Ich freue mich, dass wir unsere Reihe nun tatsächlich abschließen können. Es hat ein wenig länger gedauert als ursprünglich geplant.
Wer von Anfang an dabei war, weiß, dass die Dynamik des geistlichen Lebens unser Thema war. Auch heute möchte ich noch einmal den zweiten Petrusbrief, Kapitel 1, Verse 5 bis 8 vorlesen, damit wir das Wichtigste noch einmal vor Augen haben.
Eben deshalb wendet allen Fleiß auf und ergänzt euren Glauben mit Tugend, in der Tugend aber die Erkenntnis, in der Erkenntnis die Enthaltsamkeit, in der Enthaltsamkeit das Ausharren, in dem Ausharren die Gottesfurcht, in der Gottesfurcht die Bruderliebe, in der Bruderliebe aber die Liebe. Denn wenn diese Dinge bei euch vorhanden sind und zunehmen, werden sie euch im Hinblick auf die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus weder träge noch fruchtlos sein.
Ich glaube, ihr könnt den Text langsam nicht mehr hören, denn ihr habt ihn jetzt jedes Mal gehört. Ein letztes Mal möchte ich darauf hinweisen, dass wir im geistlichen Leben tatsächlich dazu berufen sind, Frucht zu bringen. Dabei geht es nicht nur um gute Werke, sondern ganz besonders – vielleicht sogar vorrangig – um den Bereich, den ich Christuserkenntnis nennen möchte. Oder, wie Petrus es ausdrückt, um die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus.
Die Erkenntnis des Herrn Jesus Christus basiert stark darauf, dass wir einen Lebensstil entwickeln, der es dem Heiligen Geist erlaubt, uns Stück für Stück zu verwandeln. Dabei geschieht die Veränderung in der Geschwindigkeit und mit den Prioritäten, die der Heilige Geist selbst setzt. So werden wir nach und nach mehr und mehr in das Bild Christi verwandelt. Charakterveränderung ist ein Ausdruck dessen, was der Geist Gottes in uns schaffen will, damit wir dem Herrn Jesus immer ähnlicher werden.
Das ist das große Ziel und wahrscheinlich auch das große Vorrecht geistlichen Lebens. Beim letzten Mal ging es um Gottesfurcht oder Frömmigkeit, um die Frage, wie ich dem Herrn Jesus ganz persönlich begegne. Heute geht es darum, wie wir Menschen begegnen – zuerst in der Gemeinde und dann in der Welt.
Ich möchte zwei Themen behandeln: Bruderliebe und Liebe. Noch einmal: 2. Petrus 1, Verse 5 und 7. Dort heißt es: „Wendet aber allen Fleiß auf und reicht … in der Gottesfurcht aber die Bruderliebe, in der Bruderliebe aber die Liebe dar.“
Petrus merkt dabei, dass dieser Zyklus nun geschlossen ist. Er endet mit Bruderliebe und Liebe.
Eine enge Beziehung zu Gott zeigt sich immer auch daran, dass ich einen Blick für Menschen entwickle. Wenn ich Gemeinschaft pflege mit einem Gott, der Menschen liebt und der mir selbst ein Vorbild ist – zum Beispiel in Fürbitte, im Vergeben oder darin, wie er Menschen unterstützt und ihnen geholfen hat –, dann kann es gar nicht anders sein, als dass ich durch diesen Umgang mit Gott ein Verantwortungsgefühl für Menschen entwickle.
Ich begreife mich als Teil einer Gemeinschaft mit einem Auftrag. Ich gehöre zu einer Familie, der Familie Gottes, die sich untereinander liebt. Diese Liebe ist aber nicht nur für die Gemeinschaft selbst bestimmt, sondern soll auch an andere draußen weitergegeben werden.
Daher kann ich kaum eine innige Beziehung zu Gott pflegen, ohne dass in mir der Wunsch entsteht, meinen Geschwistern zu dienen und das zu tun, was Jesus getan hat. Das bedeutet, diese Welt mit dem Evangelium zu erreichen – genauso, wie es auch sein Wunsch ist. Das funktioniert eigentlich nicht ohne Bruderliebe, ohne Liebe.
