Die Gefangennahme Jesu und das Versagen der Jünger
Ich lese aus der Leidensgeschichte Matthäus 26,47-56 die Gefangennahme Jesu.
Als Jesus noch redete, siehe, da kam Judas, einer der Zwölf, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und Stangen von den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes.
Der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: „Welchen ich küssen werde, der ist es; den ergreift ihn.“
Und alsbald trat er zu Jesus und sprach: „Gegrüßet seist du, Rabbi!“ und küsste ihn.
Jesus aber sprach zu ihm: „Mein Freund, warum bist du gekommen?“
Da traten sie hinzu, legten die Hände an Jesus und griffen ihn.
Und siehe, einer von denen, die mit Jesus waren, reckte die Hand aus, zog sein Schwert und schlug nach des Hohenpriesters Knecht und hieb ihm ein Ohr ab.
Da sprach Jesus zu ihm: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.
Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte, dass er mir alsbald mehr als zwölf Legionen Engel zuschicke?
Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, dass es so geschehen muss?“
Zu der Stunde sprach Jesus zu den Scharen: „Ihr seid ausgegangen wie zu einem Mörder mit Schwertern und Stangen, um mich zu fangen.
Ich habe doch täglich im Tempel gesessen und gelehrt, und ihr habt mich nicht gegriffen.
Aber das ist alles geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt würden.“
Da verließen ihn alle Jünger und flohen.
Die Enttäuschung über das Verlassenwerden und die Bedeutung von Jesaja 53
Liebe Brüder und Schwestern, ich habe heute Abend diesen Abschnitt ausgewählt und möchte mich darauf beschränken. Wir gewinnen viel mehr aus dieser Passionsgeschichte Jesu, wenn wir uns Zeit für die Einzelheiten nehmen.
Ich möchte an diesem letzten Wort stehenbleiben: wie die Jünger Jesus verlassen und fliehen. Diesen Abend möchten wir unter das Wort aus Jesaja 53 stellen, so wie ich es angekündigt habe.
Besonders der Satzteil, der an die gestrige Predigt anknüpft: "Wir haben ihn für nichts geachtet." Genau deshalb sind ja die Jünger geflohen.
Bei einer Lotterie kann man gereizt sein von dem großen Wert, der angegeben ist, was man gewinnen kann – zum Beispiel eine halbe Million. Dann kauft man ein Los, reißt die Tüte auf, nimmt den Zettel in die Hand und liest: Niete. Nichts war’s.
So geht es uns oft mit unserem Leben, mir jedenfalls. Man ist von großen Hoffnungen erfüllt. Die jungen Menschen unter uns spüren das noch so: Man ist wie bei einer Lotterie gereizt vom Wert, vom Potenzial des Lebens, was man Großes erreichen kann.
Dann reißt man eines Tages den Umschlag auf und merkt, das ist doch eine Niete. Noch viel peinlicher ist es, wenn einem das die anderen bescheinigen. Das hat doch jeder schon einmal hören müssen.
Zum Beispiel, wenn Eltern große Hoffnungen für ihre Kinder haben und denken, dass die Kinder es einmal besser haben sollen als sie selbst. Dann schickt man sie auf die höhere Schule oder an eine andere gute Schule, damit sie etwas Großes werden.
Und dann merkt man: Sie sind auch nicht so weit her. Sie sind auch nicht mehr als wir, und es fällt ihnen auch nicht leichter.
Oder man stellt einen Mitarbeiter ein und denkt, dann muss es leichter gehen. Heute erzählen mir viele Leute, dass das, was sie auf dem Arbeitsmarkt bekommen, lauter Nieten sind. Besser machen sie es allein, sie kriegen nichts Richtiges. Große Erwartungen, und am Ende kommt nichts heraus.
Man kann sich anstrengen und mühen. Und wissen Sie, das kann einem mit Jesus genauso gehen: Leute haben die größten Erwartungen, gehen fröhlich den Weg mit Jesus, binden ihr Leben an ihn, folgen ihm, vertrauen ihm – und eines Tages verlassen sie ihn und sagen: Es war nichts drin.
