In der Spur Jesu

Konrad Eißler
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Gott ist nicht spurlos im Weltall verschwunden. Jesus hat eine Lebensspur gezogen, die alle andern Spuren durchkreuzt. Wir sollen in diese Spur treten, in dieser Spur laufen und in dieser Spur bleiben. - Predigt in der Stiftskirche Stuttgart


Gott hat sich nicht klammheimlich aus dem Staub gemacht, liebe Gemeinde. Gott hat sich nicht auf leisen Sohlen einfach davongeschlichen. Gott ist nicht spurlos im Weltall verschwunden. Hier auf diesem grünen Planeten, der uns als Wohnplatz zugewiesen ist, hat er eine Spur hinterlassen. Jesus Christus drückte sie ganz tief in den Dreck der Welt. Seit dem Jahr Null gibt es eine Spur zum Leben.

Zuerst ist sie als Fußspur zu entdecken, die das väterliche Haus in Nazareth verlässt und Richtung Jordan geht. Für 40 Tage verliert sie sich in der Wüste, weil ihr der Teufel auf die Spur gekommen ist. Dann aber ist sie wieder in Kapernaum auszumachen, wo sie in Simons Haus hineinführt. Von dort geht es als Laufspur hinaus rund um den See Genezareth. Auffallend dabei ist, dass sie durch gar kein Hindernis aufgehalten wird. Sie überwindet das Gittertor einer Leprastation genauso wie die Hausschwelle eines Halunken. Sogar am Brunnenrand, wo sich nur ein Flittchen um etwas Wasser bemüht, ist sie zu entdecken. Später verbindet sie wie eine Wegspur das galiläische mit dem judäischen Land. Durch Elendsquartiere und Krisengebiete geht sie mitten hindurch. Gar nie ist der bequemere Umweg gewählt worden. Schließlich erreicht sie Jerusalem, die heilige Stadt. Aber dort kehrt sie wider Erwarten nicht endgültig im Tempel ein, sondern zielt auf den hohepriesterlichen Palast. An diesem Ort aber schlagen sie so brutal zu, dass sich anschließend nur noch eine Blutspur durch die Via Dolorosa windet. Draußen auf dem Calvarienhügel wird dem grausamen Spiel ein gewaltsames Ende gesetzt. Der Kreuzestod soll alle Spuren ein für allemal beseitigen. Aber die Schleifspur zum Tod wird die Gehspur zum Leben. Am dritten Tag führt sie aus dem Felsengrab heraus und verliert sich in jenem perspektivischen Fluchtpunkt, der außerhalb unserer sichtbaren Wirklichkeit liegt.

Warum entdecken wir nur die Breitspur der Gewalt, die sich in immer mehr Ländern unserer gebeutelten Erde Bahn bricht? Warum starren wir nur auf die Schmutzspur der Schuld, die immer mehr Menschen ausrutschen und fallen lässt? Warum fixieren wir nur die Tränenspur des Leids, die gar kein Haus und keine Familie auslässt? Warum macht uns die Schlagspur des Todes so viel zu schaffen?

Jesus zog eine Lebensspur, die alle andern Spuren durchkreuzt. Die Evangelisten haben sie peinlich genau gesichert. Apostel gaben aufschlussreiche Kommentare dazu. Kein Staub der Vergangenheit kann sie verwischen. Kein Ereignis der Gegenwart kann sie überlagern. Keine Katastrophe der Zukunft kann sie vergessen machen. Seit der Zeitwende gibt es eine Spur zum Leben. Der Apostel fordert am Schluss seines Briefes die Galater auf, in diese Spur zu treten, in dieser Spur zu laufen und in dieser Spur zu bleiben. Ich möchte diese Aufforderung an die Stuttgarter weitergeben.

1. In diese Spur treten

Früher war ich begeisterter Läufer, auch wenn mir junge Leute das nicht mehr so recht abnehmen wollen. Im Stadion legte ich meinen Trainingsanzug ab. Auf dem Rasen schnürte ich meine Spikes. Am Rand der Aschenbahn machte ich noch ein paar Lockerungsübungen. Jeder wartete auf die Lautsprecherdurchsage: “Bitte Läufer an den Start!” Bewusst lässig schlenderte ich zu meiner Bahn. Noch einmal wurde genau Maß genommen und die Startmaschine festgeklopft. Dann kauerte ich mich nieder. Der Starter hob die Pistole und begann mit dem Kommando: “Auf die Plätze!” Die Sekunden wurden zur Ewigkeit. Vor mir die Spur, die ich durchlaufen musste, hoffentlich kräftiger, schneller, besser als meine Gegner links und rechts neben mir. Ich wollte doch das Zielband durchreißen und nicht bloß hinterherrennen. Ich wollte doch auf dem Treppchen stehen und nicht bloß zuschauen. Ich wollte doch unter den Siegern in der Zeitung kommen und nicht unter “ferner liefen”. Was würden meine Brüder sagen? Was würden meine Kameraden sagen? Was würde ich selbst sagen? Erster sein, Bester sein, ein Star! - nicht nur im Stadion:

Auf der Lebensbahn treten wir alle an. Die Chancen werden genau ausgemessen. Jeder kauert in seinen Startlöchern. Vor uns die Spur, die wir durchlaufen müssen, hoffentlich viel besser und schneller als unsere Konkurrenten links und rechts neben uns. Wir müssen doch Punkte sammeln und dürfen nicht ausgepunktet werden. Wir müssen doch Ruhm einheimsen und dürfen nicht glorreich untergehen. Wir müssen doch spitze sein und dürfen nicht den Schwanz bilden. Was würde unsere Frau sagen? Was würden unsere Kinder sagen? Wie würde ich vor mir selbst dastehen? Gut sein, klasse sein, ein Überflieger! Doch, der faustische Ehrgeiz plagt uns alle: “Es kann die Spur von meinen Erdentagen, nicht in Äonen untergehen.”

Und Paulus sagt: Die Rennspur des Lebens ist eine Fehlspur. Sie führt in eine völlig falsche Richtung. Am Ende steht keiner auf einsamer Höhe, sondern stürzt grausam in die Tiefe.

“Lasset uns nicht nach eitler Ehre geizig sein”, so wie Jesus auf dem hohen Berg. Vor ihm breitete sich die Herrlichkeit der Welt wie ein Teppich aus. Er könnte zum Landbesitzer avancieren. Er könnte zum Regenten aufsteigen. Er könnte zum unumschränkten Herrscher eingesetzt werden. Jesus aber durchschaut das teuflische Angebot und geht den Berg hinunter.

“Lasset uns nicht nach eitler Ehre geizig sein”, so wie Jesus am Rand der Wüste. Die Menschenmasse tobt vor Begeisterung. Gleich wählen sie ihn zum Führer. Gleich rufen sie ihn als Herren aus. Gleich setzen sie ihn als Brotkönig ein. Jesus aber war plötzlich von der Bildfläche verschwunden.

“Lasset uns nicht nach eitler Ehre geizig sein”, so wie Jesus in der Stadt. Seine Jünger folgen ihm. Seine Jünger dienen ihm. Sie verehren ihn. Er aber legt den Schurz um, kniet nieder und wäscht ihnen die Füße.

Das ist die Fußspur Jesu. Und wenn’s euch schmerzt, dass der Schulkamerad um 5 Punkte besser ist, und wenn’s euch sticht, dass der Arbeitskollege viel mehr verdient, und wenn’s euch wurmt, dass der Hausnachbar mit seinen Gaben brilliert, ja, wenn’s euch zu schaffen macht, dass andere großspurig auftreten können, dann tretet in diese Spur.

2. In dieser Spur laufen

Beobachten wir wieder das Geschehen im Stadion. Der Starter hatte uns Läufer auf die Reise geschickt. Jeder konzentrierte sich auf die Sache. Der Kampf war in vollem Gange. Und dann passierte es. Vor mir ging plötzlich einer zu Boden. Zuerst kam er aus dem Tritt, dann stolperte er und geschlagen lag er auf der Bahn. Sicher ärgerte er sich, dass dies ausgerechnet ihm passieren musste. Sicher machte er sich Vorwürfe, dass er gerade versagte. Sicher schämte er sich, dass er schwach geworden war. Am Boden liegen ist peinlich und schmerzlich. Aber für all diese Empfindungen des Kameraden hatte ich keine Antenne. Nicht einmal für Schadenfreude darüber, dass ein unliebsamer Konkurrent aus dem Weg geräumt war, blieb Gelegenheit. Blitzschnell wechselte ich die Spur und rannte an dem Gestrauchelten vorüber. Ich hatte doch keine Zeit zu verlieren. Ich konnte mir keine sozialen Gefühle leisten. Ich musste an der Spitze mitmischen - nicht nur im Stadion:

Wir alle sind auf die Reise geschickt. Jede ist nur auf seine Sache konzentriert. Der Lebenskampf ist in vollem Gange. Und dann passiert es immer wieder. Zeitgenossen gehen zu Boden. Junge Leute kommen aus dem Tritt. Erwachsene verstolpern sich. Alte Menschen sind wie geschlagen. Der Ärger über sich selbst führt oft zu schweren Selbstvorwürfen und in die Scham hinein: “Wie konnte ich nur? Was fiel mir ein?” Als Versager entdeckt zu werden, tut bitter weh. Aber für solche Empfindungen haben wir keine Empfangstation. Nur etwas Schadenfreude blitzt auf, weil es ausgerechnet den erwischt hat. Spurwechsel ist die einzige Möglichkeit. Wir haben doch keine Zeit. Wir können uns doch keine sozialen Gefühle leisten. Wir müssen doch vorne mit dabeisein.