Beginnen wir mit dem Ersten, der Bruderliebe, die auch unser Schwerpunkt sein wird. Bruderliebe bezeichnet die Liebe zu den geistlichen Geschwistern. Wenn ich mich bekehre, werde ich mit der Bekehrung Teil einer neuen Familie. Das Besondere daran ist: Diese Familie suche ich mir nicht aus. Doch das macht sie nicht weniger real. Im natürlichen Leben ist es ja genauso: Man sucht sich seine Familie nicht aus.
In 1. Korinther 12,13 heißt es: „Denn in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt worden.“ Ein Geist, ein Leib – damit ist die Gemeinde gemeint. Wir sind zu einem Leib berufen. Aus diesem Einssein macht mich jemand eins mit anderen. Aus diesem Einssein erwächst dann ein Miteinander – ein Leib, viele Glieder.
Ich betone das gerne immer wieder: Im Reich Gottes gibt es keinen Solo-Glauben, der Gott gefällt oder der der Idee von Gottes Gemeinschaft entspricht, so wie er sich Gemeinschaft wünscht. Es gehört wohl zu den Verrücktheiten des modernen Individualismus, genau das zu glauben – man könne seinen Glauben allein leben.
Mein Eindruck ist, dass wir sogar mehr Gemeinschaft brauchen, als allgemein akzeptiert wird, definitiv jedoch nicht weniger. Ja, ich weiß, man kann sich ins Private zurückziehen. Ich glaube, das ist gerade sehr aktuell. Ich erlebe immer wieder diesen Mangel an Bruderliebe. Das sind dann Geschwister, die denken: „Ich brauche die anderen nicht.“ Aber das stimmt nicht.
Es gibt Lügen, die sich gerne einschleichen. Eine davon ist: „Ich kann meinen Glauben auch alleine leben. Ich kriege das schon hin. Die anderen können mir gar nicht so viel geben, als dass ich mich ständig mit ihnen auseinandersetzen müsste.“ Das Problem ist – und das ist wirklich immer das Gleiche –, wenn die Bibel etwas anderes sagt, kann ich das zwar denken, aber es wird mich nirgendwo hinbringen, wo es gut ist.
Im ersten Korintherbrief Kapitel 12 wird über die Idee gesprochen: „Ich brauche den anderen nicht.“
In Vers 21 heißt es: Das Auge kann nicht zur Hand sagen: „Ich brauche dich nicht.“ Oder das Haupt zu den Füßen: „Ich brauche euch nicht.“ Gerade die Glieder des Leibes, die schwächer zu sein scheinen, sind notwendig. Merkt ihr das? Die Gemeinde ist wie ein Leib. Gerade die, von denen man sagt, auf die können wir verzichten, weil sie nur Arbeit machen, sind die, die Paulus als genauso wichtig, sogar notwendiger bezeichnet.
Wir brauchen einander. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Vorstellung, den Glauben als Privatsache zu leben und Gemeinde sei nur ein Hobby, das man machen kann oder nicht, ist falsch. Diese Idee ist verführerisch, aber total falsch.
Das sage ich als jemand, der praktisch unter Geschwistern und ihrer Art leidet. Ich möchte mich oft aus der Gemeinde zurückziehen, denn ich bin kein Gruppentier. Aber ich weiß genau, das wäre falsch. Die Idee „Ich brauche die anderen nicht, ich habe meinen Glauben, meine Bücher und meine Aufgabe, das reicht“ ist verlockend, aber ich weiß, dieser Idee darf ich nicht nachgeben.
Denn Rückzug aus der Gemeinde – egal wie begabt man sich fühlt oder wie sehr man denkt, die anderen nicht zu brauchen – ist das Gegenteil von dem, was Gott sich wünscht. Ganz einfach: Gott erschafft Gemeinschaft, damit wir in einer Gemeinschaft lernen, uns umeinander zu kümmern. Damit wir lernen, wie es geht, sich zusammen zu freuen, sich für andere zu öffnen und auch mit dem anderen zu leiden.
Deshalb heißt es hier noch einmal in 1. Korinther 12,24-26: „Aber Gott hat den Leib zusammengefügt.“ Merkt ihr das? Gott hat den Leib zusammengefügt, damit keine Spaltung im Leib sei, sondern die Glieder dieselbe Sorge füreinander haben, sich füreinander sorgen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit. Oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit.
Merkt ihr das? Fürsorge, Mitleid und gemeinsames Freuen – das findet sich in der Gemeinde. Und im Hintergrund einer Gemeinde, die genau das lebt, steht die Bruderliebe.
