Reformationstage sind in unserer Gegenwart zugegebenermaßen etwas wehmütige Veranstaltungen geworden. Die Erinnerung an die Reformation vor 500 Jahren wird heute überlagert von dem dramatischen und rapiden Niedergang des Protestantismus, der vor 500 Jahren seinen Geburtstag gefeiert und erlebt hat.
Wir erleben nicht nur den Niedergang des Protestantismus, sondern im Grunde auch den Niedergang unseres christlichen Abendlandes. Davon sind alle Volkskirchen betroffen. Im 21. Jahrhundert geht eine 1500 Jahre lange Geschichte des christlichen Abendlandes zu Ende. Diese Kultur hat den Kontinent geprägt und ihm sowie unserem Land sein Gesicht gegeben.
Reformationstage sind zuweilen wehmütige Veranstaltungen geworden. Dennoch sind sie notwendiger denn je. Dabei geht es nicht nur darum, nostalgisch eine Erinnerungskultur zu pflegen. Vielmehr können wir in der Erinnerung an die Reformation die Spuren erkennen, die dazu geführt haben, dass vor 500 Jahren das spätmittelalterliche Europa grundlegend erneuert wurde. Es wurde im Grunde wieder auf die Beine gestellt.
Hier hat sich eine Veränderung vollzogen, deren Ursprünge wir verstehen müssen. Nicht, um sie zu kopieren, sondern um zu begreifen, vor welchen Herausforderungen wir heute stehen. Was damals geschehen ist, was gedacht, gepredigt und geschrieben wurde, hat uns 500 Jahre lang geprägt und geformt.
Wenn etwas über eine so lange Zeit Bestand hat, ist das ein Zeichen dafür, dass eine große Kraft und eine große Wahrheit in dieser historischen Stunde, in dieser Reformation, begründet liegt. Deshalb lohnt es sich, genau hinzuschauen. Die These...
Die These, der ich heute Abend mit Ihnen nachgehen möchte, lautet, dass es immer wieder Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen alter, biblischer Worte waren, die zu neuem Leben, neuer Freude und neuer Leidenschaft geführt haben.
Das war bereits in der Reformation so, und wir werden im Verlauf unserer heutigen Reise noch einige weitere Stationen betrachten, an denen dies ebenfalls der Fall war.
Neues Leben beginnt aus dem Hören, Lesen und Verstehen alter Worte – alter, sehr alter Worte.
Diese These möchte ich anhand einer Reise entfalten, deren Ausgangspunkt ein kleines Dorf elf Kilometer südwestlich von Jerusalem ist. Im weiteren Verlauf des Abends werden wir weitere Stationen besuchen. So werden wir auf der Wartburg in Eisenach Halt machen, eine kleine Zwischenstation in Bonn-Bad Godesberg einlegen und schließlich einen vorläufigen Höhepunkt im globalen Süden unseres Planeten erreichen. Ein Ende wird es dabei nicht geben.
Wir beginnen bei jenem berühmten ersten Osterspaziergang: von Jerusalem nach Emmaus. Dies haben wir gerade im Predigttext gehört – Emmaus oder brennende Herzen aus einer geöffneten Schrift.
Diese Geschichte, die wir gerade schon gehört haben, endet mit den bekannten Worten: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?“ Sie standen auf, kehrten zur selben Stunde zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt, die bei ihnen waren. Diese sprachen: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden!“ Und Simon, gemeint ist Petrus, ist ihnen erschienen.
Am Anfang dieses Weges gehen zwei enttäuschte, frustrierte Männer, überwältigt von Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Am Abend desselben Tages rennen dieselben beiden Männer die elf Kilometer von Emmaus nach Jerusalem zurück – völlig angstfrei, mitten in der Nacht denselben Weg.
Die Stimmung könnte nicht gegensätzlicher sein. Die Frage ist: Was hat die Bewegung dieser beiden Männer ausgelöst? Diese Bewegung hat in den folgenden dreihundert Jahren die antike Welt verändert, sodass am Ende des dritten Jahrhunderts zehn Prozent der Menschen im 60 Millionen Menschen umfassenden römischen Reich Christen geworden sind.
Was war das? Was war der Anfangspunkt, der Ausgangspunkt? Was an diesem Abend geschah, geht auf eine Erfahrung mit mehreren Dimensionen zurück.
