, dass Menschen nicht nur soziale Hilfe brauchen, sondern auch Frieden mit Gott. Und dafür braucht es Mission.
Herausforderungen im christlichen Dienst heute
Ich erinnere mich, ich sage jetzt nicht, wo und wann genau, aber es war für mich interessant. Ich hatte eine Exkursion organisiert, und unter anderem hatten wir dort mit einer ganzen Gruppe, darunter auch christliche Akademiker, ein christliches Hospiz besucht. Es war ein evangelikal geführtes Hospiz.
Der Leiter dieses Hospizes hat uns etwa eine Dreiviertelstunde lang durch das Hospiz geführt. Er war ganz begeistert, und das war auch wirklich beeindruckend. Das Hospiz war ganz neu gebaut und prächtig eingerichtet. Allein fünf Minuten sprach er über die neue Badewanne, die, so glaube ich, 15.000 Euro gekostet hat. In die Wände waren Lautsprecher eingebaut, sodass die Badewanne vibrierte. Außerdem gab es eine Lasershow darin. Das Ganze sollte den Menschen, die kurz vor dem Sterben stehen, ermöglichen, noch einmal all das zu erleben.
Mir hätte es fast Spaß gemacht, dort mal ein bisschen Urlaub zu machen. Aber dennoch... Ich finde es gut, dass man sich so viel Mühe gibt. Während der gesamten Führung von einer Dreiviertelstunde kam jedoch kein einziges Mal der Glaube zur Sprache.
Am Ende musste ich den Leiter dann doch fragen: „Und wie ist das denn mit dem Glauben?“ Seine Antwort war ganz entrüstet: „Wir missionieren hier nicht.“
Nun, das heißt, hier gibt es ein evangelikales Hospiz, das durch Spendengelder finanziert wird. Es sind Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. Und ich lege Wert darauf, dass sie in einer Superbadewanne liegen und das beste Essen bekommen – aber ihre Seele, die in wenigen Tagen bei Gott oder sonstwo sein wird, die kümmert mich nicht. Das fand ich erschreckend.
Warum? Weil es heute offenbar nicht mehr in Mode ist, sich um die Seele zu kümmern. Das scheint eher verboten zu sein. Meine Frau hat vor kurzer Zeit eine Seelsorgeschulung für Krankenhausseelsorge in Lippe gemacht. Eine der ersten Dinge, die ihr schon in der ersten Stunde vermittelt wurden, war: „Das, was wir machen, ist nur dialogische Seelsorge.“
Was heißt das? Falls Sie es nicht kennen, klingt es ja zunächst gut. „Wir reflektieren, wir spiegeln den Kranken.“ Das bedeutet: Wenn jemand sagt, „Mir geht es ganz schlecht“, dann antwortet man: „Ach, das ist ja schlimm, dass es Ihnen so schlecht geht.“ Das ist Spiegeln.
Es wurde gesagt, dass man als Seelsorger auf keinen Fall dem Kranken einen Ratschlag geben darf. Zitat: „Ratschläge sind auch Schläge.“ Deshalb schlagen wir die Leute nicht, sondern reflektieren nur, was sie denken.
Ich habe das an eigener Haut erlebt. Ich war mit Krebs ein dreiviertel Jahr im Krankenhaus. Dann hatte ich den Krankenhausfahrer zu Besuch, und er setzte sich zu mir ans Bett. Ich dachte, er würde mich trösten, aber das tat er gar nicht. Während des Gesprächs hatte ich eher den Eindruck, ich musste ihn trösten.
Das fand ich erschreckend. Warum? Weil man Menschen heute nicht mehr zu nahe treten darf. Man darf ihnen nicht sagen, was falsch oder richtig ist, sonst ist man ganz schnell in der Kritik. Hier erkennen wir einen Trend, der sehr stark in der Gesellschaft vorhanden ist.