Ich lebe das, was ich aus dem Mund des Herrn Jesus höre. Ihr kennt diese Verse, und ich denke, viele von euch haben sie auswendig gelernt, weil sie so zentral sind: Johannes 13,34-35. Dort sagt der Herr Jesus, kurz bevor er gefangen genommen wird und stirbt, zu seinen Jüngern: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt.“
Das ist interessant. An unserem Umgang miteinander werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Ich gebe euch ein neues Gebot. Das Gebot ist übrigens nicht dahingehend neu, dass man sich lieben soll. Das steht auch schon im Alten Testament. Dort lesen wir in 3. Mose 19,18: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Jetzt stellt sich die Frage: Warum ist es trotzdem ein neues Gebot? Die Antwort lautet, weil die Qualität, mit der Jesus Liebe einfordert und uns selbst vormacht, eine ganz andere ist als das, was wir normalerweise unter Liebe verstehen würden.
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“? Na ja, es gibt eine Liebe, die hofft, beim Lieben wiedergeliebt zu werden – dass es diese eine Hand ist, die die andere wäscht. Das kann jeder. Und Jesus sagt, das ist nicht das, was ich von euch fordere. Was ich von euch gerne hätte, ist die „Ich gehe für dich ins Kreuz“-Liebe. Das ist eine andere Qualität. Sie ist so neu, so göttlich und so überweltlich, nicht mehr irdisch, dass er wirklich sagen kann: Ja, das ist das, was ich will. Das ist das, worin ihr einen Unterschied machen werdet.
Im ersten Johannesbrief heißt es dann: „Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass er für uns sein Leben hingegeben hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben.“ (1. Johannes 3,16)
Und jemand hat mal gesagt: „Na ja, das braucht ja immer so ein bisschen, bis so eine Gelegenheit kommt, dass man für einen anderen stirbt. Was kann ich denn machen bis dahin?“ Da muss man nur einen Vers weiterlesen. Dort heißt es in Vers 17: „Wer aber irdischen Besitz hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?“
Also, wenn du heute nicht für deine Brüder sterben kannst, vielleicht gibt es einen anderen Mangel, den du schon mal in der Zwischenzeit irgendwie ausgleichen kannst – einfach nur, weil du sie lieb hast.
Ich mag den Gedanken, die Gemeinde als ein Trainingscamp zu sehen, in dem man Liebe lernt – und zwar eine Liebe, so wie der Herr Jesus sie uns vorgemacht hat. Eine sich verschenkende Liebe, eine Liebe, die von sich wegschaut.
Diese Liebe bringt mich dazu, mich bewusst in eine Gemeinschaft einzugliedern, die Gott für mich ausgewählt hat. Er hat diese Gemeinschaft ausgewählt, damit ich im Rahmen dieser Gemeinschaft Liebe lerne. Und weil ich das lerne, kann ich dieser Welt etwas zeigen. Ich kann ihr etwas von der Liebe zeigen, die Gott für diese Welt hat.
Wenn ich lerne zu lieben, dann kann ich die Welt darauf hinweisen, dass es da einen anderen gibt, der sie vom Kreuz her noch viel mehr liebt. Und das ist das Entscheidende.
Gemeinde ist, wisst ihr, was ein Inkubator ist? Ein Brutkasten. Gemeinde ist so ein Brutkasten. Es ist ein Ort, an dem man Liebe lernen kann. Dort formt Gott mich, indem er mich mit anderen, teils komischen Menschen zusammenstellt. Diese Menschen sind einerseits Vorbild für mich und andererseits eine Herausforderung. Beides ist ja irgendwie da.
Deshalb ist das Gegenteil von Bruderliebe jedes Verhalten, das mich nicht aktiv Teil der Gemeinde und Gemeinschaft sein lässt. Wenn ich aus der Gemeinde, aus der Gemeinschaft herausstrebe, warum auch immer, dann werde ich immer Bruderliebe verlassen.
Ich denke, wenn man über diesen Aspekt nachdenkt, dann hat man im Wesentlichen zwei Aspekte vor Augen: den Aspekt der Selbstdarstellung und einen Aspekt, den man Stillstand nennen könnte. Ihr werdet gleich merken, was ich meine.