Die erste Dimension ist die Begegnung mit dem Auferstandenen. Als der Fremde mit ihnen am Tisch das Brot brach, indem er dankte, es brach und es ihnen gab, da machte es Klick. Da gingen ihnen auf einmal die Augen auf, und sie begriffen: Er ist es! Er ist es – er, der Gekreuzigte, der Tote, der Begrabene und der Auferstandene.
Er, der offensichtlich die Macht des Todes besiegt hat, der mächtiger ist als alle Mächte dieser Welt, sogar mächtiger als die Todesmacht. Er, der damit alles, wirklich alles verändert. Er, der damit auch mein Leben verändert und verändern kann – ein Leben, das von so vielen Grenzen, von so vielen Spannungen, von so viel Schuld und Sünde, von so viel Schmerz und auch von so vielen Ängsten oft geprägt ist.
Es ist die Begegnung mit dem Auferstandenen, die alles verändert. Und das ist mir wichtig. Wir brauchen selbst immer wieder diese Begegnung mit dem Auferstandenen.
Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, Menschen von Jesus und seiner Wahrheit zu überzeugen. Vielmehr besteht unsere Aufgabe heute mehr denn je darin, Menschen zu dieser Begegnung einzuladen.
Diese Begegnung können wir nicht herstellen oder organisieren. Aber wir können darum beten und dazu einladen, dass Menschen sich einladen lassen und dass diese Begegnung von Gott her stattfindet.
Es war nicht nur die Begegnung an diesem Abend, sondern die Begegnung vor dem Hintergrund einer wichtigen theologischen Entdeckung. Ihre Herzen brannten übrigens bereits vor diesem Abendessen. Sie brannten nicht erst, als sie merkten, wer da mit ihnen am Tisch saß. Ihre Herzen brannten schon am Nachmittag, mitten auf der elf Kilometer langen Wanderung von Jerusalem nach Emmaus.
Das ist wichtig: Ohne die biblischen und theologischen Erkenntnisse auf dem Weg wäre an diesem Abend nicht das passiert, was tatsächlich geschah. Dieser Weg ist nicht nur ein Weg mit dem unerkannten Jesus, sondern auch ein Weg mit einer unverstandenen Schrift und letztlich ein Weg mit einem unverstandenen Gott.
Auf dem Weg kommt es zu einem Bibelgespräch, zu einem kleinen Theologiestudium und zu einem theologischen Paukenschlag. Da sagt dieser merkwürdige Mitwanderer einen Satz und stellt ihnen eine Frage: Musste nicht der Messias leiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Er begann bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.
Mit dieser einzigen Frage bringt dieser Wegbegleiter eine theologische Welt zum Einsturz und öffnet den beiden die Augen für eine völlig neue Wirklichkeit Gottes. Was die Jünger auf diesem Weg begreifen müssen, ist, dass Leid, Schmerz und Tod keine Zeichen für die Abwesenheit Gottes sind. Sie sind erst recht kein Zeichen für einen Fluch Gottes oder die Abwendung Gottes.
An diesem Nachmittag, auf diesem Weg, wird den beiden klar, dass Leiden nicht etwas ist, was Gott fremd ist, wo Gott irgendwie weit weg ist oder sich verzogen hätte. Vielmehr kommt Gott hindurch zu seinem Ziel. Das Leid ist ein Weg Gottes, nicht nur das abgewandte Angesicht Gottes.
Sie lernen, dass das Kreuz nicht das Scheitern ihrer Hoffnungen ist, sondern die Grundlage für ihre Hoffnungen. Sie lernen, dass Gott nicht mehr jenseits von Leid, Tränen und Tod erkannt werden will. Er ist nicht mehr irgendwo jenseits dieser Welt und ihrer Geschichte, etwa hinter Alpha Centauri, gegenwärtig. Vielmehr will er in Leid und Tod erkannt werden. Er ist im menschlichen Leid und Tod gegenwärtig und dort auch theologisch gedacht werden kann.
Dieses Kreuz war Gottes Kreuz. Durch das Kreuz geschieht Vergebung der Schuld, durch die Vergebung der Schuld geschieht ein neuer Anfang. Durch den Neuanfang kommt neue Hoffnung, und durch die neue Hoffnung kommt neues Leben in diese Welt.