Das war eine Enttäuschung im Leben der Jünger, als sie ihn verließen und flohen.
Man kann das auch anders aus Jesaja 53 übersetzen: Sie rechneten nicht mit ihm. Die Feinde rechneten nicht mit Jesus, das kennen wir schon lange. Aber auch die Freunde Jesu kommen immer wieder an Punkte, an denen sie Jesus nicht mehr verstehen.
Jesus in der Schwäche, der Mann mit der Dornenkrone, der leidende Jesus – er ist ein Rätsel für uns. Woher kommt das?
Die menschliche Schwäche und das Streben nach Anerkennung
Wir haben alle diesen Drang, in unserem Leben etwas zu leisten oder etwas zu sein. Wissen Sie, warum das so ist? Weil wir alle spüren, dass in unserem Leben etwas nicht stimmt – dass wir im Grunde Nieten sind. Wir sind alle Nullen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir einen Schein haben. Etwas, das wir vorzeigen können, wie ein Abiturzeugnis, einen Doktortitel oder irgendeinen anderen Titel, um unser armes Leben aufzuwerten.
Wir füllen unser Leben mit vielen wichtigen Dingen. Wir brauchen doch irgendetwas. Wir können doch nicht einfach so durchs Leben gehen, mit unseren Misserfolgen und Enttäuschungen. Deshalb strampeln wir uns manchmal so ab. Deshalb sind wir auch so empfindlich und gereizt, wenn andere uns kritisieren. Wir ertragen nicht einmal die Wahrheit, weil wir es nicht ertragen können, weniger zu sein als andere, die gerade auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Das tut doch so weh, wenn man nichts ist.
Da bin ich froh, dass Jesus den Mut hatte, eine Niete zu sein. In der Nacht der Passion war er der Schwächste aller Schwachen, der Ärmste aller Armen, der Verachtetste der Verachteten. Er trug mehr Unehre als irgendjemand sonst auf der Welt, mehr Schmach als irgendein anderer Mensch. Warum tat er das? Warum machte er das?
Lassen Sie mich das noch einmal von einer anderen Seite erklären. Ich treffe immer wieder Menschen, die fragen: „Was hat Jesus eigentlich geleistet?“ Heute gibt es viele junge Leute, die sagen: „Was bringt Jesus eigentlich? Was hat er Weltveränderndes geschaffen? Was hat er für die Kunst getan? Hat Jesus ein großes Bild gemalt? Hat er eine Symphonie komponiert? Was hat Jesus für die Erziehung, für die Wissenschaft getan? Was hat er für die Völkerverständigung bewirkt? Was hat Jesus in der Politik erreicht?“
Dann verstehe ich, dass Menschen sagen: „Schau mal an, was bringt denn euer Jesus für die Welt?“ Er hat etwas viel Größeres gebracht: Er hat uns Menschen gezeigt, was wir sind.
In dieser Nacht und am nächsten Tag stehen die Menschen ihm gegenüber, sogar sein treuer Freund, der sein Schwert zieht und sagt: „Jesus, ich kann doch noch etwas tun, ich kann wenigstens noch zuschlagen.“ Und Jesus, mit seiner Kraft, ist im Grunde der Schwächste.
Da steht ihm Pilatus gegenüber, der Berufsdiplomat mit großer Karriere, und vor Jesus ist er doch der Ärmste. Da sind die Soldaten am Kreuz, die frommen Pharisäer, die gescheiten Professoren und alle, die in diesen Tagen in Jerusalem sind. Und Jesus hat den Mut, eine Niete zu sein.
„Wir haben ihn für nichts geachtet“, heißt es in Jesaja 53 über Jesus. Warum spielen wir in unserem Leben immer dieses Täuschungsmanöver durch? Habt doch den Mut, euch eurer Ohnmacht und eurem Unvermögen zu stellen! Jesus macht uns Mut.
Es ist nicht wahr, dass man im Leben weiterkommt, wenn man etwas erreicht hat. Das ist gar nicht wahr. Jesus macht es uns vor: Eins muss man erreichen – das Erbarmen Gottes. Man muss versöhnt sein mit Gott. Man muss angenommen sein vom Vater als sein Kind.