Verfolgung von Christen weltweit
Noch viel schlimmer ist die Situation für viele unserer Glaubensgeschwister heute in Ländern, in denen sie wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Wir wissen alle, und dafür brauche ich gar nicht viel zu sagen, dass dies in vielen islamischen Ländern der Fall ist.
Allen voran bekommen wir das fast täglich in den Ländern Syriens, also in Syrien, im Irak, zwischenzeitlich auch schon im Libanon und in einigen anderen Ländern mit. Zum Beispiel im Jemen, dort, wo diese IS-Truppen einen islamischen Staat aufrichten wollen, der derart brutal und rücksichtslos gegen Menschen vorgeht, dass er nicht nur Christen umbringt, sondern auch Muslime, die ihm zu liberal sind.
Wir dürfen nicht vergessen, dass sich diese Gewalt nicht nur gegen Christen richtet. Hier sind radikale Muslime am Werk, die jeden töten, der anders denkt – egal, ob er christlich oder muslimisch ist. Viele unserer Glaubensgeschwister leiden schwer unter dieser Situation.
Das ist jedoch nicht das einzige Beispiel. In Ländern wie Birma oder Thailand werden Christen von Buddhisten verfolgt. Auch in Indien, wo ich im letzten Jahr war, werden viele Christen mehr oder weniger intensiv von hinduistischen Extremisten verfolgt.
Ein Beispiel: Als ich dort war, erfuhr ich, dass in einer Gemeinde, zu der ich eingeladen war, gerade eine Woche zuvor ein Pastor ermordet worden war. Wie kam es dazu? Der Pastor war auf die Straße gegangen und hatte mit Menschen über den Glauben gesprochen. Unter anderem kam er zu dem Haus eines vornehmen Hindus, eines Geschäftsmannes, der ihn abwies und sagte, er wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Ein paar Tage später starb die Frau dieses Mannes. Er war fest davon überzeugt, dass der Pastor seine Frau mit einem Fluch belegt hatte. Deshalb ging er zu dem Pastor, ermordete ihn und rechtfertigte die Tat damit, dass der Pastor einen Fluch auf seine Frau gelegt habe. Dieser Mann wurde nicht verurteilt, weil er mit dem Polizeipräsidenten befreundet war.
Das ist, wie gesagt, erst letztes Jahr in Indien geschehen. Und das ist nur ein Beispiel. Während meiner Zeit dort habe ich verschiedene andere Fälle erlebt.
Eine junge Frau erzählte mir, dass sie in der Öffentlichkeit in Indien die Bibel las, was dort erlaubt ist. Doch bei einer Rutschstation ließ sie ihre Bibel liegen – wie sie mir sagte, aus Versehen. Hindu-Extremisten bemerkten das und sie musste mehrere Tage im Gefängnis verbringen. Man warf ihr vor, Hindus von ihrem Glauben abbringen zu wollen, weil sie absichtlich provokativ ihre Bibel dort liegen gelassen habe.
Man muss sagen, auch das ist keine Religionsfreiheit.
Immer mehr Christen in Indien ziehen deshalb in die südlichen Regionen, zum Beispiel nach Bangalore und ähnliche Orte. Dort gibt es mehr Christen, und man kann dort freier und öffentlich leben. Tatsächlich ist das Leben dort relativ frei.
Doch in den Dörfern und besonders in einigen Regionen, in denen kaum Christen leben, haben sie es sehr schwer. Sie werden dort bedrängt und eingeengt.
Wir erleben heute weltweit eine Situation, in der Millionen von Christen unter Verfolgung, Diskriminierung und Einschränkung ihrer Glaubensfreiheit leiden. Das ist etwas, das uns auf mehreren Ebenen herausfordern sollte.