Auf diesem Weg liegt die Erkenntnis, dass all die negativen Dinge unseres Lebens uns das Leben selbst nicht mehr nehmen können. Die schweren Dinge des Lebens können uns das Leben selbst nicht mehr stehlen. Im Letzten kann uns nichts mehr trennen von der Liebe Gottes.
Da mögen die Dinge in unserem Leben laufen, wie sie wollen: Es kann uns nichts mehr scheiden von der Liebe Gottes. Keine Krankheiten, keine Krisen, keine Konflikte, kein Unheil, keine Verfolgung und kein Tod.
Gott war in Christus und hat all diese Dinge selbst durchlitten. Das bricht auf einmal in diese Welt hinein mit dieser einen Frage: Musste nicht der Christus leiden? Rhetorisch: Ja, er musste es. Und das war neu, fundamental neu.
Deshalb ist das Zeugnis der verfolgten Christen immer so überwältigend: Menschen, denen man alles nimmt, aber die man nicht brechen kann, auch wenn man ihnen den Leib nimmt.
„Gut, Ehe, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben's kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.“ Dieses Lied hat ihn immer aus seinem Ausgangspunkt getragen.
Deshalb war das Zeugnis der ersten Christen so durchschlagend. Paulus schreibt, wir müssen durch viel Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen. Ja, das müssen wir, aber wir werden es auch. Musste nicht der Messias dies leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?
Wer das versteht, besonders an diesem Osterspaziergang und erst recht an diesem Abend, der versteht das Kreuz. Wer das Kreuz versteht, der versteht alles. Er kann auch sein Leben und seine Situation mit neuen Augen sehen.
Wer Jesus am Kreuz neu sehen lernt, der sieht das Geheimnis Gottes. Brandte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?
Es war dieses Öffnen der Schrift, das in der Begegnung mit dem Auferstandenen der vorher schon entfachten Freude Beine machte.
Und Lukas nimmt genau diesen Moment auf und entfaltet ihn in seinem Doppelwerk immer wieder. Es ist die neu verstandene Schrift, die zu einer Explosion der Freude und zu einem neuen Leben führt.
Ein paar Verse später steht der Auferstandene in der Mitte seiner verblüfften Jünger in Jerusalem. Dann sagt er ihnen: „Jetzt sind das meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen.“
Da öffnete er ihnen das Verständnis, sodass sie die Schrift verstanden. Er sprach zu ihnen: „So steht es stets geschrieben, dass der Christus leiden wird, auferstehen von den Toten am dritten Tag und dass in seinem Namen gepredigt wird: Umkehr zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern von Jerusalem an. Seid dafür Zeugen.“
Da wird etwas geöffnet, was vorher verschlossen war. Zusammenhänge werden hergestellt, die bisher niemand gesehen hat. Aus der Schrift heraus entsteht vor den Augen der Jünger eine neue Offenbarung Gottes. Sie begreifen, dass das, was mit diesem Jesus von Nazaret passiert ist, kein punktueller Unfall oder eine geistliche Tragödie war. Es ist Teil einer Geschichte.
Und ich bin Teil dieser Geschichte. Diese Geschichte fängt in der Ewigkeit an und wird in der Ewigkeit nicht enden – und ich auch nicht.
So erzählt es Lukas auch in der Pfingstpredigt des Petrus, wo Petrus in der Auslegung von Psalm 16 entdeckt, dass in diesem Psalm Christus spricht, dass hier Christus zu uns redet.
Ebenso lässt der Evangelist Philippus den Kämmerer aus Äthiopien, den leitenden Gottesknecht aus Jesaja 53, Jesus entdecken. Er fragt: „Wer ist es, von dem der Prophet hier redet?“ Und dann fängt er an, ihm Jesus zu verkündigen.
So war es auch im Haus des Cornelius, als Petrus erkennt, dass die Ausgießung des Heiligen Geistes über die Heiden längst in den Schriften Israels vorausgesagt war. Diese Verheißung erfüllt sich nun als ein Teil der Geschichte mitten in der Zeit.
