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Und vergib uns unsere Schuld!

25.03.1990Matthäus 6,12

Einführung in die Betrachtung des Vaterunsers

Wir haben uns in den vergangenen Wochen in der Predigt das Vaterunser als Text vorgenommen, genauer gesagt Matthäus 6. Je mehr wir die einzelnen Bitten des Vaterunsers betrachten, desto mehr bedaure ich, dass wir es nicht noch weiter zerlegt haben.

Heute würde ich gern die zwei Abschnitte noch einmal in getrennten Predigten behandeln. Ich denke, dass es uns am nächsten Sonntag erst recht so gehen wird, dass man das kaum in einer Predigt zusammenfassen kann. Leider haben wir dann auch den großen Lobpreis.

Nicht weil dann die Passionszeit beginnt, wollen wir heute diese Bitte hören: Vers 12 im sechsten Kapitel des Matthäusevangeliums. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.“

Herr, du musst uns das Beten lehren. Amen.

Die Herausforderung moderner Schuldverständnisse

Es sind ja moderne Zeiten, in denen wir leben, und ich liebe vieles, was modern ist. Wir profitieren von der modernen Kommunikation, von den modernen Verkehrsmitteln und vom bequemen Leben, das uns durch zahlreiche technische Errungenschaften geschenkt wird. Wir sind Kinder unserer Zeit, moderne Menschen.

Doch gerade diese modernen Menschen haben eine Not, die sie oft gar nicht richtig wahrnehmen. Sie haben keinen Ort mehr, an dem sie ihre Schuld ablegen können. Dem Menschen von heute wurde ja eingeredet, es gäbe keine Schuld. Schuld – ach, was soll das denn sein, wenn wir jetzt davon sprechen? Sie haben das sicher auch schon gehört. Dann reagieren manche ärgerlich oder gereizt und sagen: „Ach, was machst du denn da? Jeder ist so, wie er geboren ist. Der Mensch lebt von seinen Veranlagungen und wird geprägt von seiner Umgebung, von seiner Umwelt. Was heißt denn Schuld? Da mag es Fehlverhalten geben, aber jeder muss mit seinem Fehlverhalten selbst fertig werden.“

Das wurde schon häufig auch von den Kanzeln gepredigt, dass das Thema Schuld heute nicht mehr interessant sei. In unserem Pfarrerblatt erschien ein großer Artikel mit dem Titel „Es sei so schwierig, an Karfreitag zu predigen“, weil der Karfreitag seinen Sinn verloren habe, da die Menschen nicht mehr nach der Vergebung der Schuld fragten.

Was machen wir jetzt? Ich würde umgekehrt fragen: Was macht denn der moderne Mensch, wenn er keine Vergebung der Schuld mehr hat? Denn wenn Gott uns in sein helles Licht stellt, dann erwacht plötzlich Schuld, auch bei modernen Menschen. Und wohin gehe ich dann mit dieser Schuld?

Schuld kann man nur im Licht Gottes entdecken, und genau das tut Gott. Ich bin überzeugt, dass heute Morgen Menschen hier sind, die von Schuld umgetrieben werden. Sie erinnern sich an Dinge, die weit zurückliegen. Sie wagen nicht, mit anderen darüber zu sprechen, weil sie sich für ihre Schuld schämen. Und diese Schuld hat ihr Leben längst zerstört und vergiftet.

Die Zumutung der Vergebung

Lassen Sie mich heute über die Vergebung der Schuld sprechen. Zunächst einmal: Vergebung ist eine ungeheure Zumutung. Vergebung ist wirklich eine enorme Herausforderung.

Jetzt möchte ich den Blickwinkel ändern. Wenn wir von Vergebung sprechen, wer kann überhaupt verstehen, dass es so etwas geben kann? Ich muss nun ausholen, um Ihnen das Ungeheuerliche überhaupt deutlich zu machen.

Simon Wiesenthal, der die Nazi-Verbrecher gejagt hat, hat ein Buch geschrieben, das den merkwürdigen Titel „Sonnenblumen“ trägt. Darin erzählt er, wie er 1942 als KZ-Insasse Abgeordneter war und in ein Lazarett kam, um dort Außenarbeiten in Lemberg zu verrichten. Während er mit dieser Sträflingstruppe bei der Arbeit war, kam eine deutsche Krankenschwester zu ihm und sagte: „Sie sind doch Jude, kommen Sie mit!“ Sie führte ihn in ein Krankenzimmer, in dem ein sterbender SS-Mann lag. Dieser Mann war, so steht es im Buch, aus Stuttgart.