Aufruf zum Gebet und Engagement
Punkt eins
Lassen Sie uns für diese Christen beten. Das sind unsere Geschwister, sie brauchen Stärkung und Ermutigung. Manchmal hilft es ihnen, so wie ich es jetzt in Indien erlebt habe, mit den Geschwistern zu sprechen und zu beten. Plötzlich bekommen sie Mut, weil sie merken: Ihr habt uns nicht vergessen, ihr steht hinter uns. Wir identifizieren uns mit ihnen und können dann manchmal auch etwas bewirken.
Es gibt immer wieder Aktionen von Open Doors oder anderen Organisationen, die sich exemplarisch um einzelne verfolgte Christen kümmern. Aber Gebet ist hier sehr wichtig. Wir wissen, dass Gott Situationen grundsätzlich verändern kann. Da, wo wir das nicht können, kann Gott es tun. Das ist, glaube ich, eine wichtige Sache.
Die andere Sache ist, dass wir Gott dankbar sind für die Freiheit, die wir in Deutschland haben. Diese Freiheit ist da. Aber ich würde auch sagen: Nutzen wir sie! Leider erlebe ich immer mehr Christengemeinden – sowohl in der evangelischen Kirche als auch im evangelikal-freikirchlichen Bereich –, in denen Christen den Mund halten aus Angst, sie könnten in der Gesellschaft schlecht dastehen.
Ich glaube, wenn wir diese Strategie weiterverfolgen, wird es eher so sein, dass diejenigen, die atheistisch und säkular die Gesellschaft immer stärker prägen, irgendwann verbieten, überhaupt noch irgendetwas über den Glauben sagen zu dürfen. Unsere Herausforderung ist es, auch wenn es unbequem ist und Menschen das nicht hören wollen, offen von Jesus Christus zu sprechen. Wir sollten das Positive weitertragen, das wir durch den Glauben haben, das ideologiekritisch ist. Wir merken: Genau das braucht die Gesellschaft. Sie braucht nicht nur Leute, die Ja-Sager werden und sagen: Jetzt sind wir auch noch dafür.
Was ich in den letzten Jahrzehnten immer wieder beobachte, finde ich traurig: Es gibt einen gesellschaftlichen Trend, und 15 oder 20 Jahre später sagen alle evangelikalen Christen genau dasselbe. Dann ist es also auch bei ihnen angekommen. Dann könnte man sagen: Dann lassen wir doch gleich alles bejahen, was die Gesellschaft sagt.
Ich erlebe immer mehr Leute, die plötzlich in der Bibel entdecken: Das steht ja auch schon alles drin. Gerade in Auseinandersetzungen um die Anerkennung und Gleichstellung von Homosexualität mit Heterosexualität in evangelikalen Kreisen bin ich erstaunt, wenn plötzlich Theologen, gläubige Evangelikale, erkennen: „Ach, das steht doch auch schon in der Bibel drin.“ Ja, wirklich!
Manchmal kann man sich die Haare raufen. Dann sagen sie: „Hier steht etwas ganz anderes in der Bibel.“ Die Antwort lautet: „Ja, diese Art der Homosexualität, die in der Bibel steht, ist heute gar nicht gemeint. Heute haben wir die freie, liebevolle, treue Homosexualität, und da steht eben nichts davon drin.“
Oder andere Themen: Sie dürfen heute nicht mehr sagen, dass Strafen positiv sind. Einige ihrer Kinder sind in der Ausbildung für Sozialpädagogen oder Ähnliches. Dort gilt: Strafen sind absolut schlecht. Das ist „schwarze Pädagogik“ und ganz schlimm.
Ich habe einige unserer ehemaligen Absolventinnen von der Bibelschule Brake getroffen, die gerade Pädagogik studieren. Sie erzählten mir: „Ja, genau, so schlimm ist schwarze Pädagogik.“ Ich habe ihr dann einfach die Frage gestellt und gesagt: „Das ist ja wirklich verkannt hier, das hat Gott wohl noch nicht begriffen.“ Das ist ja ganz offensichtlich.