Ebenso war es beim Apostelkonzil in Jerusalem, als Jakobus plötzlich erkennt, dass dadurch, dass Heiden zum Glauben kommen, obwohl sie nicht beschnitten sind, die Schrift sich erfüllt. Die zerfallene Hütte Davids wird aufgerichtet – auf eine Weise, die niemand erwartet oder für möglich gehalten hat. Und wir sind Teil dieser Geschichte.
Am Ende der Apostelgeschichte steht der Bericht über die letzte Predigt des Paulus vor der skeptischen jüdischen Gemeinde in Rom im Mittelpunkt. Dort heißt es: „Da erklärte und bezeugte er ihnen das Reich Gottes und predigte ihnen von Jesus aus dem Gesetz des Mose und aus den Propheten vom frühen Morgen bis zum Abend.“
Es ist also nicht nur die Begegnung mit dem Auferstandenen, sondern auch die Entdeckung des Auferstandenen in den Schriften Israels. Es ist die Entdeckung des Handelns Gottes in ihrer Mitte, die Freude entfaltet und zum Explodieren bringt.
Darauf kommt es an: Jesus entdecken wir in der Schrift. Er ist angekündigt, verheißen und erfüllt. Jesus entdecken wir als Teil einer Geschichte, in der wir alle mittendrin stehen. Das weckt Freude und Leben.
Wir machen einen Sprung in unserer Reise und reisen zur Wartburg – oder, wie ein Genitiv ins Paradies führt.
Im letzten Jahr haben wir das 500. Jubiläum von Luthers Septembertestament gefeiert. Dieses Testament ist die Übersetzung des Neuen Testaments, die er während seiner Schutzhaft auf der Wartburg in den Jahren 1521 und 1522 angefertigt hat. Es wurde im September 1522 gedruckt.
Das Septembertestament war eines der wichtigsten Bücher der deutschen Geschichte, vielleicht sogar das wichtigste. Es gab zwar schon vorher deutsche Bibelübersetzungen, doch keine andere fand eine solche Akzeptanz, Verbreitung und Wirkung wie Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, die mit diesem Septembertestament veröffentlicht wurde.
Eine besondere Frucht dieser Bibelübersetzung war vermutlich auch Luthers entscheidende Entdeckung im Hinblick auf eine Genitivkonstruktion, nämlich die Konstruktion „Gerechtigkeit Gottes“. Es ist ein historiographischer Glücksfall, also ein Glücksfall der Kirchengeschichtsschreibung, dass Luther kurz vor seinem Lebensende über diese Entdeckung autobiographisch reflektierte. In Luthers Vorrede zur Ausgabe seiner lateinischen Werke aus dem Jahr 1545 – er starb 1546 – spricht er von seinem Eifer beim Paulustudium und seinem Ringen mit den einschlägigen Texten, vor allem aber mit dem Begriff der „Gerechtigkeit Gottes“, der ihm den Zugang zu Paulus und seinem Denken versperrte.
Luther spricht im Blick auf seinen autobiographischen Prozess von einem Hass gegen dieses Wort, solange er es in der philosophischen Tradition der Antike aristotelisch verstand. Das heißt, er verstand „Gerechtigkeit Gottes“ nach Aristoteles im Sinne einer vorsichtigen lateinischen „justitia distributiva“. Was heißt das?
Er hat „Gerechtigkeit Gottes“ als einen Begriff verstanden, an dem Gott unsere Gerechtigkeit misst – wie eine Messlatte, die Gott an unser Leben anlegt. Gott prüft, wie gerecht wir sind, wie gerecht die Taten und Werke unseres Lebens sind. Nach dem Prinzip „vorsicht latein suum quicque“ – das stammt ebenfalls von Aristoteles – heißt das schlichtweg „jedem das Seine“ oder, frei nach den Gebrüdern Grimm, „die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“.
Oder wie ein Lehrer das Prinzip „suum quicque“ in der Schule anwendet: Wer eine gute Mathearbeit schreibt, bekommt eine Eins, wer eine schlechte schreibt, eine Fünf oder eine Sechs. Das ist zuteilende, distributive Gerechtigkeit. So hat er den Begriff „Gerechtigkeit Gottes“ verstanden: Gott teilt jedem zu, wie er es verdient hat. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Gott ist ein gerechter Gesetzgeber und Richter, der den Gehorsam belohnt und die Übertretung bestraft.