Mit letzter Kraft sprach der SS-Mann zu Simon Wiesenthal. Er erzählte, dass er Abgeordneter mit seiner Truppe war, als Juden in ein Haus eingesperrt wurden. Dann kam ein Lastwagen mit weiteren alten Menschen, die ebenfalls in dieses Haus gebracht wurden. Danach warfen sie Handgranaten hinein und gossen Benzin aus. Die Menschen stürzten schwer verletzt ins Freie.

Der junge SS-Mann saß an seinem Maschinengewehr und sagte im Sterben: „Ich habe noch eine Mutter vor Augen, die mit ihrem kleinen Baby auf dem Arm herausstürzte, und ich musste schießen!“ Simon Wiesenthal berichtet, dass in ihm ein massloser Hass aufstieg. Doch der sterbende SS-Mann sagte: „Sie sind doch Jude, ich wollte einen Juden sprechen, der mir jetzt vor den Toren des Todes vergibt.“

Simon Wiesenthal drehte sich wortlos um und ging hinaus. Der Mann starb am nächsten Tag. Diese Begegnung machte Wiesenthal sehr zu schaffen. Er konnte nicht vergeben – wie sollte man auch vergeben können?

Später hat er diese Geschichte, die sich in einem Feld der Sonnenblumen in Polen abgespielt hatte, 43 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vorgelegt. Darunter waren Literaten und Politiker wie Martinie Müller, Stefan Andres, Golo Mann, Leopold Senghor, Afrikaner und Karl Zuckmayer. Er bat sie um eine Antwort auf die Frage, wie sie an dieser Stelle reagiert hätten.

Diese Antworten hat er in seinem Buch veröffentlicht, das den Titel „Von Schuld und Vergebung“ trägt. Vor Jahren hat mir jemand dieses Buch ausgeliehen und bis heute nicht zurückgegeben. Das ist auch ein Beispiel unvergebener Schulden. Das tut mir immer weh. Nach vielen Jahren hätte ich das wertvolle und teure Buch gern wieder – es ist leider nicht mehr erhältlich. „Von Schuld und Vergebung“.

Die Unmöglichkeit der Vergebung aus menschlicher Sicht

Und erschütternd ist, wie manche sagen: Das kann es doch gar nicht geben. So schreibt zum Beispiel der Philosoph der Frankfurter Schule, Marcuse: Das ist im höchsten Maße unwürdig und unanständig, als könnte der Henker sein Opfer um Vergebung bitten.

Man kann nicht vergeben, sagen diese großen Moralisten unserer Zeit. Das gibt es doch gar nicht. Wie soll das je vergeben werden können? Die meisten meinen, nur derjenige, an dem gesündigt wurde, kann vergeben. Ein anderer könne dich nie von dieser Last entbinden.

Und jetzt lesen wir in der Bibel, dass Gott dieses Unmögliche tut. Er bietet Vergebung an. Gott trennt zwischen meiner Person und der Schuld. Er sagt: Ich nehme dir diese Schuld weg, die doch ein Teil deines Wesens war.

Da haben die Psychologen Recht, wenn sie sagen, dieses Tun ist so in mir drin, es ist ein Teil meines Wesens. Und Gott sagt: Ich kann sogar dies tun. Ich kann dir dieses Böse, dieses Unreine wegnehmen. Ich will vergeben und dich freimachen.

Die Bitte um Vergebung im Vaterunser

Wir dürfen im Vaterunser beten: „Und vergib uns unsere Schuld.“

Was bedeutet das? Sind damit Untaten aus dem Krieg oder aus der Nachkriegszeit gemeint?

Ich merke bei den Sünden meines Lebens, dass sie genauso schwer zu vergeben sind. Das Unrecht, das ich meinen Eltern angetan habe – jetzt sind sie tot. Wer kann mir dafür vergeben?

Die Spannungen in unseren Familien, dort, wo wir anderen Menschen Unrecht getan haben – wer kann mir das wegnehmen? Geschehen ist geschehen. Wer kann die Vergangenheit bewältigen?