Gott straft sein Volk – schwarze Pädagogik, ganz schlimm. Gott straft Ananias und Saphira – ganz schlimm. Gott straft Miriam – ganz schlimm. Also hat Gott das scheinbar noch nicht verstanden, dass Strafen wirklich so schlimm sind.
Das gilt nicht nur für die Sexualpädagogik, sondern auch in anderen Bereichen. Das Biblische darf heute nicht mehr sein. Sie dürfen sagen: „Ich bin Christ“, aber nicht mehr sagen: „Jesus ist der einzige Weg zu Gott.“ Das ist absolut tabu und verboten. Das gilt in immer mehr Bereichen.
Neulich erzählte mir jemand, der in einem Missionswerk arbeitet, von einer neuen Entdeckung: Man muss Muslime gar nicht mehr überzeugen, dass sie Christen werden. Man muss Muslime nur noch fragen, ob sie an Jesus glauben. Wenn sie sagen: „Ja, ich glaube an Jesus“, dann ist es ein Bruder, der auch gerettet ist.
Da würde ich sagen: Ja, so bin ich auch gern Missionar in islamischen Ländern. Ich arbeite seit vielen Jahren mit Muslimen und rede offen mit ihnen. Wir diskutieren heiß miteinander. Aber fast jeder Muslim, den ich kenne, der sagt, dass er an Jesus glaubt, meint damit, dass Jesus ein islamischer Prophet ist.
Natürlich glaubt er an Jesus, aber er glaubt nicht daran, dass Jesus Gottes Sohn ist. Er glaubt nicht daran, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist. Doch das ist der entscheidende Faktor, der mich zum Christen und die anderen zum Muslim macht.
Hier braucht es Gespräche. Hier können wir uns nicht voreilig in die Arme fallen und sagen: „Du bist ja auch ein Bruder, weil du an Jesus glaubst.“
Religiöse Vielfalt und Herausforderungen im Dialog
Bei uns in Horn-Bad Meinberg, wo ich wohne, gibt es die größte deutsche Yogaklinik, Yoga Vidya. Diese Menschen glauben auch an Jesus. Ich habe gerade vor kurzem das Programm durchgeblättert, und dort gibt es einen Vortrag mit dem Titel „Jesus war ein Yogi“.
Ja, Jesus hat auch Yoga praktiziert. Die Menschen dort lieben Jesus ebenfalls und glauben an ihn. Ich war in Indien, und viele Hindus sind begeistert von Jesus, weil sie ihn als spirituellen Meister ansehen, als einen hinduistischen Meister.
Es gibt sogar die Vorstellung, dass Jesus nach Indien ausgewandert ist, so sagen es einige. Deshalb fühlen wir uns auch mit den Hindus verbunden – alle lieben Jesus.
Wir brauchen also keine Mission mehr. Das war natürlich Ironie, ich hoffe, Sie haben das verstanden. Wir brauchen diese Herausforderung, aber sie ist unangenehm. Wir merken, dass wir diese Reibung aushalten müssen.
Umgang mit Muslimen in Deutschland
Jetzt komme ich zu einem Thema, das mich vielleicht nicht ganz im Einklang mit allen anderen hier stellt. Angesichts der vielen Verfolgungen weltweit, besonders in islamischen Ländern, stellt sich momentan die Frage: Was machen wir mit Muslimen in Deutschland?
In den letzten Monaten habe ich mit einigen Christen darüber diskutiert, darunter auch mit glühenden Pegida-Anhängern. Falls jemand zu dieser Gruppe gehört, ist das in Ordnung – jeder muss vor Gott Selbstverantwortung tragen. Ich halte jedoch diesen Weg nicht für sinnvoll. Denn alles, was ich von Pegida gelesen habe, zum Beispiel auf deren Facebookseite, zeigte, dass etwa jedes dritte Foto eine Deutschlandfahne war. Von Jesus war dort kaum die Rede. Das finde ich problematisch.