Es war dieses philosophische Gerechtigkeitsprinzip, das Luther die paulinischen Texte verleidet hat. Er schreibt dann in dieser Vorrede: „Ich liebte den gerechten Gott, der die Sünder straft, nicht, sondern hasste ihn. Ich war unmutig gegen Gott, wenn nicht mit heimlicher Lästerung, so doch mit gewaltigem Murren.“
Er fährt fort: „Ich sprach, als ob es nicht genug sei, dass die Elenden durch die Ursünde ewig verdammte Sünder von vielfältigem Unheil bedrückt sind durch das Gesetz des Dekalogs, den Geboten. Muss Gott durch das Evangelium Leid auf Leid fügen und uns auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen?“
Der Hintergrund dieser Aussagen und von Luthers Leiden an diesem Begriff ist die spätmittelalterliche Bußlehre. Dabei kommt es darauf an, dass der sündige Mensch in der Zerknirschung seines Herzens dem vernichtenden Urteil über ihm zustimmt: „Ja, Gott, du hast recht, wenn du mich verdammst.“ Nur in dieser Haltung der Zerknirschung kann der Sünder auf Gottes Erbarmen hoffen. Dabei bleibt freilich immer offen, ob die Buße wirklich echt, tiefgehend und hinreichend genug ist.
Ich will an dieser Stelle nur andeuten, dass an der gegenwärtigen postmodernen christlichen Sehnsucht nach Echtheit und Authentizität ein ganz ähnliches Problem entstehen kann wie bei dieser spätmittelalterlichen Busspraxis, bei der man nie wusste, ob die Zerknirschung des eigenen Herzens wirklich tief genug ist.
Wenn wir uns nach Echtheit und Authentizität sehnen und das jetzt zum neuen Prinzip des Heils machen, dann können wir auch nie sicher sein, wann wir wirklich echt und authentisch genug sind. Wer soll da ein Urteil fällen? Hier haben wir ein ähnliches Problem. Deshalb halte ich es für keine gute Idee, das Heil auf Echtheit und Authentizität zu gründen.
Dann berichtet Luther aber auch von seinem Durchbruch, als er den Zusammenhang der Genitivkonstruktion „Gerechtigkeit Gottes“ in Römer 1,17 begreift. Er schreibt:
„Da begann ich die Gerechtigkeit als diejenige zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nicht als Messlatte, nicht als Kriterium, sondern als Gabe, ein Geschenk, das Gott einem Menschen zuteilt, nämlich aus dem Glauben. Und ich erkannte, dass dies die Meinung sei, dass durch das Evangelium die Gerechtigkeit offenbart wird, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.“
Luther spricht in diesem Zusammenhang von einer Wiedergeburt, von geöffneten Türen des Paradieses und damit von großer Freude. Dieses neue Verständnis der „Gerechtigkeit Gottes“ – nicht mehr als vorsichtige Grammatik, Genitivus subjectivus, Gottes Messlatte oder Kriterium, sondern als Genitivus objectivus, eine Gabe, ein Geschenk, das Gott mir gibt – ist für ihn die Tür zu Paulus geworden.
Er schreibt weiter: „Ich durchlief darauf die Schrift, wie ich sie im Gedächtnis hatte, und stellte bei anderen Begriffen Ähnliches fest, wie etwa ‚Werk Gottes‘, das heißt, was Gott in uns wirkt, ‚Kraft Gottes‘, durch die er uns stark macht, ‚Weisheit Gottes‘, durch die er uns weise macht, ‚Stärke Gottes‘, ‚Heil Gottes‘, ‚Herrlichkeit Gottes‘. So wie ich vorher das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, pries ich jetzt mit solcher Liebe den mir süßesten Begriff. So wurde mir diese Paulusstelle zur Pforte des Paradieses.“
Luthers Entdeckung bedeutete für ihn – und letztlich für die komplette spätmittelalterliche Welt – den Ausbruch aus einem Teufelskreis. Dieser Teufelskreis ermahnte den Sünder zu immer intensiveren Anstrengungen, Bußübungen und Bußleistungen, führte aber letztlich immer zum Scheitern, weil es nie genug sein konnte. Man war nie am Ziel.