Das Wort „Vergangenheit bewältigen“ scheint unmöglich. Es ist ein Begriff, den nur der emanzipierte, tollkühne, moderne Mensch geprägt hat, als ob man die Vergangenheit wirklich bewältigen könnte.

Wie soll ich Vergangenes gutmachen?

Gott kann vergeben – das ist eine ungeheure Zumutung.

Die verdrängte Schuld unserer Zeit

Aber nun zum zweiten Thema: Schuld, das Problem unserer Tage.

Wir haben die Schuld oft verdrängt. Heute hört man immer wieder: Schuld, lasst uns nicht mehr davon reden. Lasst uns Neues wagen, eine neue Welt bauen – eine gerechte Welt, eine friedvolle Welt, eine umweltbewusste Welt. Doch die Schuld ist ja da.

Wenn ich die Zeitung aufschlage, frage ich mich, ob überhaupt eine Generation vor uns so viel über Schuld gesprochen hat. Es ist nicht unheimlich, wie jeden Tag in der DDR wieder aufgedeckt wird, wer damals seinen Namen bei der Stasi geschrieben hat. Das ist ein dummes Unterfangen. Es gab ja keinen Freiraum. Jeder, der dort leben und Verantwortung tragen wollte, auch in der Kirche, musste seine Berichte an die Stasi schreiben. Das wissen Sie doch.

Im totalitären Staat gab es keine unkontrollierte Zone. Aber heute ist man gnadenlos. Noch vor ein paar Wochen hat jeder versucht, gute Beziehungen zu den Herrschenden dort drüben zu pflegen. Heute ist man gnadenlos, als ob es genügte, dass nur der Name auftaucht. Man ist auch gnadenlos beim Aufdecken der Verfehlungen der Generation der Väter.

Was, du warst im Krieg, mein lieber Vater? So einer bist du? Die Generation der Mörder! Ist das nicht oft selbstgerecht, wenn man mit dem Finger zeigt?

Manchmal bin ich auch traurig über unser Losungsbüchlein. Sie kennen unser schönes Losungsbüchlein mit den Bibelworten; das können wir uns ja nicht wegdenken. Aber gestern stand wieder so ein Vers darin. Das ist ja irgendein Redakteur dieses Losungsbüchleins, der uns immer wieder solche Verse unterschiebt.

Da war ein Gebet, in dem man auf seltsame Weise Gott bittet um Verzeihung, dass man in diesen schwierigen Zeiten heute lebt. Und dann heißt es: „Ich möchte mich mehr ärgern über die Ungerechtigkeiten unserer Zeit.“ Was, noch mehr? Ich will mich ärgern über meine Verfehlungen! So war früher das Losungsbüchlein, und das ist die Sprache der Bibel.

Das andere ist der moderne Mensch, der immer nur die Fehler der anderen sieht. Ich will mich ärgern über meine Schuld.

David hat sich auch einmal entrüstet über die schrecklichen Verbrechen seiner Zeit. Dass wir in so schlimmen Zeiten leben, sagt er. „Es ist doch schlimm, Nathan!“ Da sagt Nathan zu ihm: „Du bist der Kerl, du bist der Schurke. Du brauchst nicht mit dem Finger auf andere zeigen.“

Jesu Umgang mit Schuld und Vergebung

Und in unseren Tagen kann man nicht über Schuld sprechen, ohne daran zu denken, wie wenig Jesus in seiner Zeit versucht hat, den stolzen, selbstgerechten Menschen Schuld zu demonstrieren. Jesus ging an Menschen vorüber, deren Gewissen nicht wach war.

Es mag sein, dass das Evangelium für viele heute nicht mehr verständlich ist. In diesem Fall hat Gott dieser Welt den Sinn verblendet, sodass sie es nicht mehr verstehen können. Doch Jesus wandte sich den müden, zerschlagenen und zerbrochenen Herzen zu und verkündete ihnen Vergebung.

Ich will diesen Dienst tun – zur rechten und zur unzeitigen Stunde – und von der Vergebung sprechen. Wenn wir jetzt fragen, wie Vergebung überhaupt möglich sein kann, dann sprechen wir vom unbegreiflichen Geschehen, dass Jesus, der Sohn Gottes, am Hügel Golgatha am Kreuz stirbt.

