Die schwindende Begeisterung für Reformationsfeiern
Man kann sie auf der langen Steinbacher Höhe nicht nur grundsätzlich bewundern, sondern auch dafür, dass sie heute noch wagen, einen Reformationsgottesdienst sozusagen neu einzuführen. Das ist bemerkenswert, denn quer durch Deutschland, von Flensburg bis Oberammergau, überlegen sich viele Gemeinden, ob man sich das nicht sparen sollte.
Ich habe den Eindruck, dass bei unseren Reformationsfeiern ein klein wenig die Luft raus ist. Das große Pathos – wir als Evangelische, die sagen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir!“ – ist nicht mehr so stark spürbar. So überzeugt von unserem besonderen evangelischen Selbstverständnis sind wir nicht mehr.
Es gab Zeiten, das habe ich in Stuttgart erlebt, in denen man ein wenig auf die katholischen Mitchristen herabgesehen hat – als die zweite Klasse, nicht wir Evangelischen. Das ist vorbei! Heute wären wir froh, wenn wir Bischöfe wie den heutigen Bischof von Rom hätten, den man auch Papst nennt. Er hat das Buch „Jesus von Nazareth“ veröffentlicht, wie der Bischof Josef Ratzinger. Ich kann es nur empfehlen zu lesen. Eine Hochachtung vor der Bibel!
Wir haben immer gesagt: Luther mit der Bibel. Und plötzlich hat die katholische Kirche die Bibel für sich entdeckt. Das protestantische Pathos ist also verschwunden.
Schon vor vielen Jahren, als ich noch junger Pfarrer am Ulmer Münster war und die Leute bei den Reformationsfeiern weggelaufen sind, habe ich den Vorschlag gemacht, den Essener Jugendpfarrer und Evangelisten Wilhelm Busch einzuladen. Das wäre die Sache gewesen.
Er kam auch. Und am Abend nach seinem lebendigen Vortrag hat er mich gefragt: „Sag mal, was war denn los?“ Noch selten habe ich gegen eine so bleierne Müdigkeit predigen müssen. Es war, als wäre die Sache der Reformation gar nicht mehr aktuell.
Als Dekan in Schondorf, wo ich 14 Jahre leben durfte, habe ich dann versucht, mit Bonbons aufzumischen – nicht nur interessante Redner, sondern auch kirchenmusikalische Besonderheiten, Aufführungen und Anspiele. Trotzdem wurden es immer weniger, die am 31. Oktober abends kamen.
Die Suche nach einer Erklärung für die schwindende Relevanz
Nun sucht man dafür eine Erklärung, und immer wieder wird dieselbe Antwort hervorgeholt. Der Mensch des sechzehnten Jahrhunderts hat nach dem gnädigen Gott gefragt. Heute fragen wir das nicht mehr. Stattdessen interessieren wir uns für die Weltwirtschaft, unsere Gesundheit und wie wir möglichst alt werden können.
Dieser Versuch einer Erklärung ist eine gewaltige Täuschung, auch im Mittelalter. Hat der normale Mensch damals nicht ebenfalls nach dem gnädigen Gott gefragt? Die übliche Bitte lautete: „So lieber Gott, behalte mich gesund, lass mich Erfolg in meinem Beruf haben, gib, dass meine Kinder nicht ganz daneben sind.“ So war die normale Frage zu allen Zeiten.
Das Wunder bei dem kleinen Mönch Martin Luther war, dass bei ihm eine ganz andere Frage aufbrach: Wie kann ich vor Gott bestehen? Später schrieb er: „Ich zitterte und zappelte.“ Nicht erst 1521 oder 1517, sondern schon 1507, bei seiner Primiz, als er als Pfarrer eingesegnet wurde, mussten ihn die Zeugen mit Kraft festhalten. Er wäre bei seiner eigenen Einsetzungsfeier am liebsten davongelaufen.