Worauf es mir hier ankommt, ist die Beobachtung, dass es eine Entdeckung in der Schrift war, genauer gesagt das neue Verständnis einer Genitivkonstruktion – wenn man so will, griechische Grammatik –, die Luther ins Paradies geführt hat. Bei ihm löste sie eine Explosion der Freude und des Lebens aus und in der Folge eine reformatorische Dynamik, deren Folgen wir bis heute spüren.
Neues Leben aus alten, uralten Texten – neues Leben aus der Grammatik. Schau einer an, was das noch bringt!
Bevor wir weiter in den globalen Süden wandern, möchte ich noch eine Zwischenstation in Bonn-Bad Godesberg einlegen – oder genauer gesagt: wie eine Kirche aus der Exegese, aus der Bibelauslegung, ihren Weg findet.
Im Februar 1935 fand in Bonn-Bad Godesberg eine Bibelfreizeit der Bekennenden Kirche für Theologiestudenten statt. Am 10. Februar hielt Professor Karl Barth dort einen Vortrag. Ihm war kurz zuvor die Lehrbefugnis an der Universität Bonn entzogen worden, weil er als Professor den Treueeid auf Adolf Hitler verweigert hatte.
Hitler selbst hatte daraufhin seine Gerichtsakte angefordert. Er sah in die Personalakte und die Gerichtsakte von Karl Barth ein und sorgte persönlich für den Entzug seiner Professur.
In seinem Vortrag auf dieser Bibelfreizeit ging Karl Barth der Frage nach, was in dieser geschichtlichen Stunde, im Jahr 1935, zu tun sei. Er sagte:
„Um es ganz konkret und praktisch zu sagen: Was jetzt nötig ist, ist dies, dass es junge Menschen in Deutschland gibt, die nicht nur vom Wort Gottes reden, sondern die das Wort Gottes lesen und damit leben.
Liebe Freunde, die Sie bei mir hören: Sie haben bei mir hauptsächlich Dogmatik gehört. Dogmatik ist eine hohe und steile Kunst. Ich will nicht leugnen, dass ich Sie auch menschlich mit einer gewissen Lust und Liebe treibe. Und ich habe wohl gemerkt, dass diese Sache auch viele von Ihnen begeistert hat.
Wenn es nun damit vorerst zu Ende ist, so fassen Sie das als einen Pfiff auf, den Sie bekommen haben, das Studium vorläufig an einem anderen Eck neu zu beginnen.
Nehmen Sie also meinen letzten Rat an: Exegese, Exegese und noch einmal Exegese, Bibelauslegung. Wenn ich Dogmatiker geworden bin, so deshalb, weil ich lange vorher mich bemüht habe, Exegese zu treiben.
Lassen Sie die systematische Kunst, die einen auch rasend machen kann, ein wenig ruhen und halten Sie sich an das Wort, an die Schrift, die uns gegeben ist. Werden Sie vielleicht weniger systematische Schrifttheologen, dann ist gewiss auch für die Systematik und die Dogmatik gesorgt.“
Was bei Karl Barth hier 1935 durchkommt, ist dasselbe wie bei Luther: In dieser historischen Stunde des deutschen Volkes, der historischen Stunde Europas damals, wird neues Leben nur aus alten Texten kommen.
Man könnte meinen, sie hätten nichts anderes zu tun, als Exegese zu treiben. Karl Barth wusste das: Neues Leben wird nur aus diesen uralten Texten der Heiligen Schrift kommen. Deshalb heißt es: Exegese, Exegese und noch einmal Exegese.
Die Hinwendung zu diesen Texten wird uns helfen, die historische Stunde zu verstehen, zu deuten und einzuordnen. Das gilt heute nicht anders als damals.
Die Dramatik, die sich in unserer Gegenwart ereignet, werden wir nur im Licht der Heiligen Schrift deuten können.
So reisen wir nun wirklich weiter nach Afrika, in den globalen Süden, oder wir leben aus dem Übersetzen erwächst. Die letzte Station führt uns also in den globalen Süden, konkret zu Laminsane.