Also, das Gegenteil von Bruderliebe ist Selbstdarstellung. Das hat niemals etwas mit Bruderliebe zu tun. Dort, wo Gemeinde für mich zur Bühne wird, wo ich mich präsentiere, mich verwirkliche oder meine Sehnsucht danach auslebe, gesehen und gemocht zu werden – oder vielleicht auch Dominanz – dort findet keine Bruderliebe statt.
Ganz einfach deshalb, weil es in der Bibel heißt: Niemand suche das Seine, sondern das des Anderen. Gemeinde darf für mich also niemals der Ort sein, an dem sich mein Ego breitmacht. Wenn das passiert und man die Bibel danach untersucht, was dann geschieht, welche Menschen das sind und was in der Gemeinde passiert, wenn das Ego sich ausbreitet, wenn die Bruderliebe zurücktritt und das Ich nach vorne kommt, dann sind das Dinge wie Streitereien, neidisches Gezicke, Schlechtreden, Anspruchsdenken, Klickenbildung, provokantes Auftreten, unnötiges Beharren auf der eigenen Sichtweise, kein Dienenwollen und kein Interesse daran, wie es den Geschwistern geht.
Dann wird getaktet, Strippen werden im Hintergrund gezogen, und man ordnet sich nicht der Leiterschaft unter. All das sind Aspekte davon, dass sich jemand darstellen will und Gemeinde zur Bühne macht. Noch einmal: Es tritt das Wir zurück, und das Ich kommt nach vorne. Wenn das passiert, hat man es nie mit Bruderliebe zu tun.
Ein zweiter Aspekt ist der Stillstand. Das klingt vielleicht erst einmal komisch, aber Bruderliebe kann auch dort nicht gedeihen, wo ich auf Geschwister treffe, die sagen: „Ich lasse mich nicht auf geistliches Wachstum ein.“ Ist euch aufgefallen, dass in diesem Zyklus die Bruderliebe nach der Gottesfurcht kommt und nach einigen anderen Aspekten des Glaubens, von denen es ebenfalls heißt, sie müssen vorhanden sein und wachsen?
Bruderliebe fußt, wenn man es gedanklich betrachtet, auf der Bereitschaft, ein reifer Christ zu werden. Sie ist nicht der Startpunkt. Das könnte man ja denken, aber es ist anders: Vieles kommt vorher.
Genauso wie man Gemeinde benutzen kann, um ein kleiner Tyrann zu werden, kann man auch den Status des „Ich werde hier dauernd betüttelt“ einnehmen. Das sind Leute, die ganz genau ihre Rechte kennen, aber wenn es um Pflichten geht, eher vergesslich sind. Menschen, die für die Gemeinschaft immer anstrengend sind und immer sagen: „Das kann ich nicht, da bin ich nicht so begabt.“
Oder die schnell kommen und sagen: „Ich habe auch mal negative Erfahrungen mit Christen gemacht, und deswegen ist so tiefe Gemeinschaft für mich nichts.“ Wenn man eine Weile, vielleicht ein paar Jahrzehnte, in Gemeinde unterwegs ist, trifft man auf interessante Leute. Zum Beispiel den Typ Meckerer, der aber noch nie das Klo geputzt hat. Definitiv nicht der Typ, der interessiert ist, deine Lasten zu tragen – es sei denn, er hat selbst Lasten, die getragen werden müssen.
Das ist der Typ, der sagt: „Du kannst gerne mein Mülleimer sein, ich entsorge gerne meine Probleme bei dir, aber bitte hoffe nicht darauf, dass ich beim nächsten Umzug anpacke.“ Tu das einfach nicht. Und auf den Rat, den du ihm geben möchtest, hört er auch nicht.
Das ist das, was ich mit Stillstand meine. Vielleicht hätte man es brutaler formulieren können, aber ich wollte nicht zu grausam sein.
Was steht Bruderliebe entgegen? Einmal dieses „Ich, meine, mir, mich“ – wenn mein Ego in den Vordergrund tritt, dann geht Bruderliebe ganz schnell kaputt. Auf der anderen Seite ist es vielleicht nur eine andere Form von Ich: Ich benutze Gemeinde, wenn ich mich gar nicht auf diese Beziehung einlassen will und immer auf Distanz bleibe.