Luther sagt: „So war ich erschrocken vor der Majestät des heiligen Gottes, ob ich vor ihm bestehen kann.“
Die unerbittliche Forderung nach Vollkommenheit
Jetzt muss ich versuchen, das ein bisschen zu erklären. Wir haben ja ein wunderbares Schulwesen. Wenn man an die Schulzeit denkt, erinnert man sich gerne daran zurück, wenn unter einer Arbeit eine Zwei stand. Eine Eins kam bei mir gar nie vor, aber ich war schon froh, wenn es befriedigend minus war. Ausreichend ging auch noch. Vielleicht habe ich nächstes Mal eine Drei und kann ausgleichen.
Wir denken in diesem Notensystem: Ungenügend sind die in Bruchsal, vielleicht bei mir noch Vier, mangelhaft. Hoffentlich nicht, wenn der Herr Jesus ein gutes Wort für mich einlegt.
Martin Luther hat klar gedacht: Der heilige Gott fragt bloß noch danach, ob ich vollkommen bin.
In unserem Wirtschaftsleben ist das auch so. Die Prüfer in einer Strumpfwarenfabrik sehen genau hin. Wenn da so eine Masche runtergelaufen ist, wird Ausschuss gemacht. Das ist keine Mangelware, die günstiger verkauft wird, sondern Ware, die man nicht mehr verkaufen kann.
Auch die Prüfer bei Porsche und Mercedes-Benz sehen genau hin. Wenn die Frontscheibe einen blinden Fleck hat, wird sie aussortiert. Das kann man nicht verkaufen.
Wo ein Mangel ist, ist Ausschuss. Ungenügend, nicht brauchbar.
Mit diesem modernen Beispiel wollte ich klar machen, warum Martin Luther vor der Majestät des heiligen Gottes erschrocken ist. Ich zitterte und zappelte.
Die Gnade der Annahme trotz Unvollkommenheit
Und er hatte einen guten Seelsorger, den Beichtvater Johann von Staubitz. Dieser sagte zu ihm: „Lieber Martinus, nimm es doch nicht ganz so tragisch. Keiner von uns ist ein Engel. Du strengst dich ja an, du bemühst dich, und das wird vor Gott auch zählen.“
Diese Worte wirkten jedoch bei Martin Luther nicht. Es war eine Gnade, dass er sich nicht mit diesen Vertröstungen abspeisen ließ, sondern das Wunder Gottes erlebte, als er körperlich völlig zerschlagen war.
Man kann dies heute noch in diesem Klostergebäude zeigen. In Magenkrämpfen wand sich Luther, was bis ins Körperliche hinein reichte. Dann wurde ihm ein Satz klar, der viermal in der Bibel bezeugt ist, als wollte er es ganz deutlich machen: Der Gerechte, der Mensch, der vor Gott gerecht ist, wird durch seinen Glauben leben, indem er ansieht, was Gott ihm schenkt und gewährt.
Gottes Nähe bei zerbrochenen Menschen
Lassen Sie mich zuerst etwas zum gesamten Vorgang sagen: Gott wirkt seine Wunder an zerschlagenen Menschen. Das hat ja der Prophet Jesaja im Auftrag unseres heiligen Gottes verkündet.
So spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt – welch eine Einleitung: „Siehe, ich wohne in der Höhe und im Heiligtum, und bei denen, die zerbrochenen Herzens und zerschlagenen Geistes sind, damit ich erquicke den Geist der Zerschlagenen und das Herz der Gedemütigten.“
Gott will nicht nur in Kathedralen oder heiligen Tempeln wohnen, sondern ebenso gern bei zerschlagenen Menschen. Er möchte deutlich machen, was er wirken kann, wenn er den Geist der Zerschlagenen erquickt.
So war es zu allen Zeiten. Einer meiner Vorfahren, ein kleiner Dorfschulmeister auf der Schwäbischen Alb, hat einmal seinen drei Töchtern geschrieben: Unser Gott nimmt es genau mit seinen Leuten. Sie hätten es so gerne, dass der Herr sie lobt und dass sie untadelig vor ihm stehen könnten. Doch der Herr sorgt dafür, dass unser Gewissen uns das nicht zulässt.