Als Sterbender betet er noch: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Vergebung ist das Grundproblem der Menschheit. Die Menschen können Gott nicht finden, weil sie durch ihre Verfehlungen und Sünde ausgeschlossen sind.

Die Notwendigkeit der Sühne und das Wesen der Schuld

Lassen Sie mich noch einmal den Stimmen Raum geben, die jetzt sagen: Braucht Gott wirklich eine Stellvertretung? Ist denn wirklich Blut nötig?

Menschen, die die Größe ihrer Schuld nicht erkennen oder nicht wahrhaben wollen, können so theoretisch reden und zu Gott sagen: Ist das nötig? Sie wollen uns einreden, dass das alte Vorstellungen seien, als ob Sühne nötig wäre. Doch nur wenige Minuten später sprechen sie selbst davon, dass endlich die Verbrechen der Vergangenheit gesühnt werden müssen.

Wie wollen sie denn sühnen? Wie kann man das Geschehen der Vergangenheit bewältigen, indem man Menschen ins Gefängnis sperrt? Wird damit wirklich etwas gesühnt? Wie wollen sie überhaupt sühnen?

Die Erinnerung ist lebendig: Unsere Übertretungen haben nicht nur die Beziehung zum Mitmenschen und zu dem, an dem wir gesündigt haben, zerstört. Hier wurde ein Weltzusammenhang zerstört. Mit meiner Schuld ist auch die Gemeinschaft mit dem ewigen Gott zerbrochen.

Mit den bösen Worten, die ich gesprochen habe, mit dem eigensinnigen Aufbegehren in meinem Leben, mit Trotz, Hass und Bitterkeit – da habe ich doch gegen Gott gehandelt. Ich habe mein Leben selbst in die Hand genommen. Gerade das ist Sünde und Schuld. Die einzelnen Taten sind nur eine Folge davon.

Darum ist es so wichtig, dass es Sühne gibt. Über der Schuld können wir nur feststellen, wie erbärmlich das Menschenleben ist. Auch der moderne Mensch sollte wieder lernen, über seiner Schuld zu stehen.

Wir stolzen Menschenkinder sind eitel, arme Sünder und wissen nicht viel. Und ich möchte mich nie genieren, auch vor den Publizisten und Philosophen unserer Tage zu sagen: Nur eines ist mir groß in meiner ganzen Theologie. Sein Kreuz bedeckt meine Schuld, sein Blut macht mich hell und rein.

Vor meinem Leben gibt es sonst nicht viel zu sagen, außer dass Jesus für mich starb und meine Schuld endgültig getragen hat. Sie dürfen heute ihre Schuld unter dem Kreuz Jesu ablegen. Sie ist in die Tiefe des Meeres geworfen, was auch immer sie sein mag – Schuld auch auf dem Sonnenblumenfeld von Lemberg.

Keine Sünde ist so groß, dass sie nicht bei Gott vergeben werden könnte. Gott will vergeben und reinmachen.

Die Einzigartigkeit der christlichen Vergebung

Und wenn wir heute über die Religionen sprechen, müssen Sie wissen: Es gibt keine Religion, die das Problem der Schuld so verstanden hat wie der christliche Glaube.

Die Juden brauchten eine Offenbarung Gottes, um über Schuld zu sprechen. In allen anderen Religionen – im Hinduismus, im Buddhismus, im Animismus – wird Schuld meist so verstanden, dass man sie selbst irgendwie lösen kann. Doch eine wirkliche Antwort darauf gibt es nicht.

In diesen Religionen können sich Menschen in Bäder senken, sich waschen und reinigen, aber sie erhalten keine Vergebung. Fragen Sie die Religionen, ob sie wissen, was die größte Schuld ist. Die Azteken zum Beispiel schnitten jungen Männern bei lebendigem Leib das Herz heraus, um Gott zu versöhnen. Doch es gab keine wirkliche Versöhnung.

Dann kommt Gott ins Spiel und spricht zu Abraham. Gott lässt Tiere opfern. Das ist nur ein Hinweis auf die zukünftige Versöhnung und Vergebung. Schon im Alten Testament wird beschrieben, wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt und vergibt.