Beides ist für mich eine Form von Ego-Individualismus, wenn sich alles um mich dreht. Es kann der Typ sein, der sagt: „Ich muss mich entfalten, ich möchte die Richtung vorgeben.“ Oder der, der immer schwach und hilflos ist und sagt: „Ich kann das nicht.“
Für mich sind das inzwischen zwei Diktaturen: Es gibt die Diktatur der Starken und die Diktatur der Schwachen. Ich bin gegen beides, weil beides nichts mit Bruderliebe zu tun hat. Beides kann zum Problem werden, und bei beiden bleibt die Idee der Bruderliebe immer auf der Strecke.
Vor allem aber bleibt das auf der Strecke, was im Zentrum der Bruderliebe steht: dass Geschwister in meinem Denken einen besonderen Platz einnehmen sollen – die anderen, nicht ich. Weder in meiner Schwäche noch in meiner Stärke.
In Galater 6,10 heißt es: „Lasst uns also nun, wie wir Gelegenheit haben, allen gegenüber das Gute wirken, am meisten aber gegenüber den Hausgenossen des Glaubens.“ Wir sollen allen gegenüber Gutes wirken, aber am meisten sollen wir einen besonderen Blick auf die Geschwister haben. Die Bedürfnisse der Geschwister sollen uns besonders wichtig sein.
Dafür habe ich von Gott eine besondere Verantwortung bekommen: Gutes zu tun.
Wenn ich das so sage, denke ich sofort: Stopp! Ich muss auch betonen, dass das, was ich gerade gesagt habe, wichtig ist, aber wir dürfen dabei nicht übertreiben.
Auf der einen Seite steht die Bruderliebe: Ich nehme mich zurück, ich investiere mich in die Gemeinschaft. Nicht mein Ego, sondern die Bedürfnisse der anderen rücken in mein Blickfeld. Doch während ich das sage, dürfen wir nicht übertreiben. Es gibt ein Zuviel an Bruderliebe. Es gibt das Denken, dass ich für alle Nöte verantwortlich bin – ein völlig übertriebenes Verantwortungsgefühl. Man nennt das auch Helfer-Syndrom. Bis dahin, dass ich mich in Dinge einmische, die mich eigentlich nichts angehen.
Das ist dann der Moment, wo ich es vielleicht nicht mehr ertrage, dass jemand sein Leben eigenverantwortlich in den Sand setzt. Aber das darf er. Und der Herr Jesus zeigt uns, wie das geht. Ein Beispiel: Ein junger reicher Mann kommt zu ihm und fragt nach dem ewigen Leben. Dann stellt sich heraus, dass er nicht bereit ist, seine Liebe zum Geld gegen eine Liebe zur Nachfolge einzutauschen. Eine ganz dramatische Situation, und er geht dann wieder weg.
Das heißt explizit, dass der Herr Jesus ihn liebgewann. Zwischen Jesus und diesem jungen Mann entsteht eine emotionale Bindung. Trotzdem geht der Mann entsetzt weg. Er ist erschrocken über das, was Jesus sagt, aber Jesus läuft ihm nicht nach. Jesus lässt ihn gehen.
Mir persönlich fällt das unglaublich schwer. Ich bin eine eher analytische Persönlichkeit, glaube ich jedenfalls. Für mich sind Menschen Probleme, die es zu lösen gilt. Das ist keine wirklich gute Sicht auf Menschen, aber ich bin so, und ich habe mich irgendwie daran gewöhnt. Ich bin so, weil mir die intuitive Nähe zu Menschen und der normale Umgang eher schwerfällt. Deshalb analysiere ich.
Das führt dazu, dass ich sehr leide, wenn ich Christen sündigen sehe. Einfach deshalb, weil ich weiß, wie dumm Sünde ist. Ich weiß, dass Sünde sich nie auszahlt. Schon eine kleine Abweichung – wenn ich heute ein bisschen weniger zur Gemeinde gehe, weniger zur Bibel, weniger zum Gebet, weniger zum Dienst, ein bisschen mit irgendeiner Sünde spiele – ich weiß einfach: Dieses bisschen Abweichung, weil ich es so oft gesehen habe, wird auf Monate und Jahre hinaus zu einer richtigen Katastrophe führen.
Dieses Wissen, zusammen mit meinem analytischen Denken, macht mich irgendwie total irre. Auch weil ich selbst in meinem Leben das Gegenteil erlebt habe. Wenn man entschlossen mit Gott lebt, führt das zu einem Leben, bei dem man sagt: Hey, das ist schön, das ist gut, das ist gesegnet. Das ist befriedigend.