Stattdessen weckt er unser Gewissen auf, damit wir erkennen, wie viel in unserem Leben falsch war und wie oft er traurig über uns sein musste. Die Töchter dachten auch, ihr Vater sei schwermütig geworden.
Als es dann mit diesem alten Schulmeister Kullen zum Sterben ging, fragte eine seiner Töchter: „Vater, kannst du denn getrost sterben, wenn dir Gott so viel in deinem Leben aufgedeckt hat, was nicht richtig war?“
Da antwortete er fast fröhlich: „Mir ist so, als ob der Heiland seine Hand über all das hält, was wie ein Berg von Schuld in meinem Leben ist. Und er hält seine Hand so darüber, dass ich nicht einmal meine eigenen Fehler mehr sehen kann.“
So hat dieser kleine Dorfschulmeister die Wunder Gottes erlebt – die Nähe Gottes, das Erbarmen Gottes und das Erquicken Gottes bei zerbrochenen Menschen.
Persönliche Erfahrungen mit Gottes Gnade
Als ich neulich in dieser meiner Bibelausgabe blätterte, stieß ich auf einen Eintrag, von dem ich gar nicht mehr wusste, dass ich ihn geschrieben hatte. Es war im Jahr 2004, am 21. April, in großer Angst des Herzens: „Herr, sei mir Sünder gnädig.“
Vorher hatten wir im Galaterbrief, Kapitel 4, gehört: „Der Geist Gottes schreit in unseren Herzen: Abba, lieber Vater!“ Ich habe viel mit Jesus erlebt – viele Wunder, viel Bewahrung, viel Güte, viele Zuteilungen. Doch im Jahr 2004 wurde mir etwas klar, das noch gar nicht lange her ist.
Bei mir schreit es gar nicht. Es ist eher so, als wäre die letzte Reserviertheit da. Lieber Gott, wenn einmal vor deinem heiligen Angesicht herauskommt, wie viel in meinem Leben danebengegangen ist, wie viel ich versäumt habe, wie viele dumme Worte ich geredet habe, wie viele falsche, wie viel Zorn, wie viel Ungeduld, meine ganze Art – Herr, dann musst du doch traurig sein.
Verzeihen Sie, ich könnte sagen: „Lieber Gott, hab Geduld mit mir.“ Aber lieber Vater, habe ich denn den Geist Gottes?
Heute steht neben diesem Eintrag in großer Angst des Herzens geschrieben: „Er sei mir sündergnädig, er hat’s gehört.“ Mir ist nämlich plötzlich aufgegangen: Wenn der Vater auf mich sehen wird, wird er vor Freude strahlen, weil neben mir Jesus steht. Und der Vater wird sagen: „Bei dem Schiffbuch ist meine Rettungstat zum Ziel gekommen.“
Im Leben war viel falsch, aber gerade deshalb braucht er doch einen Erlöser. Deshalb habe ich einen Erlöser in die Welt geschickt. Weil ich in meinem ewigen Erbarmen gesehen habe, dass der Chefbuch einen braucht, habe ich Jesus als den Retter geschickt.
Und jetzt steht neben dem armseligen Chefbuch Jesus. Ach, wie schön ist das! Das Angesicht des Vaters wird über Ihnen strahlen, wenn sein Rettungswerk bei Ihnen, bei mir, zum Ziel gekommen ist.
In großer Angst des Herzens: Herr, sei mir Sünder gnädig.
Zerbrochenheit durch Lebensumstände
Gott wirkt bei zerbrochenen Menschen. Er kann durch Krankheit zerbrechen. Viele von uns, besonders Eltern, erleben das. Wir können zerbrochen werden durch die Angst vor Demenz. Wenn ich meine Gedanken nicht mehr zusammenkriege, wenn ich nicht mehr so kann, wie ich will, wenn all das Böse in mir, das in mir steckt, herauskommt.