In Jesus Christus wird das Thema auf die Spitze getrieben. Jesus hat nur ein Ziel: Gott versöhnt die Welt mit sich selbst. Doch viele Menschen verschließen die Ohren und sagen: „Ich brauche das nicht.“ So lehnt eine verlorene Welt, die auf dem Weg zur Hölle ist, ihre Rettung ab.

Jesus hat uns gelehrt zu beten: „Vater, vergib.“

Die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und die Notwendigkeit der Vergebung

Man kann Schuld leugnen, so wie es unsere selbstgerechte Generation oft tut. Auch wir Christen handeln manchmal heuchlerisch und leugnen unsere Schuld. Dabei verhalten wir uns anderen gegenüber überheblich.

Wir wollen doch Menschen sein, die in jedem Gottesdienst immer wieder auf das Thema Schuld und den Gekreuzigten zu sprechen kommen. Jesus stirbt für unsere Schuld, denn diese wirkt verhängnisvoll in unserem Leben weiter.

Ich kann das nur mit einem Bild verdeutlichen: radioaktiver Atommüll. Früher dachte man, man könne ihn einfach irgendwo unter die Erde vergraben und mit etwas Humus bedecken. Niemand würde merken, dass die Strahlung nach Jahren so tödlich wird. Ähnlich ist es mit unserer Schuld. Oft vergessen wir sie oder verdrängen sie, und wir können darin wahre Wunder leisten. Wir sagen: „Das bewegt mich nicht.“ Doch wir haben Unrecht getan, andere Menschen übervorteilt, gelogen, fremdes Gut in Besitz genommen und mit einem verführerischen Blick die Treue gebrochen.

In der Gemeinde versuchen wir, uns das Leben zu erkaufen. Doch Jahre später liegt diese Schuld wie eine schwere Gewissenslast auf uns. Viele Menschen können kaum durch die Tür einer Kirche treten, weil die alte Schuld so tief in ihnen arbeitet.

Ich bitte Sie jetzt, diese Last abzulegen. Denn diese todesstrahlende, belastende Schuld ist nur dort vergeben, wo Jesus Sühnung darüber gebracht hat. Sie ist vergeben, vergessen und ausgeräumt. Niemand soll mehr davon sprechen, und am Jüngsten Tag wird nicht mehr davon geredet, was heute im Namen Jesu vergeben ist.

Ich will Ihnen Schuld vergeben – im Namen Jesu, weil Jesus für Sie gestorben ist.

Die Kraft des Glaubens an die Vergebung

Sie brauchen sich nicht selbstgerecht etwas von ihrer Herzensgüte einzureden. Stattdessen dürfen Sie den Glauben erfassen.

Für mich floss dieses kostbare Blut. Ich erfasse den Glauben daran, denn es macht auch meinen Schaden wieder gut. Jesus starb für mich.

Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde.

Die Verantwortung zur Weitergabe der Vergebung

Noch ein letztes: Das macht mein Leben neu.

Es macht mein Leben neu, dass wir jetzt andere an der Vergebung teilhaben lassen. Vorhin habe ich mich gefreut, wie Markus Ringeisen in der Schriftlesung das so gesagt hat. Dort stand nicht „Schalzknecht“, sondern „Schurke“.

Daran hatte ich vorher gar nicht gedacht. Aber man muss es oft mit einem neuen Wort ausdrücken, damit einem richtig bewusst wird, was das bedeutet: Schurke sein.

Ein Schurke ist jemand, der von der Vergebung lebt, sie aber nicht umsetzt und anderen nicht praktisch spüren lässt.

Beispiel aus der Gegenwart: Vergebung als Neuanfang

Vor kurzem gab es eine Fernsehdiskussion, zu der auch mein Freund Uwe Holmer eingeladen wurde. Wir haben ihm erst kürzlich durch Hilfe für Brüder Unterstützung zukommen lassen. Er hatte den großen Wunsch, zur Weltkonferenz nach Manila zu reisen. Er war der einzige aus der DDR, dessen Teilnahme am Weltkongress für Evangelisation wir finanziert haben.

Uwe Holmer ist der Pastor, der Erich und Margot Honecker in seinem Pfarrhaus aufgenommen hat. Was mich erschütterte, war, wie die Menschen in der Diskussion über ihn sprachen. Sie machten ihn lächerlich, als wäre er ein kranker Mann oder jemand, der etwas verbergen oder verschleiern wollte. Dabei konnten seine Söhne nicht einmal studieren, obwohl sie das Abitur hatten, weil sie nicht parteikonform waren. Holmer ist ein Mann, der vierzig Jahre lang unter dem System gelitten hat wie kaum ein anderer. Wer den Kampf um die Jugendweihe noch kennt, weiß, wovon ich spreche.