Deshalb, wenn ich Geschwister erlebe, die ich „die Lust aufs Unglücklichsein“ nenne, dann bereitet mir das körperlichen Schmerz. Ich weiß wirklich: Wenn ich sehe, wie Geschwister mit Sünde spielen oder nur halbherzig Gemeinde besuchen, wenig dienen, dann würde ich am liebsten unter die Decke kriechen. Ich muss dann richtig aufpassen, dass ich nicht aufhöre zu beten und irgendwie irre werde.
Keine Sorge, ich werde weiter beten. Einfach deshalb, weil es die Bruderliebe ist, die mich an den Punkt bringt, weiter für sie zu beten. Aber das muss ich mir auch sagen: Ich habe tatsächlich nicht die Verantwortung für die anderen. Es ist ihr Leben, um es aus meiner Perspektive zu sagen. Ihr könnt das mit euren Gnadengaben aus eurer Perspektive anders beschreiben.
Ich habe eine Pflicht als Lehrer, zu predigen und meinen Beitrag mit guten Predigten zum Heiligungsleben der Geschwister zu leisten. Ich habe kein Recht, über ihren Glauben zu herrschen, und ich darf das auch nicht erwarten. Es gibt einen Punkt, an dem ich loslassen muss. Ich muss sagen: Ich habe es gepredigt, jetzt muss der andere das, was ich gesagt habe, selbst umsetzen. Oder um es ganz deutlich zu sagen: Jeder hat das Recht, sein Leben zu verpfuschen. Ich kann ihm dieses Recht nicht abnehmen.
Ich merke, dass sich in mir etwas wünscht, dem anderen quasi das Glück vorzuhalten – so nach dem Motto: Du musst jetzt aber! Aber das geht nicht. Das ist ganz wichtig, dass wir das verstehen. Es bricht mir fast das Herz, wenn ich Leute erlebe, deren geistliches Leben den Bach runtergeht. Aber ich muss mir trotzdem sagen: Es geht nicht. Es ist nicht mein Job.
Wo keine Hilfe gewollt wird oder ich vielleicht der Falsche zum Helfen bin, da endet Bruderliebe. Einen Spruch, den ich glaube ich öfter sage als fast jeden anderen Bibelvers – obwohl er nicht in der Bibel steht – ist: Was nicht geht, geht nicht. Er ist ganz nüchtern: Was nicht geht, geht nicht. Wenn jemand nicht will, dann will er nicht.
Deshalb möchte ich ganz klar sagen: Wir haben die Verpflichtung, die Geschwister in den Blick zu nehmen, sie wirklich zu lieben, sie nicht mit unserem Ego zu erdrücken und sie auch nicht mit unserem Ego auszunutzen. Aber es gibt auch eine Grenze, an der Bruderliebe dem anderen sagt: Es ist dein Leben, ich lasse dich ziehen. So wie der Herr Jesus den reichen Jüngling ziehen ließ.
Aber wenn wir uns auf Bruderliebe einlassen, wenn wir sagen: „Hey, ich möchte das lernen. Ich möchte ein dienendes, liebendes Herz gewinnen und in Selbstlosigkeit mit den Geschwistern umgehen.“ Dann fangen wir damit an, Geschwister zu lieben.
Flapsig gesagt: Es ist immer gut, das zu lieben, was der Herr Jesus liebt. Gemeinde zu lieben ist immer gut. Ich möchte das lernen und diesen Blick auf die Geschwister haben, wie der Herr Jesus ihn hat. Ich möchte mich daran freuen, dass er mich liebt, und diese Liebe dann an andere Geschwister weitergeben.
Wenn ich diese Liebe habe, kann ich aus diesem Potenzial heraus, aus der Liebe, die ich gelernt habe, tatsächlich über die Gemeinde hinausblicken. Die Gemeinde ist der Inkubator, hier lernst du lieben. Das sind die Leute, die Gott dir als Trainingspartner an die Seite gestellt hat.
Wenn du dich manchmal fragst, warum so schräge Vögel in der Gemeinde sind, dann hat das damit zu tun, dass wir an ihnen besser Liebe lernen. Das ist ganz einfach. Wenn wir das dann gelernt haben, dürfen wir das, was wir an Liebe gelernt haben – das ist eine Kompetenz, eine Fähigkeit – über die Gemeinde hinaus in die Welt tragen.