Man erlebt es auch in manchen Altenheimen: Ganz brave Menschen zeigen plötzlich im Alter schlechte Seiten, die sie nicht mehr dämpfen können. Man kann furchtbar zerbrochen werden durch Misserfolg im Beruf. Auch durch die Angst um Kinder und Enkel kann Zerbruch entstehen. Manche haben Angst, wie ihre Enkel ihren Weg finden.
Der entscheidende Zerbruch ist jedoch das, was Martin Luther gesagt hat: „Die Angst, mich zu verzweifeln, trieb, dass nichts, denn Sterben bei mir blieb, zur Hölle musste ich sinken.“
Der schwäbische Erweckungsprediger Hofacker, ein junger Mann von dreißig Jahren, war im Sterben. Sein Freund wollte ihn trösten und sagte, er gehe doch der Herrlichkeit entgegen. Doch Hofacker antwortete sterbend: „Ich habe tausendmal mehr die Hölle verdient als den Himmel.“ Er war zerbrochen.
Acht Tage später fand ihn der Freund fast gelassen und fröhlich. Hofacker sagte: „Da bist du gekommen. Ich habe mir klargemacht, dass der Heiland schon so lange seine Hände zu mir ausstreckt. Und ich nehme keinen Zweifel mehr, so wichtig er auch ist, dass ich sage: Ich habe es nicht verdient. Jetzt will ich es einfach gelten lassen. Ich habe mich entschlossen, es gelten zu lassen, dass der Heiland mich annimmt.“
Wohl dem, der als Zerbrochener erlebt, wie Martin Luther es tat. Unser Gott hat Leben für Sie bereit und Freude an der Gerechtigkeit.
Die Bedeutung der Gerechtigkeit im Glauben
Jetzt muss ich ein bisschen etwas zum Thema Gerechtigkeit sagen. Theologisch kann man das ja lernen, das habe ich einst auch schon an der Universität gelernt. Ich habe versucht, in vielen Vorträgen klarzumachen – ich habe vorher Andreas Schäfer gesagt, dass ich mir eigentlich geschworen hatte, nie mehr einen Reformationsvortrag zu halten. Aber wenn man dann zu einer besonderen Gelegenheit eingeladen wird, kommt man gerne.
Das, was Martin Luther erlebt hat, kann man aber nicht einfach vermitteln. Das kann nur der lebendige Jesus selbst erfahren lassen. Deshalb dürfen Sie bitten, so wie einer der großen Reformatoren gebetet hat, der schwäbische Reformator Blara: „Gib himmlisches Erkennen, gib mir himmlisches Erkennen!“ Martin Luther ist das geschenkt worden, und all denen, die mitten im Zerbrechen den gerecht machenden Gott erlebt haben.
Das ist das himmlische Erleben. Jesus hat gesagt – es ist im Johannesevangelium Kapitel 17 aufgeschrieben – dass das ewige Leben darin besteht, den wahren Gott zu erkennen, den du, Jesus Christus, gesandt hast. Das ist himmlisches Erkennen.
Doch Jesus kann später auch noch einmal die Theorie aufarbeiten. Alles, was wir versucht haben, in Büchern zu lesen, ...
Die zentrale Rolle der Gerechtigkeit im Römerbrief
Mir ist im vergangenen Sommer die Gelegenheit geschenkt worden, beim Sommerbibelkurs in Eidlingen einzuspringen. Ein Referent war ausgefallen und sagte zu mir: „Was ist das Thema? Sie können nehmen, was Sie wollen, aber eigentlich wäre der Römerbrief dran gewesen.“
Da habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder den Römerbrief insgesamt durchforstet und auf mich wirken lassen. Dabei wurde mir klar, dass das Grundthema im Römerbrief die Gerechtigkeit ist. Gott macht Gottlose gerecht (vgl. Römer 3, Römer 4). Gott aber, der die Gottlosen gerecht macht. Die Gnade Gottes besteht in der Gerechtigkeit. Achten Sie einmal darauf, wie oft der Apostel Paulus von Gerechtigkeit spricht.