Ich würde sagen: Jetzt sind diese Menschen hier. Sehen Sie das doch als Führung Gottes. Diese Menschen hätten Sie in ihren Heimatländern nie erreicht. Im Irak oder in Syrien ist Missionieren strengstens verboten. Hier aber sind sie, und Sie können ihnen offen das Evangelium verkündigen. Das ist die Herausforderung.
Unsere Aufgabe ist nicht, dafür zu sorgen, dass wir sie möglichst alle wieder loswerden. Die Menschen, die jetzt nach Deutschland kommen, sind nicht unsere Entscheidung. Wir können nur reagieren. Dabei spüre ich bei manchen Christen einen regelrechten Islamhass oder eine Islamangst. Manchmal wird Muslimen sogar etwas unterstellt, was sie nie vertreten haben.
Ich selbst bin kein Muslim, aber ich möchte meinen Gesprächspartner ernst nehmen und ihm nichts unterstellen, was er nie gesagt hat oder was nicht stimmt. Egal, wie ich zum Islam stehe: Diese Menschen sind jetzt hier. Und was ist der Auftrag von Jesus Christus? Ihnen das Evangelium zu bezeugen – und zwar so, dass viele von ihnen zu Jesus Christus finden.
Genau das passiert ja auch. Ich kenne zahlreiche Muslime, die in Deutschland zum Glauben gekommen sind. In ihren Heimatländern haben sie nie etwas vom Evangelium gehört. Ist das nicht eine Perspektive, die wir haben sollten?
Vor kurzem habe ich in einer Gemeinde in Bielefeld eine Schulung gehalten, um die Gemeinde zu motivieren und ihnen zu zeigen, wie sie Muslime in Bielefeld für Jesus Christus erreichen können. Meine Frau ist ebenfalls engagiert. Unsere Gemeinde in Detmold bietet zusammen mit einigen anderen Gemeinden kostenlosen Deutschunterricht an. Dieser wird sehr fleißig besucht.
Nach jedem Deutschunterricht gibt es eine Andacht, Kaffee und intensive Gespräche über den Glauben. Das ist doch großartig! Viele dieser Muslime haben wir schon zu Hause eingeladen. Ich erinnere mich an einen Mann aus Zentralafrika, der sagte: "Ich bin zwar Muslim, aber ich bin durch viele islamische Länder Afrikas gereist, und man hat mich dort wie Dreck behandelt. Hier in Deutschland nehmt ihr mich so auf, obwohl ich mit euch gar nichts zu tun habe."
Dieser Mann ist bis heute Muslim, aber er merkt den großen Unterschied zwischen der Behandlung durch seine Glaubensgenossen in Afrika und der hier in Deutschland. Einige der Menschen, mit denen er in Kontakt kam, werden vielleicht zu Unrecht als Christen bezeichnet, weil viele keine Christen sind. Aber er merkt: Hier läuft es ganz anders.
Ich glaube, das ist unsere Herausforderung. Wir haben keine Garantie, dass sich alle bekehren. Aber wir haben die Aufgabe, das Evangelium auszustreuen, darüber zu sprechen und dafür zu beten, dass Gott Herzen erreicht.
Was ich auch erlebt habe: Muslime, die zum Glauben an Jesus Christus kommen, sind oft viel glühendere Anhänger des christlichen Glaubens als manche wohlgesitteten, durchtemperierten Deutschen. Sie sind nicht nur im Mittelfeld, sondern begeistert für Jesus. Es macht ihnen nichts aus, wenn sie in der Fußgängerzone verlacht werden, weil sie spüren, wie viel Jesus ihnen bedeutet und was sie erfahren haben.
Dafür sollten wir kämpfen, ringen und beten, dass Gott Großes tut und wir Großes von ihm erwarten. Noch haben wir eine Chance.
Bei Leuten, die nur an die Wand malen und sagen, bald sei alles islamisch, würde ich sagen: Selbst wenn das so wäre, was ist das Beste, was du tun kannst? Missionieren! Denn wenn bald alles islamisch ist, hoffen wir doch, dass viele Muslime vorher noch Christen werden. Das ist unsere Perspektive.