Wer war Laminsane? Laminsane wurde 1942 in Gambia als Sohn muslimischer Eltern geboren. In seinen Teenagerjahren bekehrte er sich zu Jesus. Er musste Missionare förmlich drängen, ihm das Evangelium zu verkünden, da sie verunsichert waren, einen Muslim zu bekehren. Er zwang sie regelrecht dazu, ihm von Jesus zu erzählen und bat sie eindringlich, ihm endlich das Evangelium zu sagen.
Später wurde er Professor für Mission und Weltchristentum an der Yale Divinity School, einer der großen Universitäten der Ivy League in Nordamerika. Dort entwickelte er sich zu einem der bedeutendsten schwarzen Missionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war die Bedeutung der Übersetzungsprozesse der Heiligen Schrift für die Ausbreitung des christlichen Glaubens.
Laminsane untersuchte die zweitausend Jahre andauernden historischen Übersetzungsprozesse in die lokalen Kontexte, in denen die Mission stattfand. Sein Fazit war, dass die Übersetzung der Heiligen Schrift in die Landessprachen, in die Stammessprachen, in die Ortssprachen und in die lokalen Sprachen der entscheidende und wichtigste Faktor für die Verbreitung des christlichen Glaubens war.
Die christliche Botschaft kann in jeder Sprache ausgedrückt und in jede Kultur hineininterpretiert werden. Das ist ein großer Unterschied zum Islam und zum Koran. Daher war und ist die Übersetzbarkeit der Schlüssel zur Ausbreitung des Christentums in neue Kulturen – so wie es in Afrika, Asien und Lateinamerika in den letzten dreihundert Jahren geschehen ist.
Laminsane merkt an, dass die Missionare mit unterschiedlichen Motiven unterwegs waren. Einige davon waren nicht besonders wohlwollend, das muss man zugeben. Doch was hervorstechend ist, ist der Nachdruck, den die Missionare auf die Übersetzung der Heiligen Schriften in die Volkssprachen legten. Sie übernahmen selbstbewusst die lokalen Sprachen – ein ganz neuer und kühner Schritt in jener Zeit. Damit bestätigten sie die lokalen Kulturen als Träger des Evangeliums Jesu Christi.
Sie verfassten Grammatiken, übersetzten die Bibel, gründeten Schulen, brachten den Menschen das Lesen und Schreiben bei und sammelten und bewahrten lokale Weisheiten wie Geschichten, Sprichwörter und Axiome. Auf diese Weise wurde Mission zum Katalysator für die Erhaltung und Belebung dieser Kulturen.
Die Missionare trugen dazu bei, Sprachen zu bewahren, die von den aufkommenden Lingua francas, also den großen Verkehrssprachen wie Englisch, Französisch und Spanisch, bedroht waren. In dem Maße, wie die jungen einheimischen Christen plötzlich in die Lage versetzt wurden, die Heilige Schrift in ihrer Sprache zu verstehen und die Texte in ihrer Sprache weiterzusagen, explodierte die Mission.
Die entscheidenden Prozesse und Fortschritte der Weltmission wurden nicht durch westliche Missionare ausgelöst. Dort kennen wir nur die Geschichten, die aufgeschrieben und erzählt wurden. Diese finden sich heute in unseren Kirchen und Missionsgeschichtsbüchern. Das soll die großen Helden der Mission nicht schmälern – es gab viele herausragende Persönlichkeiten.
Doch die entscheidenden Prozesse der Mission wurden von Einheimischen angestoßen. Diese gingen von Dorf zu Dorf, bis in die hintersten Winkel des Buschs, um ihren Stammesgenossen weiterzusagen, welches Evangelium sie entdeckt hatten. Durch die Übersetzung wurden sie befähigt, selbst zu verkündigen – und nicht nur das. Sie konnten durch die Bibelübersetzungen auch selbst theologisch arbeiten und denken.
Für eine Kultur ist es entscheidend, dass sie selbst in die Lage versetzt wird, theologisch zu denken und zu arbeiten. Das hat die Explosion der Christenheit im globalen Süden verursacht, auf die wir heute mit Staunen blicken. In wenigen Jahren werden drei Viertel, also 75 Prozent der Christenheit im globalen Süden leben.