Ist das ein Thema bei uns? Die evangelische Kirche in Deutschland hat in den letzten Wochen eine Lutherdekade ausgerufen, die bis zum Jahr 2017 andauert. Dann steht ein großes Jubiläum an: die reformatorische Erkenntnis von Martin Luther. Es sollen viele Luther-Vorträge stattfinden. Gut gedacht, aber wird es anders laufen als 1917?
Damals wollte man bereits ein 400-jähriges Jubiläum der Reformation feiern. Eine kleine Gruppe von Theologiestudenten, zu denen auch der spätere Cfdm Reichswald Erich Stange gehörte, schrieb an die Kirchenleitungen. Sie forderten: „Sorgt doch dafür, dass nicht bloß immer gesagt wird, Luther als der große Deutsche, Luther als der große Dichter, Luther als der erste Gesangbuchdichter, Luther als der Erfinder der deutschen Sprache, sondern dass herauskommt: Luther, der die Gerechtigkeit Gottes entdeckt hat.“
Sie schrieben ein wenig aufmüpfig, wie Studenten das eben tun. Dafür erhielten sie von ihren Kirchenleitungen eine herbe Abfuhr: „Es geht nicht um eure Meinung, und das ist auch gar nicht wichtig. Luther ist der große Deutsche.“ So wurde er auch 1917 gefeiert. Vermutlich wird es 2017, falls wir es erleben, nicht anders sein.
Denn das Thema des Römerbriefs – dass Gott Menschen gerecht macht – wird oft abgelehnt. Man sagt: „Damit kannst du doch nicht kommen, das ist doch kein Thema. Wir sind doch alle bemüht, anständig zu leben. Außer dem Ackermann in Frankfurt oder so, aber normal sind wir doch anständig, oder nicht?“
Im Alten Testament steht das schöne Wort: „Unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Gewand.“ (vgl. Jesaja 64,6) Da heißt es nicht, du kannst gar nichts Gerechtes tun, alles, was du machst, ist falsch. Nein, wunderbar, unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Gewand.
Wenn ich mich anziehe für einen Vortrag auf der langen Steinbarer Höhe, denke ich: Das ist eine schöne, schicke Krawatte, passende Kirchenfarben zum Reformationsfest. Dann sagt meine Frau: „Entschuldigung, da unten ist ein Fleck. Ich muss das Jackett zumachen, damit man den nicht sieht.“
Es genügt ein kleiner Fleck, damit ich nicht mehr perfekt gekleidet bin. So sagt das Alte Testament: Unsere Gerechtigkeit ist doch so, dass Gott sagt: „Geh mal zuerst raus und zieh dich noch einmal anständig an.“
Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eine elementar menschliche Frage. Im Buch Hiob fragte Eliphas von Theman: „Ich hörte eine Frage bei Nacht: Wer kann gerecht sein vor Gott?“ (Hiob 4,17) Im Grunde genommen geht es bei allen Religionen darum. Wenn die Hindus sich im Ganges beim Sonnenaufgang baden, dann wollen sie alle ihre Schuld abwaschen können und vor Gott rein dastehen.
Die Frage der Gerechtigkeit vor Gott ist eine überaus aktuelle Frage.
Die Herausforderung der eigenen Unvollkommenheit
Wenn man die Evangelien liest – Matthäus, Markus, Lukas, Johannes – könnte man den Eindruck gewinnen, dass bei Jesus vor allem wichtig ist, dass er geheilt hat, gepredigt hat, getröstet hat und Tote auferweckt hat.
Paulus hingegen sagt, dass die zentrale Menschheitsfrage für Juden und Griechen, für Juden und Nichtjuden, die Frage ist: Wie kann einer von uns gerecht sein vor Gott? Vielleicht halten wir das nicht für wichtig, weil wir uns, wenn wir ehrlich sind, fragen: Bin ich denn gerecht?