Ich habe einen Christen, einen guten Bekannten, deutlich gefragt: "Was willst du denn?" Am Ende kam heraus: "Wir müssen sie alle rausschmeißen." Ja, bitte sehr – wie soll das denn in einem demokratischen Staat funktionieren?
Ich habe ihm auch gesagt: Wenn wir heute allen Muslimen den Glauben verbieten, werden die Atheisten morgen uns Christen den Glauben verbieten. Das passiert ja heute schon.
Letzte Woche war ich bei der SMD in Würzburg eingeladen. Dort sagte man mir, dass immer mehr SMD-Gruppen Probleme haben, weil die Universitätsverwaltung angesichts islamischer Studentengruppen sagt: "Nein, ihr dürft keine Veranstaltungen mehr machen wegen der Muslime." Manchmal stimmt das, aber oft auch nicht. Vielmehr benutzen Atheisten das als Argument, um jeglichen religiösen Einfluss zu verhindern.
Darauf sollten wir uns nicht einlassen.
Wenn wir in Deutschland schauen, ist die größere Herausforderung momentan noch der Säkularismus und Atheismus. Muslime sind statistisch gesehen etwa vier bis 4,5 Millionen. Aber wie viele Atheisten und Säkularisten gibt es in Deutschland? Selbst unter Kirchenmitgliedern ist die Zahl viel größer.
Wer regiert in Deutschland? Die Muslime? Nein. Die meisten Politiker sind Säkularisten oder Atheisten. Manche Parteien mehr, andere weniger. Ich nenne hier keine Parteien, aber das ist klar.
Diese Leute schreiben uns vor, dass Christsein am Rande zu sein hat. Sie haben Verantwortung in den Medien und sagen, christliche Einflüsse wollen wir nicht.
Mit diesen Leuten müssen wir uns auseinandersetzen.
Manchmal haben sogar Muslime ähnliche Interessen wie wir. Das klingt vielleicht seltsam, aber in dem kleinen Dorf, in dem ich lebe – wirklich ein kleines Bauerndorf – leben auch zwei islamische Familien, mit denen wir guten Kontakt haben.
Vor einiger Zeit kam ein islamischer Vater zu uns herüber, so wie man sich im Dorf über den Zaun unterhält. Er sagte: "Herr Kotsch, wir sind doch die einzigen Vernünftigen hier im Dorf." Das fand ich nett. Er sieht mich also als vernünftig an.
Worauf kam es am Ende heraus? Er sagte: "Sie und ich, wir denken, dass Familie und Treue wichtig sind. Wir sind immer noch bei dem Ehepartner, den wir haben, und wir tun das Gute für unsere Kinder."
Warum? Selbst in diesem kleinen lippischen Bauerndorf haben die meisten Patchworkfamilien, gehen auseinander, streiten sich und verstehen sich nicht. Deshalb meint er, sie seien vernünftig im Dorf.
Ich habe ihn dann etwas gebremst und gesagt: "Ja, das stimmt schon, aber Sie wissen auch, dass wir unterschiedliche Auffassungen haben, was Jesus Christus angeht." Das haben wir auch schon intensiv besprochen. Er gab das zu.
Trotzdem meinte er, dass wir doch ein großes gemeinsames Interesse haben. Und das stimmt. In Fragen der Ethik, Familienethik und Sexualethik sind wir wahrscheinlich näher bei manchen islamischen Positionen als bei denen der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland.
Das sind manchmal ganz seltsame Verbindungen, die sich ergeben.
Ich bin nicht dafür, dass wir alle in einem Boot sitzen. Aber wir sollten genau hinschauen, wer unsere eigentlichen Gegner für den christlichen Glauben sind, wo wir Zeugnis ablegen müssen und wo wir deutlich unterscheiden sollten.