Wisst ihr, Gottes Liebe gilt einer Welt, die verloren geht, die stirbt. Er liebt diese Welt und die Menschen in ihr aus ganzem Herzen, weil er ihnen wünscht, dass sie gerettet werden.
Gott ist ein Gott, der die Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte. Er ist langmütig, langsam zum Zorn und wartet mit seinem Gericht, bis sich mit seinen Worten auch der Letzte von denen bekehrt hat, die sich bekehren wollen. Gott kann an dieser Stelle warten, und er ist unser Vorbild.
Wisst ihr, Gott zwingt niemanden, aber er schließt auch niemanden aus.
In Johannes 3,16 heißt es: Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Das ist die Perspektive Gottes: Gott liebt diese Welt.
Und weil Gott diese Welt liebt und uns dazu berufen hat, einander zu lieben und Liebe in der Gemeinde zu lernen, dürfen wir jetzt als Botschafter und Botschafterinnen dieser Liebe hinausgehen in die Welt und sagen: „Hey, Gott hat dich lieb! Wie wäre es, wenn du das annimmst? Da gibt es jemanden, der es wirklich gut mit dir meint.“
Mich begeistert besonders die frühe Kirche. Ich merke, wie mich die ersten Jahrhunderte stärker faszinieren als fast alle anderen Zeiten der Kirchengeschichte. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die frühe Kirche diese Welt ganz praktisch durch Liebe missioniert hat. Praktische Liebe war die Missionsstrategie der jungen Kirche.
Es ist wirklich schön zu sehen: Die jungen Christen der frühen Kirche erkennen Unrecht und handeln dagegen. Sie kümmern sich um arme Witwen, führen Listen bedürftiger Personen, gründen die ersten Waisenhäuser und Heime für Geisteskranke. Sie erfinden Krankenhäuser, unterhalten Armenhäuser und gründen Blindenheime. Sie sind es, die hinausgehen und schauen, wo Kinder ausgesetzt wurden. Das war damals in der Antike gang und gäbe. Kinder wurden einfach liegen gelassen, oft von Hunden gefressen. Die Christen aber nahmen diese Kinder auf und kümmerten sich liebevoll um sie – das ist großartig.
Auch im Bildungswesen sind Christen maßgeblich beteiligt. Sie haben Meilensteine gesetzt, egal ob bei Schulen, Universitäten oder Kindergärten. Überall haben Christen ihre Hände im Spiel.
Warum praktische Liebe? Weil ich selbst geliebt bin, lerne ich zu lieben. Vielleicht braucht man gerade dann etwas Zeit, wenn man das nicht von zu Hause gewohnt ist. Aber sobald man es kann, geht man hinaus und zeigt allen, wie sehr Gott sie liebt – ganz praktisch.
Vieles, was heute selbstverständlich ist und als normal in unserer Gesellschaft gilt, ist eigentlich alles andere als selbstverständlich. Es ist christlich geprägt. Christen und nicht Heiden haben Europa Gleichheit gelehrt, Barmherzigkeit, Naturwissenschaften und Nächstenliebe. Christen haben ihre Liebe gelebt und deshalb für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft – oder besser gesagt, gegen die Sklaverei.
Es waren Christen, die kämpften, weil ihnen Menschen nicht egal waren. Praktische Liebe war ihr Gottesdienst. So heißt es im Jakobusbrief: Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott, dem Vater, ist es, Waisen und Witwen in ihrer Drangsal zu besuchen.
Merkt ihr das? Wenn wir an Gottesdienst denken, denken wir oft an ein Gebäude, an das Singen von Liedern und an eine Predigt. Doch Gott hat eine andere Vorstellung von Gottesdienst. Gottesdienst ist nicht das, was am Sonntagvormittag stattfindet. Das kann man zwar auch mit hineinnehmen, aber eigentlich interessiert Gott, wie dein Gottesdienst am Montag, Dienstag und Mittwoch aussieht.
Gottesdienst ist ein Dienst für Gott an denen, die seine Liebe durch mich erfahren. Das ist eigentlich Gottesdienst: Waisen und Witwen in ihrer Drangsal zu besuchen. Darum geht es.
Und wo zeigt sich dieser Gottesdienst? Noch einmal: Nicht als Programm! Bitte fügt nicht einfach einen Termin in euren Kalender ein, um Waisen und Witwen zu besuchen, damit ihr „gute Christen“ seid. Das ist nicht das, was ich predigen möchte.