Dann kann man als sterbender, verwesender Leichnam im Grab liegen – Gott wird einen zum Leben erwecken. Man kann jemand sein, von dem alle Menschen weichen. Wenn Gott uns nicht loslässt, wenn man gehalten ist von Jesus, dann ist man der reichste Mensch unter allen Menschen.
In deinem Leben kommt es nur auf eine Sache an, vor allen anderen Dingen. Es kommt nicht darauf an, ob du die Schulen durchläufst, alle Prüfungen bestehst, von den Menschen akzeptiert wirst oder deine Pläne verwirklichen kannst. Es ist schön, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, aber darauf kommt es nicht an.
Es ist nicht einmal die Hauptsache, ob man gesund ist oder ob sich alles erfüllt, was man braucht. Das ist nicht wahr. Jesus lebt es in dieser Nacht durch: Eins ist wichtig – Vater, ich kann mein Leben in deine Hände legen.
Ich bin so froh, dass uns Jesus das Größte am Kreuz vorgelebt hat. Es gibt eine Gewissheit: Ist Gott für uns, dann kann nichts mehr gegen uns sein. Und wenn ich der ärmste und verachtetste Mensch auf der Welt bin, bin ich so froh, dass ich in diesen Passionstagen vor Jesus meine Schwäche offen darlegen darf und sie erkenne.
Er hat menschliche Schwäche durchlitten, er hat menschliche Schwäche getragen. Er erkennt sogar meinen Versagen gegenüber Versuchungen. Da, wo er sogar noch Widerstand geleistet hat, weiß er das.
In dem Lied von Woltersdorf, das wir gesungen haben, war das so klar: Ohne Jesus sind wir schwache Leute. Wir sind Leute, die nichts bringen und nichts machen können. Das hat er uns in dieser Passionsnacht gezeigt.
In seiner verdrehten Welt laufen Menschen von Jesus weg und sagen: „Was können sie Jesus bringen?“ Sie merken nicht, dass er dem Menschen das Höchste bringen kann, den Adel, der über einem Menschenleben liegt – dass ich ein Ebenbild Gottes sein darf.
Dass er sich nicht schämt, meinen Bruder zu nennen. Dass ich ihm so wertvoll bin, dass er mich erlösen will, dass er sein Leben für mich hingibt.
Dass ich ihm so kostbar bin, dass er mir seine Ewigkeit öffnet, dass mich nichts von ihm trennen kann, dass seine Liebe nicht aufhört, die mir gilt. Dass alles über meinem Leben steht – Größeres kann ich nicht mehr sagen.
Er wird meinen nichtigen Leib erwecken, dass er ähnlich werde seinem verklärten Leib. Jesus hat das Nietenleben unseres Lebens ans Licht gebracht. Und er will aus unserem Leben Großes machen, wenn wir uns in seine Hand geben.
Amen.
Jesus als Hoffnung und Quelle der wahren Größe
Seine verdrehte Welt – in dieser Welt laufen Menschen von Jesus weg und fragen: Was können sie Jesus bringen?
Sie merken nicht, dass er dem Menschen das Höchste bringen kann. Das ist der Adel, der über einem Menschenleben steht: dass ich ein Ebenbild Gottes sein darf, dass er sich nicht schämt, meinen Bruder zu heißen, dass ich ihm so wert bin, dass er mich erlösen will, dass er sein Leben für mich gibt.
Er zeigt mir, dass ich ihm so kostbar bin, dass er mir seine Ewigkeit öffnet, dass mich nichts von ihm trennen kann, dass seine Liebe, die mir gilt, nicht aufhören kann. All das steht über meinem Leben. Größeres kann ich nicht sagen.
Er wird meinen nichtigen Leib erwecken, damit ich ähnlich werde seinem verherrlichten Leib. Jesus hat das nichtige Leben unseres Lebens ans Licht gebracht.
Und er will aus unserem Leben Großes machen, wenn wir uns in seine Hand geben. Amen.