Und Paulus sagt: Die Überholspur des Lebens ist eine Fehlspur. Auf ihr werden auch wir aus der Bahn getragen. Vorne sein heißt einsam sein. “Einer trage des andern Last”, so wie Jesus, der bei dem Aussätzigen anhielt. Er sah diese Last der Krankheit, streckte seine Hand aus und machte ihn gesund. “Einer trage des andern Last”, so wie Jesus, der sich über den Gelähmten beugte. Er sah die Last der Schuld, hob seine Hand auf und sprach ihm die Vergebung der Sünden zu. “Einer trage des andern Last”, so wie Jesus, der sich neben die Witwe stellte. Er sah die Last des Todes und holte mit seiner Hand den Sohn aus dem Sarg heraus. Das ist die Fußspur Jesu.

Sicher können wir keine Krankheiten heilen, die Schuld nicht wegnehmen und dem Tod kein Paroli bieten. Das geht über unser Leistungsvermögen. Aber das andere können wir: einmal anhalten, uns Zeit nehmen, in Sanftmut, nicht in Hochmut mit einem reden, vielleicht so: “Du, das hätte mir auch passieren können. Dass ich nicht gestolpert bin, ist ein einziges Wunder. Mir schneidet deine Lage ins Herz. Die Last ist schwer, sehr schwer sogar. Ich weiß keinen Menschen, der uns jetzt helfen könnte. Trotzdem gibt es Hilfe. Jesus kann’s machen, ganz machen, neu machen. Willst du’s nicht dorthin tragen? Du, ich fasse mit an. Ich schleppe mit. Gemeinsam müssen wir’s doch schaffen!”

Jesus ist der Lastträger schlechthin, der bereit ist, jedes noch so schwere Gepäck zu schultern. Weil wir ihn auf der Überholspur nicht treffen, deshalb lauft in dieser Spur.

3. In dieser Spur bleiben

Schauen wir noch einmal ins Stadion. Der Lauf dauerte schon eine geraume Zeit. Jeder legte sich ins Zeug und gab sein Bestes. Noch einige Runden standen bevor. Und dann kam jener Augenblick, den jeder Sportler fürchtet: Die Füße werden schwer wie Blei. Die Glieder verkrampfen sich. Der Siegeswille ist wie weggeblasen. Andere überholten. Mitläufer stürmten nach vorne. Gegner rannten dem Ziel zu. Man kämpfte nur noch gegen das eigene Ich, das resignierte “Ich hänge ab, ich gebe auf, ich bleibe stehen” - nicht nur im Stadion:

Unser Lebenslauf dauert schon 20 oder 40 oder 70 Jahre. Wir gehen bis an die Grenze unseres Leistungsvermögens. Noch einige Jahre stehen uns bevor. Und dann kommen jene Augenblicke, in denen wir auch bleischwere Glieder bekommen. Das Herz verkrampft sich. Der Lebenswille ist gebrochen. Andere überholen. Mitmenschen haben die Nase vorn. Zeitgenossen machen das Rennen. Verzweifelt kämpft man gegen sich selbst: “Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende. Ich bleibe stehen.”

Und Paulus sagt: Die Standspur des Lebens ist eine Fehlspur. An dieser Stelle geht es nicht weiter. Zu viele haben zu früh aufgesteckt. “Lasset uns nicht müde werden”, so wie Jesus, der keinen freien Rücken hatte. Ihre Bürde, ihre Sünde, ihre ganzen Lasten hatten sie ihm aufgeschnallt. Er aber ging seines Weges. “Lasset uns nicht müde werden”, so wie Jesus, der keine freie Bahn hatte. Sie warfen ihm Knüppel in den Weg und bauten sogar Hindernisse vor ihm auf. Er aber zog seine Bahn. “Lasset uns nicht müde werden”, so wie Jesus, der trotz seines Querbalkens auf dem Rücken bis zum Ziel durchhielt.

Das ist die Fußspur Jesu. Darin bleibt, auch wenn der Gang schwer wird, auch wenn der Mut sinken will, auch wenn der Wille immer schwächer wird. Wisst, Jesus ist nicht nur als großer Geist einmal gestern vorausgegangen. Er geht heute wieder und wird morgen dabei sein, wenn der Lauf zu Ende ist.

Wir müssen nicht ständig laufen. Wir müssen nicht immer kämpfen. Wir müssen uns nicht ewig quälen. Einmal ist Schluss. Der Text sagt “Ernte”. Einmal ist Ende. Einmal sind wir am Ziel.

“Wenn dann zuletzt ich angelanget bin,
im schönen Paradeis,
von höchster Freud erfüllet wird der Sinn,
der Mund voll Lob und Preis.
Das Hallelujah reine
man spielt in Heiligkeit,
das Hosianna feine
ohn End in Ewigkeit.”

Bis dahin, liebe Freunde, lasset uns in diese Spur treten, in dieser Spur laufen und in dieser Spur bleiben.

Amen.


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]