Vom Rednerpult aus, von der Kanzel aus lässt sich das schnell sagen: Gott macht Gottlose gerecht. Ich spreche lieber nach, was auch beim Apostel Paulus steht: „Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute schaffe ich nicht. Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“
Wie oft habe ich mir zu Neujahr oder an meinem Geburtstag vorgenommen: Ich will nicht mehr aus der Haut fahren, ich will geduldiger sein, liebevoller. Doch dann – Wumms – war der Vorsatz weg.
Da hat mir eine Erinnerung an unseren alten Wirkungsort Schorndorf geholfen. Die schöne, altehrwürdige Stadtkirche hatte mehr als Patina angesetzt: viel Staub an den hohen, weißgekalkten Wänden. Ganze Schlieren von Staub hatten sich abgesetzt, sodass die Kirchengemeinderäte sagten, wenn wir Geld hätten, müssten wir schon lange renovieren.
Dann kam die Anfrage vom Zweiten Deutschen Fernsehen: Könnten wir nicht mal von Schorndorf einen Gottesdienst am Sonntagmorgen übertragen? Ich habe zurücktelefoniert und gesagt, es sei schön, dass sie das wollten, aber unsere Kirche sei so schmuddlig.
Der Redakteur sagte, das mache nichts aus. Und als die Hauptprobe war, habe ich gemerkt, warum das nichts ausmacht: Als die Scheinwerferbatterien aufleuchteten, war die Kirche strahlend weiß – die ganzen Wände. Und als abgeschaltet wurde, war wieder der Dreck da.
Wir haben uns dann entschlossen zu renovieren. Seitdem weiß ich: Wenn Jesus bei mir ist, dann ist seine strahlende Gerechtigkeit auch über meinem verpfuschten Leben. Da muss ich nicht lange wischen.
Luther hat gesagt, wir wollen immer, dass der Herr Jesus ein bisschen wegbleibt, damit wir selber versuchen können, einigermaßen in Ordnung zu kommen. Aber schicke Jesus nicht aus deinem Leben weg, sondern du brauchst ihn, damit die strahlende Helligkeit seiner Gerechtigkeit auf dein Leben fällt.
1. Korinther 1,30: Gott hat unseren Herrn Jesus gemacht zur Gerechtigkeit.
In meinem Leben ist viel falsch, aber mir ist einer beigegeben, vom Vater vorgesorgt, damit seine Gerechtigkeit mein Leben überstrahlt.
Die Verheißung des gerechten Königs
Jetzt zum Abschluss: Deshalb freue ich mich, dass wir in den nächsten Wochen, wenn die Adventszeit wieder beginnt, den Vers aus dem Propheten Sacharja hören: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“
Die erste Christenheit sprach sehr gerne von Jesus als dem Gerechten. Sogar die Frau des Pilatus sagte: „Habe du nicht zu schaffen mit diesem Gerechten.“ Später sagte Apostel Petrus bei der Pfingstpredigt: „Den Heiligen und Gerechten habt ihr verleugnet, und Gott hat diesen Gerechten bestätigt.“
Jesus hat einmal gefragt: „Könnt ihr mich einer Sünde zeihen?“ Wenn ich diese Frage stellen würde, dann würden viele aufstehen und sagen: „Ich weiß einiges über den Chef.“ Doch Jesus fragte weiter: „Wisst ihr einen Fehler, den ich gemacht habe, ein falsches Wort, etwas Ungutes?“ Aber es blieb still. Er ist der Gerechte.