Mission hat unglaubliche Frucht getragen. Heute sind wir der missionarische Hotspot der Welt – die Region mit der größten missionarischen Herausforderung. Es waren immer wieder die übersetzten Texte selbst, die in indigenen Kulturen die Fähigkeit zur Theologie hervorbrachten.
Mit der Fähigkeit, die Texte auf den eigenen kulturellen Kontext anzuwenden, entstand eine Freude über entdecktes Leben, entdeckte Wahrheit und über den entdeckten Herrn. Es ist das Öffnen der Schrift – so wie in Emmaus – durch Übersetzungs- und Übertragungsprozesse, die die Entdeckerfreude ermöglichen.
Ein Fazit
Wir stehen heute in vielfacher Weise an einem Wendepunkt der Kirchengeschichte, vielleicht sogar der Weltgeschichte. Dabei fragen wir uns, wie wir in unseren Kirchen, in unseren Gemeinden und in der Weltmission weitermachen können.
Ich bin überzeugt, dass die Antwort aus keiner anderen Quelle kommt als jener, über die wir in den vergangenen Minuten gesprochen haben. Es ist Jesus, der uns lehrt, die Schrift zu verstehen, und der uns zeigt, wie wir aus der Schrift die Zusammenhänge der Geschichte Gottes erkennen können.
Der Heilige Geist übersetzt Gottes Wort in unsere Sprache, unsere Kultur und unser Leben. Er schenkt uns immer wieder neu die Erkenntnis, was dieses Verstehen für unsere Gegenwart bedeutet. Außerdem gibt er uns die Kraft für theologische Arbeit und missionarisches Zeugnis – nicht nur bis an die Enden der Erde, sondern auch bis an das Ende der Welt.
Bevor es satellitengestützte Navigation gab, benötigten Seeleute Leuchttürme. Diese sind bis heute an den Küsten zu sehen, auch wenn man sie für die Navigation eigentlich nicht mehr braucht. Damals aber brauchte man Leuchttürme, um den Kurs eines Schiffes zu bestimmen. Dabei war das Licht von zwei Leuchttürmen notwendig. Ein einzelner Leuchtturm reichte nicht aus. Nur mit zwei Leuchttürmen konnte man den Winkel berechnen, um zu wissen, wo sich das Schiff gerade befindet und wohin es fährt.
Im Grunde ist es hier ähnlich: Der eine Leuchtturm ist Jesus Christus, das Licht der Welt. Der andere Leuchtturm sind die Schriften. Das Wort weist auf Jesus hin. Nur im Licht der Schrift kann ich den Weg beziehungsweise den Kurs Gottes richtig verstehen, den er mit Jesus als dem Licht der Welt gegangen ist.
Das ist Theologie – Leuchtturmwissenschaft. Es bedeutet, Schrift, Jesus und mich selbst in einem Winkelverhältnis zu betrachten, Jesus im Licht der Schrift immer wieder neu zu entdecken und dann dem Weg durch die Stürme der Zeit zu folgen.
Wir sitzen heute Abend in dem Schiff, das sich Gemeinde nennt, und mit dem wir auf dem Weg durch diese Zeit sind. Wir merken alle, dass es stürmische Zeiten sind. Wir fragen nach dem Kurs und dem Weg.
Wir werden ihn nur so finden, wie ihn die Gemeinde aller Zeiten immer wieder gefunden hat: indem wir uns von Jesus die Schrift öffnen lassen, neu sehen und neu entdecken, was Gott tut und wohin er uns führt. Erwartungsvoll lesen wir: „Herr, öffne mir die Augen, lass mir die Augen aufgehen über dein Wort.“
Eine Gemeinde, die sich an Jesus und an der Schrift orientiert, dem wird der Heilige Geist immer wieder den Kurs in eine neue Zeit hinein zeigen. Es ist mein Gebet, dass Gott uns das in unseren Tagen wieder schenkt.
Wo Gottes Geist uns die Schrift öffnet, kommt es zu einer Explosion des Verstehens. Dort entsteht neues Leben. Und wo neues Leben entsteht, da gibt es auch eine neue Mission – in der Kraft des Heiligen Geistes und in der Verkündigung des Evangeliums.
Danke, dass Sie diese Reise heute Abend mitgemacht haben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit einsteigen in diese Reise und dass Gott uns auf diesem Weg in die Zukunft führt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Amen.