Ich möchte zunächst predigen, dass wir Liebe lernen müssen. Es muss eine Herzenshaltung sein. Wenn das keine Herzenshaltung ist, wenn die Liebe Gottes nicht in meinem Herzen ist, dann hilft es nicht, das programmatisch in mein Leben einzufügen.
Dann muss ich vor Gott zerbrechen und sagen: Vater im Himmel, ich habe ein Problem, ein ganz großes Problem. Irgendetwas ist da in mir, aber du bist es nicht.
Doch dort, wo diese Herzenshaltung entsteht, wo Menschen mir wichtig werden, weil sie Gott wichtig sind, dort wirkt Gottes Geist in mir. Dort, wo ich erkenne, wie viel Liebe Gott zu mir hat, wirkt Gottes Geist den Wunsch, so zu leben, wie Gott es vorgemacht hat.
Das ist alles. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm. Wenn ich verstanden habe, dass Gott Liebe ist und mich liebt, dann wirkt Gott in mir diese Liebe für andere Menschen.
Damit sind wir am Ende unseres Zyklus angekommen und sehen, worauf alles hinausläuft: Gott ist Liebe. Wenn er mit uns fertig ist – und ja, das wird in diesem Leben nicht vollständig passieren, aber wenn wir weiterkommen – dann sind wir das auch.
Ich sage es noch einmal: Gott ist Liebe. Und wenn er in diesem Zyklus mit uns fertig ist, dann sind wir das auch.
Und deswegen möchte ich euch zum Schluss noch eine Geschichte erzählen. Ob sie wahr ist, weiß ich nicht, aber das ist auch nicht so wichtig, denn sie könnte wahr sein und sie ist schön.
Man vermutet, dass der Apostel Johannes am Ende seines Lebens sich in Ephesus niederließ. Wahrscheinlich verbrachte er dort seinen Lebensabend bei den dortigen Christen. Inzwischen war er sehr alt geworden. Das heißt, es war schon eine ganz neue Generation von Christen, die in Ephesus zum Glauben kamen. Johannes war der letzte noch Lebende aus dem Zwölferkreis.
Man kann sich vorstellen, wenn man so jemanden hat – einen alten Mann, der Jesus noch erlebt hat – und dieser Mann Bibelstunden gibt, dann geht man einfach hin. Man möchte das noch erleben. So war es auch. Seine Lehreinheiten waren rege besucht.
Hieronymus, einer der Kirchenväter, überliefert uns etwas von den Erinnerungen der frühen Kirche. Er sagt, Johannes wurde von seinen Begleitern in die Gemeinde getragen, weil er schon zu gebrechlich war, um noch selbst laufen zu können. Die Menschen versammelten sich um ihn, einfach um zu hören, was dieser betagte Apostel zu sagen hatte.
Über die Jahre ließ seine Kraft immer weiter nach, und Johannes konnte kaum noch sprechen. Ganz am Ende berichtet Hieronymus, dass er gewöhnlich nichts anderes mehr sagte als: „Kindlein, liebt einander.“
Könnt ihr euch das vorstellen? Da kommt ein alter, gebrechlicher Mann, der vielleicht gerade noch atmen kann und gerade noch einen Satz oder zwei sagen kann. Er kommt in die Gemeinde, und du weißt: Das ist einer von den Letzten. Er ist der Letzte aus dem Zwölferkreis. Er hat Jesus noch gesehen. Und dann fragst du ihn: Was ist wirklich wichtig? Und er sagt: „Kindlein, liebt einander.“
Er sagt das nicht nur einmal, sondern immer, wenn du auf ihn triffst, wenn er in die Gemeinde kommt, ist das sein Satz. Die Geschichte geht weiter: Die Zuhörer wurden mit der Zeit müde, diesen alten Mann ständig dasselbe sagen zu hören. Dann fragten sie ihn: „Lehrer, warum sagst du das andauernd?“
Laut Hieronymus antwortete der greise Apostel: „Weil es das Gebot des Herrn ist, und wenn einzig und allein dies gehalten wird, dann genügt es.“
In diesem Sinne lasst uns das mitnehmen: Kindlein, liebt einander – Bruderliebe! Und lasst uns aus der Bruderliebe, wenn wir sie gelernt haben, Liebe in diese Welt strahlen, sodass andere Menschen durch praktische Liebe aufmerksam werden auf uns und Interesse bekommen an einem Gott, der sie liebt. Amen!
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