Wenn wir unsere Bibel kennen, wissen wir, dass dem Propheten Jesaja in den Mund gelegt wurde: „Er wird der allerverachtetste sein, mein Knecht, aber er, der Gerechte, wird die Vielen gerecht machen.“ Das war es, was Martin Luther entdeckt hat. Er sagte: „Ich kann zittern und zappeln, aber ich möchte Jesus nicht wegschicken. Er kann das Wunder in meinem Leben wirken, dass die strahlende Sonne seiner Gerechtigkeit auf mein armseliges Leben fällt und ich in den Augen Gottes gerecht werde.“
Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen mit Jauchzen. „Wir haben Gerechtigkeit im Herrn“ – all diese Worte stammen aus dem Alten Testament. Schon beim Propheten Jesaja ist angekündigt, dass er uns kleiden wird wie eine Braut mit dem Hochzeitskleid, nämlich mit dem Mantel der Gerechtigkeit.
Über unser armseliges Leben und unseren Körper, der ja Spuren davon trägt, was wir versäumt und falsch gemacht haben, wird die Gerechtigkeit Gottes wie ein Mantel gebreitet. Bis hin zur Offenbarung heißt es: „Es ward ihnen gegeben wie ein Kleid, das ihnen geschenkt wird – die Gerechtigkeit Gottes.“
Die Bitte um das Verlangen nach Gerechtigkeit
Jetzt habe ich nur eine Bitte an Sie. Ich könnte Ihnen vieles darlegen, aber Sie müssten verlangend beten: Herr Jesus, lass mir nicht nur Heilung, Bergung, Bewahrung, Trost, treue Geschwister und Ermutigung wichtig werden. Sondern lass mich vor allem das Verlangen haben, dass du vom Vater in Ewigkeit zum Gerechten bestimmt wirst, der uns, Armselige, gerecht macht.
Ich bin immer ein wenig skeptisch, wenn in christlichen Versammlungen „Halleluja“ gesagt wird. Aber ich kann Ihnen sagen: Er möchte Sie gerecht machen – Halleluja! Herr Jesus, hilf, dass dieses Verlangen aufbricht, dieser Hunger nach Gerechtigkeit.
So hast du als der Bergprediger selbst gesprochen: dieses Trachten nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes. Nach der Gerechtigkeit, die ganz anders ist als die Gerechtigkeit vorbildlicher Menschen, der Schriftgelehrten, Pharisäer, Mutter Theresa und Albert Schweitzer.
Es ist die Gerechtigkeit, die du allein bist. Und du willst so nahe mit uns verbunden sein, dass wir überkleidet werden durch deine Gegenwart. Amen!
Die neue Dimension der Verbundenheit mit Jesus
Noch ein Wort. Ein einfacher Bauer von der schwäbischen Alb hat mich einmal gefragt: Was ist denn das Neue, das Jesus in die Welt gebracht hat? Vergebung gab es doch schon im Alten Testament. David hat Sünden vergeben bekommen, und die Propheten haben viel über Gott gesagt. Was hat denn Jesus Neues gebracht?
Ich musste zuerst nachdenken. Dann habe ich ihm einen Brief geschrieben. Für mich ist das Neue, was Jesus gebracht hat, dass wir ganz eng mit ihm verbunden sein dürfen – so, wie wir mit unserer Mutter verbunden waren im Mutterleib: geschützt, genährt, getragen.
Wenn Jesus sagt: „Ich möchte euch sammeln wie eine Glucke, die ihre Küken unter die Flügel nimmt“, und wenn der Vater Wohnung bei euch machen will, dann will Jesus diese enge Verbundenheit. „Heiliger Vater, ich will, dass die, die du mir gegeben hast, so mit uns verbunden sind – mit dir und mir –, wie ich mit dir verbunden bin.“ Jesus strebt nach engster Verbundenheit.
Aber dann hat der Herr Jesus bei mir auch in meiner schwachen Erkenntnis noch einmal nachgeschoben. Nicht nur der starke, der tröstliche Jesus, der mahnende Jesus, sondern der Jesus will mit uns verbunden sein – der Gerechte. Bis in Ewigkeit hinein soll das mein Trost sein, die Gewissheit meines Heils: Ich bin heil in Jesus. Amen.