Dann saßen plötzlich junge Männer im Rollkragenpullover da und redeten über ihn, als ob man mit solchen Menschen keine neue Welt aufbauen könne. Holmer sagte dazu: „Ich möchte den Gerichten nicht vorgreifen, aber wir Christen wissen, dass ein Neuanfang immer von der Vergebung ausgehen muss. Das bedeutet nicht, dass man deshalb alles ungestraft lässt. Zur Vergebung gehört auch das Bekenntnis der Schuld und Reue.“

Wir wissen ja gar nicht, was dort gesprochen wurde oder wird. Und das geht auch niemanden etwas an.

Ein historisches Beispiel für Vergebung

Die Menschen wurden an den 24. Juni 1924 erinnert, als in Deutschland der Außenminister Walter Rathenau gerade ein halbes Jahr im Amt war. Er verfolgte eine große Außenpolitik, die mit der Aussöhnung in Rapallo begann. Die Historiker unter Ihnen erinnern sich daran.

Rathenau wurde von einem dieser Terroristen erschossen. Es waren zwei Terroristen, die ihn gejagt hatten. Einer der Verantwortlichen dieses Attentats sagte 25 Jahre später, es sei nur ein pubertäres Bubenstück gewesen. So gehe die Welt über solche Untaten hinweg.

Doch die Mutter Rathenaus, eine großartige Frau, schrieb der Mutter des Mörders einen Brief. Darin heißt es: „Im namenlosen Schmerz reiche ich Ihnen, Sie Ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, dass ich im Namen und Geist des Ermordeten vergebe, wie Gott ihm vergeben möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein volles, offenes Bekenntnis ablegt und vor der göttlichen Gerechtigkeit bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet. Mögen diese Worte ihrer Seele Frieden geben.“

Noch wunderbarer ist es, wenn man im Namen Jesu vergeben kann, nicht nur im Namen des Sohnes. Wenn man wirklich sagen kann: „Das soll in mir nicht wieder Hass wecken.“

Die Kraft der Vergebung für den gesellschaftlichen Neuanfang

Es war eindrucksvoll, in der Diskussion über die DDR, die im Fernsehen übertragen wurde, wie einer der Psychologen sagte: Nein, dieser Zorn, dieser Hass, der jetzt gegen die alte Stasimacht frei wird, schafft eine neue Gesellschaft. Ja, wieder eine Gesellschaft, die jedoch nicht anders ist als die alte Gesellschaft.

Wir wollen nicht warten, bis unsere Gesellschaft neu wird. Christus ruft uns dazu, neue Menschen zu werden, in denen sein Heiliger Geist wirkt. Menschen, die handeln, so wie er uns vergeben hat. Dieses Handeln soll in der Familie, in der Nachbarschaft, unter den Kollegen und überall dort, wo wir sind, sichtbar werden.

Das sind Menschen, die Liebe pflanzen und weitergeben – eine Revolution des Lebens, in der neue Kräfte lebendig werden. Ich freue mich, dass in solchen Tagen wieder sichtbar wird, dass es uns nicht ums Christentum geht, sondern um die Nachfolge Jesu.

Wer diese Nachfolge lebt, bleibt ein Einzelgänger und wird oft unverstanden bleiben. Doch er ist auf der Spur des neuen Lebens, auf der Spur des Auferstandenen.

Aufruf zum Neuanfang durch Vergebung

Machen Sie heute den Schnitt, legen Sie Ihre Schuld ab und beginnen Sie dieses neue Leben!

Fritz Woike hat einen schönen Vers gedichtet:

Bleibt nicht im Schmerz, wenn heiß die Reue brennt.
Gott will nicht Buße, die nur Tränen kennt,
die Schuld bekannt und von ihr weggeschaut,
zu Gottes Hand, die neue Brücken baut.

Was Gott vergibt, ist ewig abgetan,
glaub sein Wort, fang neu das Leben an.
Und auf das Fels streu mutig deine Saat,
denn Buße führt aus Tränen still zur Tat.

Amen.